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Auf den ersten Blick wirkt die Tagesordnung des Bundestages wie eine simple Abfolge von Tagesordnungspunkten. Doch hinter dieser Agenda steckt eine komplexe Choreografie. Bevor der Bundestagspräsident eine Plenarsitzung offiziell eröffnen kann, wird hinter den Kulissen von Fraktionen und Bundestagsverwaltung mehrfach über den Ablauf diskutiert und verhandelt – bis die Tagesordnung steht. Festzulegen sind Themen, Reihenfolge, Länge der Redezeiten und auch, in welche Ausschüsse Gesetzentwürfe und Anträge zur weiteren Beratung überwiesen werden sollen. Das Ziel ist eine Gestaltung der Tagesordnung im Konsens. Doch das klappt nicht immer.
Es war eine Einigung nach langem Streit: Als das Bundeskabinett sich am 8. Juni 2016 auf den Entwurf für eine erneute Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) einigte, ging ein monatelanges Tauziehen zwischen Bund und Ländern sowie innerhalb der Bundesregierung zu Ende. Die Auseinandersetzung im Bundestag zwischen Koalition und Opposition jedoch hatte mit der Einbringung des Gesetzentwurfs gerade erst begonnen.
Kontrovers diskutiert wurden nicht nur die darin vorgesehenen neuen Regelungen, sondern auch, wann darüber im Plenum beraten und abgestimmt werden sollte. Unumstritten unter den vier Fraktionen des Bundestages war zunächst die erste Lesung, die am 24. Juni stattfand. Auch die Überweisung zur Beratung in den federführenden Wirtschaftsausschuss und die abschließende Debatte und Abstimmung im Plenum am 8. Juli wurden einvernehmlich vereinbart.
Doch als Union und SPD erst kurz vor Beginn der Ausschusssitzungen am Mittwoch, 6. Juli, einen umfangreichen Änderungsantrag vorlegten, beantragten Bündnis 90/Die Grünen, den Punkt von der Tagesordnung abzusetzen und zu verschieben. „412 Seiten Änderungsantrag in Synopsenform“ könnten mit einem so kurzen Vorlauf von rund 20 Minuten nicht gelesen werden, begründete Britta Haßelmann, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, zu Beginn der Plenarsitzung ihren Antrag. Dieser „Beratungsvorgang“ sei „vollkommen inakzeptabel für ein Parlament“.
Auch die Erste parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke, Dr. Petra Sitte, kritisierte das „überstürzte Verfahren“, während Michael Grosse-Brömer und Christine Lambrecht, die Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer von Union und SPD, das Verfahren verteidigten.
„Als Parlamentarierin“ sei sie damit zwar „nicht zufrieden“, räumte Lambrecht in der Aussprache ein. Doch es gebe manchmal „Situationen, in denen man ein solches Verfahren durchziehen muss“. Grosse-Brömer hielt den Grünen vor, als Teil der rot-grünen Koalition früher ähnlich kurzfristig Änderungsanträge zum EEG vorgelegt zu haben.
„Wir sind keine schlechteren Parlamentarier als Sie, und deshalb wird der Tagesordnungspunkt nicht abgesetzt, sondern sinnvollerweise heute debattiert“, schloss der CDU-Politiker seine Rede. Der Antrag der Grünen wurde dementsprechend mit der Mehrheit der Großen Koalition abgelehnt – und die EEG-Novelle konnte im Anschluss daran wie geplant debattiert und beschlossen werden.
Auch wenn ein Streit über die Tagesordnung immer wieder einmal in Form einer solchen Geschäftsordnungsdebatte und Abstimmung im Plenum entschieden wird – die Regel ist dies nicht.
„In letzter Zeit ist es zwar öfter passiert, dass insbesondere strittige Änderungen der Tagesordnung per Abstimmung im Plenum beschlossen wurden – aber auf die ganze Legislaturperiode hochgerechnet sind es höchstens zehn bis fünfzehn Fälle“, heißt es dazu in der Parlamentarischen Geschäftsführung der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Über den Ablauf und die Themen einer Sitzung werde grundsätzlich einvernehmlich zwischen den Koalitions- und Oppositionsfraktionen entschieden.
Dieses „Konsens-Prinzip“ geht auf Paragraf 20 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zurück. Dort heißt es: „Termin und Tagesordnung jeder Sitzung des Bundestages werden im Ältestenrat vereinbart, es sei denn, daß der Bundestag vorher darüber beschließt oder der Präsident sie nach § 21 Abs. 1 selbständig festsetzt.“
So beginnt in der Regel in der Sitzungswoche vor der nächsten Sitzungswoche hinter den Kulissen – in den Fraktionen, in der Bundestagsverwaltung sowie im Ältestenrat – die Arbeit an der Tagesordnung.
Der erste Schritt ist ein Meinungsbildungsprozess innerhalb der einzelnen Fraktionen: Welche Gesetzentwürfe, Anträge oder Initiativen sollen neu in den Bundestag eingebracht und erstmalig beraten oder in zweiter und dritter Lesung abgeschlossen und abgestimmt werden? Im Austausch mit den Büros der jeweiligen Fraktionsvorsitzenden, den Arbeitsgruppen beziehungsweise Arbeitskreisen – und im Fall der Koalitionsfraktionen auch mit der Bundesregierung – erarbeiten die Mitarbeiter der Parlamentarischen Geschäftsführung von CDU/CSU, SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen so zunächst eine Art Rangliste von Themen.
„Wir hören dann, mit welchen Sprechzeiten und mit welcher Gewichtung sie sich das vorstellen“, sagt ein Fraktionsmitarbeiter der Union. „Auf dieser Basis formulieren wir Vorschläge. Die Entscheidung treffen schließlich aber Fraktionsvorstand und Erste Parlamentarische Geschäftsführer“, ergänzt ein Mitarbeiter der Grünen-Fraktion.
Bevor dann die Leiter der Parlamentarischen Geschäftsführungen immer mittwochs zu einer gemeinsamen Runde zusammenkommen und miteinander die Tagesordnung verhandeln, die dann von den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern als Entwurf für den Ältestenrat vereinbart wird, stimmen sich zunächst noch CDU/CSU und SPD gesondert untereinander ab.
Grund dafür ist der Koalitionsvertrag: Darin haben die beiden Fraktionen schriftlich vereinbart, nur gemeinsam zu agieren. Sind sie sich einig, kann die eigentliche Zusammenstellung der Tagesordnung beginnen: Die Mitarbeiter der Parlamentarischen Geschäftsführungen aus allen vier Fraktionen beginnen nun, das „Gerüst“ der Tagesordnung mit Themen zu füllen.
Dafür gibt es bestimmte Regeln, auf die sich die Fraktionen zu Beginn der laufenden 18. Legislaturperiode geeinigt haben. So bestücken Koalition und Opposition im Prinzip alternierend die Agenda des Parlaments: Auf einen Tagesordnungspunkt, den CDU/CSU und SPD bestimmen, folgt ein Tagesordnungspunkt einer Oppositionsfraktion – etwa von der Linksfraktion – , dann kommt wieder ein Thema der Koalition, auf das schließlich ein Thema der anderen Oppositionsfraktion folgt – in diesem Fall Bündnis 90/Die Grünen – und so weiter.
„Wir befüllen das Gerüst der Tagesordnung im Reißverschlussverfahren“, erläutert ein Mitarbeiter der Parlamentarischen Geschäftsführung der Union. „Eine Ausnahme stellen allerdings die vier sogenannten Kernzeitdebatten dar, die donnerstags und freitags zu Beginn der Plenarsitzung stattfinden.“
Diese laufen sozusagen in „zur besten Sendezeit“ am Vormittag – und sind meist die wichtigsten und längsten Debatten des Tages. „Die erste Kernzeitdebatte des Sitzungstages ist immer für die Koalition reserviert“, so der Fraktionsmitarbeiter.
Die Themen der zweiten Kernzeitdebatten werden abwechselnd zwischen Koalitions- und Oppositionsfraktionen besetzt. Ähnlich wird auch bei dem dritten Tagesordnungspunkt der Sitzung verfahren, dem sogenannten „kernzeitnahen Thema“.
Dieses Ablaufschema erleichtere das Tagesgeschäft sehr, betont ein Mitarbeiter: „Dass sich die Fraktionen zu Beginn der Legislaturperiode zum Beispiel auf feste Debattenplätze verständigt haben, hat sich sehr bewährt – so müssen wir nicht jede Woche neu diskutieren, welche Fraktion wann in der Kernzeit ihr Thema setzen kann.“ Auch dass man untereinander feste Debattenlängen vereinbart habe, spare Zeit und vermeide ständige Diskussionen. „Wir haben ganz bewusst Formate wie 96, 77, 60, 38 und 25 Minuten miteinander verabredet. Das hat dazu geführt, dass wir nicht wie auf dem Basar um Redezeiten feilschen müssen.“
Gestritten werden sollte – da sind sich die Mitarbeiter von Koalitionsfraktionen und Oppositionsfraktionen einig – über politische Inhalte und nicht über Verfahrensfragen. „Oder zumindest nur, wenn es nötig ist“, räumt ein Mitarbeiter der Parlamentarischen Geschäftsführung von Bündnis 90/Die Grünen ein.
Trotzdem: Kontroversen über die Tagesordnung, die Themen, die Debattenstruktur und die Debattendauer gehören zum parlamentarischen Alltag, wie die Geschäftsordnungsdebatte über die aktuelle EEG-Reform zeigt. Gerade Veränderungen einer bereits beschlossenen Tagesordnung bieten immer wieder Anlass zu Diskussionen. Und solche Veränderungen sind alles andere als eine Ausnahme.
Gründe gibt es reichlich: So kommt es oft vor, dass eine Fraktion ein Thema aufgrund von weiterem Beratungsbedarf absetzen und ein anderes stattdessen auf die Tagesordnung bringen will. Auch dass insbesondere die Opposition eine sogenannte „Aktuelle Stunde“ beantragt, um damit aktuelle Ereignisse aufzugreifen, passiert sehr häufig. Für die Mitarbeiter der Parlamentarischen Geschäftsführung in den Fraktionen sind daher Veränderungen der Tagesordnung etwas völlig „Normales“. „Sie zeigen, dass der Bundestag auf Aktuelles reagiert“, sagt ein Mitarbeiter der Grünen-Fraktion. Und sein Kollege von der Union setzt hinzu: „Ich habe es faktisch noch nie erlebt, dass eine Tagesordnung nicht noch einmal umgebaut wurde.“ (sas/22.08.2016)