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Für einen langen Moment wurde es mucksmäuschenstill im Großen Protokollsaal des Reichstagsgebäudes. Dabei hatte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert doch nur eine Nachfrage gestellt. Ob es eine Situation gebe, wollte er wissen, in der sich Muslime auf den Koran berufen könnten, um andere Menschen zu töten?
Prof. Dr. Ahmad Mohammad al-Tayyeb, Großimam der al-Azhar-Universität im ägyptischen Kairo, antwortete in die mit Spannung erfüllte Stille, indem er seine zuvor dargelegte Interpretationen des Korans wiederholte: Der Islam sei eine grundsätzlich friedliche Religion, die Gewalt allenfalls zur Selbstverteidigung rechtfertige. Ein Glaube „des Schwertes und des Krieges“ sei der Islam keineswegs.
Der Koran lehre die „absolute Glaubensfreiheit“ und rufe nicht zum Krieg gegen Andersgläubige auf. Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit seien die Prinzipien seiner Religion. Diese Prinzipien hätten die selbsternannten „Gotteskrieger“ des „Islamischen Staates“ verraten.
Der Großimam, die höchste Autorität im sunnitischen Islam, war auf Einladung der Universität Münster nach Deutschland gekommen, um an einer wissenschaftlichen Konferenz teilzunehmen. Seine konservative al-Azhar-Universität betreut drei Millionen Schüler und 350.000 Studenten. Sie bildet Imame für die islamische Welt aus, die das Bild der Religion in mehr als 50 Staaten maßgeblich prägen.
Anlässlich seines Besuchs in Deutschland hatte der ägyptische Gelehrte darum gebeten, mit Bundestagsabgeordneten über seine Religion sprechen zu können. Er sei dieser Bitte gern nachgekommen, auch weil seine muslimischen Kolleginnen und Kollegen im Parlament ihn dazu ermuntert hätten, sagte Lammert in seiner Begrüßung am Dienstag, 15. März 2016.
Ganz bewusst sollte das Publikum, neben Bundestagsabgeordneten auch Vertreter der Bundesregierung und des ägyptischen Staates sowie zahlreicher Religionsgemeinschaften, an diesem Abend aber auch Gelegenheit erhalten, mit dem Großimam zu diskutieren. Und davon wurde reger Gebrauch gemacht, durchaus kritisch, etwa was die Rolle der Frau im Islam oder die Toleranz gegenüber anderen Religionen angeht.
Aus den Reaktionen im Plenum wurde deutlich, dass manch einer im Saal eine gewisse Diskrepanz zwischen den Interpretationen des Großimams und der eigenen Wahrnehmung zu erkennen glaubte.
Eingangs des Abends hatte Bundestagspräsident Lammert betont, Politik und Religion seien die beiden wesentlichen Faktoren zur Gestaltung einer jeden Gesellschaftskultur. Am Ende des Abends schloss er mit der Feststellung, die Debatte habe gezeigt, ein Dialog zwischen Religionen und Kulturen „ist nötig und möglich“. Bei aller Unterschiedlichkeit der Weltbilder: Dem mochte niemand im Saal widersprechen. (jbi/16.03.2016)