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„Nachdem Sie sich nun ein knappes Jahr um diesen Entwurf gestritten haben, ist er um keinen Deut besser geworden als zu Beginn.“ Katja Keul stützt entschlossen die Hände am Rednerpult auf. Gerade debattiert der Bundestag in erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Sexualstrafrechts, und die rechtspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen spart nicht mit Kritik: Wortgewandt und präzise zerpflückt sie Punkt für Punkt die Vorlage.
Das „hehre Ziel“, nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen – so wie es auch das von Deutschland unterzeichnete Übereinkommen des Europarats über die „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, die sogenannte Istanbul-Konvention, vorsieht – , sei „komplett verfehlt“ worden, moniert die Juristin. Dazu hätte die Koalition den Kerntatbestand des sexuellen Missbrauchs in Paragraf 177 Strafgesetzbuch „von Grund auf“ neu fassen müssen. „Aber daran trauen Sie sich nicht heran und verschlimmbessern stattdessen Paragraf 179“, hält sie Justizminister Heiko Maas (SPD) vor. „Es ist die Fehlerkorrektur der Fehlerkorrektur einer fehlerhaften Grundannahme.“
Immer noch stelle der Regierungsentwurf auf die Frage ab, ob und warum das Opfer keinen Widerstand geleistet habe. Stattdessen müsse ein „Nein“ des Opfers zur Begründung eines Sexualdelikts ausreichen, fordert die 46-Jährige. Der Gesetzentwurf der Grünen, den sie formuliert habe, beruhe auf diesem Prinzip – im Gegensatz zu dem der Regierung. Keuls Urteil fällt deshalb dementsprechend ungnädig aus: „Der Regierungsentwurf ist absolut ungeeignet, um die Istanbul-Konvention umzusetzen“, schließt sie ihre Rede. Es klingt wie: „Setzen! Sechs!“
Nach der Debatte in ihrem Büro wirkt die gebürtige Berlinerin, die seit 2009 im Bundestag den niedersächsischen Wahlkreis Nienburg/Schaumburg vertritt, optimistischer. „Jetzt kommt Dynamik in die Sache“, sagt sie aufgekratzt und trinkt einen Schluck Kaffee. „Von rechts bis links haben alle Redner kritisiert, dass das, was der Justizminister vorgelegt hat, nicht reicht.“
In dieser Deutlichkeit und Einmütigkeit habe sie es noch nicht so oft erlebt, dass ein Regierungsentwurf in „die Tonne“ getreten werde. „Es könnte sein, dass die Lösung meinem Entwurf am Ende näher ist, als dem der Regierung.“ Keul lächelt. Oppositionsarbeit in Zeiten einer Großen Koalition ist kein leichtes Geschäft. Umso mehr freut es sie, wenn es gelingt, die Regierung in die gewünschte Richtung zu treiben.
Keul, die eine der drei Parlamentarischen Geschäftsführinnen ihrer Fraktion ist, hat damit inzwischen Erfahrung: 2011 klagte sie mit ihren Kollegen Hans-Christian Ströbele und Claudia Roth vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Geheimhaltung von Rüstungsexporten.
Zwar scheiterte das Trio mit seinem grundsätzlichen Anliegen, als Opposition nicht immer nur im Nachhinein über bereits genehmigte Rüstungslieferungen ins Ausland informiert zu werden. Doch als glatte Niederlage empfindet Keul das Urteil der Karlsruher Richter aus dem Jahr 2014 trotzdem nicht: „Daran, dass die SPD seitdem einige unserer Forderungen aufgegriffen hat, kann man ablesen, dass unsere Arbeit Spuren hinterlässt“, sagt sie selbstbewusst und verweist unter anderem auf die inzwischen halbjährlich veröffentlichten Rüstungsexportberichte der Bundesregierung.
Ob Entscheidungen über Rüstungsexporte oder Auslandseinsätze der Bundeswehr, bei denen die Grüne zuletzt vehement auf den Parlamentsvorbehalt pochte – gerade solche Fragen im Zusammenhang von Krieg und Frieden sind es, die Keul schon als Teenager politisierten. Das Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1985 in Genf, bei dem der US-amerikanische und der sowjetische Staatschef erstmals unter anderem über nukleare Abrüstung verhandelten, habe sie damals sehr bewegt.
Als Tochter eines Lehrers und einer Krankenpflegerin sammelte Keul schon früh Auslandserfahrungen: Nach Kindergarten und Vorschule in Algerien besuchte sie in den Achtzigerjahren unter anderem die Deutsche Schule in Genf, an der ihr Vater unterrichtete. Die Vereinten Nationen (UN) hatten ihren Sitz in der Nachbarschaft. Noch sehr gut erinnert sie sich deshalb an die Debatte im Vorfeld der Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zur UN 1986, den die Mehrheit der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt jedoch ablehnte. Erst 2002 wurde die Schweiz schließlich Mitglied. „Das war meine erste Begegnung mit dem Völkerrecht“, erinnert sich Keul.
Das Völkerrecht beschäftigt die Abgeordnete, die zu den Parteilinken gehört, bis heute immer wieder: Insbesondere, wenn es um umstrittene Einsätze der Bundeswehr geht, wie etwa in Syrien. Als der Bundestag im Dezember 2015 für die Beteiligung deutscher Streitkräfte am internationalen Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ votierte, stimmte Keul – wie die meisten in ihrer Fraktion – dagegen. Der Einsatz sei aufgrund des fehlenden UN-Mandats verfassungs- und völkerrechtswidrig, kritisierte sie damals in der „tageszeitung“.
Eine vergleichbare Entscheidung vor knapp 16 Jahren brachte die Grüne sogar dazu, ihr Parteibuch zurückzugeben. Dass deutsche Soldaten 1999 im Balkankonflikt – ausgerechnet unter einen rot-grünen Bundesregierung – zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv an Kampfhandlungen gegen Serbien teilnahmen, und das sogar ohne UN-Mandat, habe sie nicht mittragen können, sagt sie. „Als einfaches Parteimitglied hatte ich keine andere Möglichkeit, als so meinen Protest deutlich zu machen“, so Keul. Ich bin doch gerade wegen der Friedenspolitik und dem Wunsch, das Völkerrecht zu stärken, 1996 bei den Grünen Mitglied geworden.“ Bis heute ist für sie ein „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ die „rote Linie“, die nicht überschritten werden dürfe.
2006 jedoch kehrte Keul, inzwischen Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei für Familienrecht in Marklohe und Mutter von drei Kindern, zu den Grünen zurück. Die Quereinsteigerin profilierte sich rasch: 2008 wurde sie Sprecherin des Kreisvorstands in Nienburg, 2009 kandidierte sie erstmals erfolgreich für den Bundestag. „Am Morgen nach der Wahl habe ich meine Akten zu einer Kollegin gefahren, mein Schild abgehängt und los ging es“, erinnert sich Keul an den Wechsel von der Anwaltskanzlei ins Parlament.
Eine gehörige Umstellung. Anträge oder Gesetzentwürfe schreiben – als Juristin kein Problem. „Doch anfangs fand ich die Verfahren im Bundestag chaotisch“, gesteht sie. „Als Anwältin hat man beispielsweise innerhalb einer Frist von 14 Tagen zu einem Schriftsatz Stellung zu nehmen. Hier bekommt man über Nacht 100 Seiten als Tischvorlage.“ Aber der Bundestag sei eben „kein Amtsgericht, sondern eine Volksvertretung“.
An die Doppelbelastung als Fachpolitikerin und Parlamentarische Geschäftsführerin ist Keul nach fast zwei Wahlperioden gewöhnt. Freizeit ist rar, und daher bei ihr vor allem für die Familie reserviert.
Hobbies – wie die Frauenrockband „Sometimes Seven“, in der sie zehn Jahre lang E-Piano spielte und sang – müssen also zurückstehen. „Man zahlt schon einen hohen Preis“, sagt Keul nachdenklich. „Aber es ist auch ein unheimlich spannender Job.“ (sas/27.06.2016)