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Angesichts der stark angewachsenen rechtsextremistischen Gewalt in den neuen Ländern hat die Bundesregierung vor Schönfärberei gewarnt. In einer Debatte des Deutschen Bundestages zu dem von der Regierung eingebrachten „Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2016“ (18/9700) fragte die Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD) am Freitag, 30. September 2016: „Sollen wir so tun, als gebe es diesen Befund nicht?“ Auch Redner von Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen wiesen auf Zunahme rechter Gewalt hin, während aus der CDU vor einer „Stigmatisierung“ der neuen Länder gewarnt wurde.
Gleicke, die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ist, wies Kritik am angeblichen „Ost-Hass“ in dem Bericht zurück: „Ich betrachte es als meine Aufgabe, die Probleme, die der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse entgegenstehen, klar und deutlich zu benennen.“ Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten liege in jedem ostdeutschen Land deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder. In dem Bericht heißt es dazu, bezogen auf eine Million Einwohner habe es in Mecklenburg-Vorpommern 58,7 rechte Gewalttaten gegeben, in Brandenburg 51,9, Sachsen 49,6, Sachsen-Anhalt 42,6, Berlin 37,9 und Thüringen 33,9. Das sei wesentlich mehr als in Westdeutschland (10,5).
„Sollen wir darüber hinweggehen, in der Hoffnung, dass sich das irgendwann von selbst erledigt?“, fragte Gleicke, die auch sagte, „wir leben in einem Land, wo Flüchtlingsheime angezündet und Menschen über die Straße gejagt werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben“. Die SPD-Politikerin betonte, die ganz überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen sei nicht rechtsextrem, aber leider sei diese Mehrheit eine „zum Teil schweigende Mehrheit“.
Der Befund der Regierung zum Rechtsextremismus im Osten sei nicht neu und nicht überraschend, erklärte Susanna Karawanskij (Die Linke). Das Problem mit Rassismus und rechten Einstellungen sei seit Jahren nachgewiesen.
Die Regierung habe die Entwicklung entweder verschlafen oder nicht ernst genommen. Antirassistische Bildungsarbeit müsse Grundkonsens sein, in der Lehrerausbildung, beim Studium, im Kindergarten und in der Schule.
Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte, der Bericht „wird von der Realität eingeholt“. Sie verwies auf die Sprengstoffanschläge auf ein Gotteshaus und ein Kongresszentrum in Dresden, die wenige Tage vor der Einheitsfeier stattgefunden hätten.
Die Feier hätte ein „Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit in Bautzen, Freital und Heidenau“ werden sollen. Die Ausschreitungen dort seien „ein Angriff auf unsere Freiheit und unsere Demokratie“ gewesen. Jetzt würden Sprengstoffanschläge das Bild des Jahrestages bestimmen. „Das ist nicht die deutsche Einheit, wie ich mir sie vorstelle“, beklagte Göring-Eckardt.
Sabine Poschmann (SPD) erklärte, der Rechtsextremismus kenne „keine Himmelsrichtung und keine Ländergrenzen“.
Man werde sich aber von Wirrköpfen und Straftätern nicht vom Weg abbringen lassen und „weiter daran arbeiten, für alle Menschen in Deutschland gleichwertige Bedingungen zu schaffen“.
Dagegen kritisierte Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) die Aussagen von Gleicke scharf: „Sie stigmatisieren 16 Millionen.“ Obwohl die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern vertreten gewesen sei, „ist kein Tourist weniger gekommen“. Ausländische Investoren hätten zum Beispiel drei Werften gekauft. Arnold Vaatz (CDU/CSU) erklärte, die Politik wäre glaubwürdiger, wenn auch auf linksextremistische Gewalt wie im Leipziger Stadtteil Connewitz hingewiesen werden würde.
Zur Entwicklung der Wirtschaft sagte Karawanskij, nach einer Generation sei das Ziel, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse herzustellen, immer noch nicht erreicht. Die Löhne seien erheblich niedriger. Das sei eine Bankrotterklärung nach 26 Jahren Regierungspolitik. „Ich kann diese Jammerei nicht mehr hören“, konterte Mark Hauptmann (CDU/CSU). Er sei „stolz auf dieses Land und das was wir in 26 Jahren erreicht haben“.
In dem an die Ausschüsse überwiesenen Bericht schreibt die Bundesregierung, die Zunahme an fremdenfeindlichen und rechtsextremen Übergriffen des letzten Jahres gefährde den wichtigen Prozess der Integration und den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland. "Zugleich besteht die Gefahr, dass damit die Chancen der Zuwanderung gerade dort verspielt werden, wo man aufgrund der demografischen Entwicklung in ganz besonderer Weise auf Zuzug angewiesen ist", befürchtet die Regierung, die für "Offenheit und gelebte Toleranz" plädiert. Denn „Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Intoleranz stellen eine große Gefahr für die gesellschaftliche, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“. Die Regierung weist im Rahmen ihrer Bewertung auf die besondere Häufung von rechtsextremistischen Gewalttaten hin, die 2015 um 44,3 Prozent zugenommen hätten.
Zur wirtschaftlichen Entwicklung heißt es, das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner sei von 1991 bis 2015 von 42,8 auf 72,5 Prozent des Niveaus westdeutscher Länder gestiegen. Der Aufholprozess habe sich in den letzten Jahren deutlich abgeschwächt. Folgen dieser Lücke seien eine höhere Arbeitslosenquote, niedrigere Löhne und Gehälter sowie geringere Steuereinnahmen.
Ebenfalls an die Ausschüsse überwiesen wurde ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke (18/9847), in dem festgestellt wird, dass die deutsche Einheit auch ein Vierteljahrhundert nach dem Beitritt der DDR nicht hergestellt worden sei. Daher müsse die Bundesregierung die deutsche Einheit zur Priorität machen, die Einkommensschere zwischen Ost und West schließen und etwas gegen Rentenunterschiede tun. (hle/30.09.2016)