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Die Ostseeregion ist eines der wachstumsintensivsten und besonders eng vernetzten Gebiete Europas. Dieses Potenzial gelte es zu nutzen – insbesondere durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung und Arbeit, betont Franz Thönnes (SPD) im Interview. Gerade angesichts der vielerorts hohen Jugendarbeitslosigkeit sei es notwendig, gemeinsame Lösungsansätze zu erarbeiten, so der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Dies ist auch eines der Ziele der Ostseeparlamentarierkonferenz, zu der ab Sonntag, 28. August 2016, Delegierte nationaler und regionaler Parlamente aus den Ostsee-Anrainerstaaten zusammenkommen. Thönnes leitet die Bundestagsdelegation. Die dreitägige Konferenz findet in diesem Jahr in Riga statt. Sie ist das parlamentarische Pendant zum Ostseerat, dem Organ der Regierungen. Das Interview im Wortlaut:
Herr Thönnes, die Konferenz steht in diesem Jahr unter dem Titel „Gute Bildung und Arbeit – die Zukunft der Ostseeregion“ – warum der Fokus auf dieses Thema?
Die Ostseeregion mit ihren rund 100 Millionen Menschen gehört zu den wachstumsintensivsten und besonders eng vernetzten Gebieten Europas. Wirtschaft und Wissenschaft sind hier zunehmend grenzüberschreitend miteinander verflochten. Es gibt auch so gut wie keine national isolierten Arbeitsmärkte. Das erklärt, warum die Zahl der Grenzpendler im Norden stetig zunimmt und derzeit bei über 200.000 Beschäftigten liegt. Gerade deshalb ist die auf die jeweilige Nachfrage angepasste Ausbildung der Arbeitskräfte für die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region von zentraler Bedeutung. Dies gilt umso mehr angesichts der demografischen Entwicklung. Ziel ist, den relativ hohen Lebensstandard sowie die internationale Wettbewerbsfähigkeit mit einer möglichst hohen Beschäftigungsquote zu sichern.
Die Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ostseeanrainerstaaten relativ hoch. Wie kann die Konferenz dazu beitragen, die Situation zu verbessern?
Die Ostseeparlamentarierkonferenz 2012 war eines der ersten internationalen Abgeordnetenforen, das angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Europa eine Jugendgarantie gefordert hat. Unser Anliegen war, mithilfe staatlicher Unterstützung längere Zeiten von Arbeitslosigkeit beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt zu vermeiden. Diese Forderung blieb nicht ungehört. Heute stehen seitens der EU circa sechs Millionen Euro für Förderprojekte zu diesem Zweck zur Verfügung – darunter für Ausbildungsprojekte, die dazu beitragen, die länderübergreifende Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen. Hervorheben möchte ich aber auch das Baltic Sea Labour Forum, das aus der Arbeit der Ostseeparlamentarierkonferenz hervorgegangenen ist und in dem heute rund 30 Arbeitgeber- und Gewerkschaftsorganisationen zusammenarbeiten - unter anderem mit dem Ziel, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Gibt es darüber hinaus ein spezielles Anliegen, das Sie und die Bundestagsdelegation auf die Agenda bringen wollen?
Ja, wir werden in Riga nochmals die gemeinsame Verantwortung für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von Flüchtlingen betonen. Dazu gehört insbesondere auch die Integration in Ausbildung und Arbeit. Angesichts der neuen Spannungen zwischen dem Westen und Russland wollen wir uns außerdem dafür einsetzen, dass die militärischen Aktivitäten in der Ostseeregion nicht zu einem neuen Sicherheitsrisiko im Norden Europas werden. Hierzu sind Transparenz, der Verzicht auf militärische Provokationen und die Bereitschaft zum Dialog erforderlich.
In diesem Jahr jährt sich die Gründung der Ostseeparlamentarierkonferenz zum 25. Mal. Wie hat sich seither die Kooperation zwischen den Anrainerstaaten der Ostsee entwickelt?
Die erste Zusammenkunft der Ostsee-Abgeordneten im Januar 1991 auf Einladung Finnlands bot nach dem Fall des Eisernen Vorhanges eine hervorragende Möglichkeit zum Austausch mit Volksvertretern aus unterschiedlichen politischen Systemen. Gemeinsame Interessen wurden dabei erörtert, erste Verabredungen getroffen und letztendlich konnte die Ostseeparlamentarierkonferenz zur demokratischen Stabilität in der ganzen Ostseeregion beitragen. Waren vor 25 Jahren nur fünf Prozent der Ostseeküste EU-Gebiet, sind es heute nahezu 95 Prozent. Das Mare Balticum ist zu einem EU-Binnenmeer geworden. Die Zusammenarbeit von EU-Mitgliedstaaten und EU-Nichtmitgliedern wie Island, Norwegen und Russland funktioniert im Rahmen von Gremien wie der Ostseeparlamentarierkonferenz und des Ostseerates auf Augenhöhe und ist in dieser Form beispielhaft. In den vergangenen 25 Jahren ist vielfältiges Netz von strukturellen und regionalen Formen der Zusammenarbeit gewachsen.
Wie zum Beispiel?
Dazu gehören etwa die Helsinki-Kommission zum Schutz der Ostsee, die Baltic Sea Regional Energy Cooperation, die Politik der „Nördlichen Dimension“ oder das Kulturnetzwerk „Ars Baltica“ um nur vier von vielen Beispielen zu nennen. Auch über die EU-Ostseestrategie sind seit 2009 unterschiedliche Kooperationen zwischen den Ostsee-Anrainerstaaten, zwischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Verwaltungen, Unternehmen und Gewerkschaften entstanden.
Haben sich über die Jahre auch die Themen der Konferenz verändert?
Ja, ging es zunächst vorrangig um die demokratische Stabilisierung der Region und die Verbesserung der kritischen Umweltsituation der Ostsee, kamen mit der Zeit immer mehr Themen dazu, mit denen sich die Ostseeparlamentarierkonferenz befasst hat: Meerespolitik und maritime Wirtschaft etwa, Bildung, Minderheiten, Arbeit und Soziales, Kultur, Gesundheitspolitik und Tourismus.
Eines der Ziele der Ostseeparlamentarierkonferenz ist es, eine gemeinsame Identität in der Ostseeregion durch die Förderung von Kooperationen zu schaffen. Wie fällt diesbezüglich Ihre Bilanz aus: Gibt es heute eine spezifische „Ostsee- Identität“?
Eine gemeinsame Identität zu entwickeln ist gar nicht so einfach in einer Region mit mehr als neun Ethnien, neun Sprachen, acht Währungen, drei unterschiedlich praktizierten Formen des Christentums und verschiedenen politischen Kulturen. Und doch verbindet uns die Ostsee. Es finden sich rund um das Meer viele Gemeinsamkeiten – ob es nun ähnliche Ess- und Trinkkulturen sind, die Architektur der Backsteingotik, die Zeit der Hanse oder die verbreitete Tradition der Shanty-Chöre. Vielleicht ist aber auch die Vielfalt der Kooperationsstrukturen rund um die Ostsee ein ganz wesentliches Identitätsmerkmal, das wir in keiner anderen Region der Welt so wiederfinden.
Ob Schulden, Flüchtlinge oder Brexit: Die EU befindet sich in der Krise. In vielen EU-Mitgliedstaaten erstarkt der Nationalismus. Wirkt sich dies auch auf die Zusammenarbeit in der Ostseeparlamentarierkonferenz aus?
Bis jetzt erfreulicherweise nicht, denn der Nationalismus spaltet die Gesellschaften und gefährdet die Kooperation. Es gibt zwar schon seit vielen Jahren rechtspopulistische Parteien in einigen Ostseestaaten. Doch dies hat die Kooperation in der Region bisher nicht beeinträchtigt oder gar infrage gestellt. Die Vernünftigen rund um die Ostsee wissen sehr genau, dass man auf Zusammenarbeit angewiesen ist. Wir brauchen uns.
(sas/24.08.2016)