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Seit sich das Bundeskabinett im Juni auf den Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz geeinigt hat, das die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung reformieren soll, reißt der Protest nicht ab. Während Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) das geplante Gesetz einen „Quantensprung“ nennt, demonstrieren Betroffene und ihre Unterstützer, wie zuletzt letzte Woche anlässlich der ersten Bundestagsdebatte, in vielen Städten wütend gegen den Entwurf. Sie befürchten zum Beispiel, dass es Menschen mit Behinderungen künftig unmöglich wird, ein eigenständiges Leben in einer betreuten Wohngemeinschaft zu leben. Sie fordern, dass Sparvermögen nicht mehr gedeckelt und Eingliederungshilfe auch dann gewährt wird, wenn Behinderte in weniger als fünf von neun Lebensbereichen eingeschränkt sind.
Scharf monieren Behindertenverbände und Selbsthilfeorganisationen auch Öffnungsklauseln im Gesetz, mit denen ein Bundesland einzelne Leistungen oder auch Zugang, Umfang und Qualität zulasten der Betroffenen reduzieren könnte. In der Fragestunde des Bundestages am Mittwoch, 28. September 2016, will Katrin Werner, behindertenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, wissen, wie die Bundesregierung gerade dieser Kritik begegnen will. Eine Regionalisierung der Eingliederungshilfe sei nicht „zumutbar“, betont die Abgeordnete aus Trier im Interview. „Wir brauchen Regeln, die die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen gleichwertig machen.“ Das Interview im Wortlaut:
Frau Werner, für die einen ist es ein „Meilenstein“, für die anderen eine „Mogelpackung“. Wie kommt es, dass die Meinungen zum geplanten Bundesteilhabegesetz so stark differieren?
Die Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag versprochen, Menschen mit Behinderungen aus dem Fürsorgesystem herauszuführen und ein modernes Teilhabegesetz zu schaffen. Diesem Anspruch wird sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf absolut nicht gerecht. Nach einem Gesetzgebungsprozess, an dem sich viele Menschen mit Behinderungen beteiligt haben, waren die Erwartungen an den Gesetzentwurf groß. Umso trauriger, dass sich ihre Ideen und Empfehlungen im vorliegenden Gesetzentwurf nicht wiederfinden. Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen beispielsweise hatte einen tollen Vorschlag eingereicht. Dass die Beteiligten enttäuscht sind und von einer Pseudobeteiligung sprechen, ist nur verständlich.
Mit dem Gesetz sollen Eingliederungshilfen wie Fahrdienste oder persönliche Assistenten nicht aus der Sozialhilfe bezahlt werden. Menschen mit Behinderungen haben künftig einen eigenen Anspruch darauf haben. Auch die Freibeträge für Sparvermögen steigen deutlich.
Ja, sicherlich bringt der Gesetzentwurf auch Verbesserungen – aber eben auch viele Verschlechterungen. Was zudem verärgert: Menschen mit Behinderungen werden weiterhin in die Rolle des Bittstellers gezwungen. Die Bundesregierung behauptet zwar immer wieder, dass es weder eine Erweiterung noch eine Einschränkung des leistungsberechtigten Personenkreises geben soll, doch die im vorgelegten Gesetzentwurf festgeschriebenen Regelungen lassen anderes befürchten.
Einer Ihrer Kritikpunkte war, dass der Gesetzentwurf einen Rückschritt gegenüber der UN-Behindertenrechtskonvention darstellt. Inwiefern?
Dass die UN-Behindertenrechtskonvention immer noch nicht in den Köpfen vieler Abgeordneter der Regierungsparteien angekommen ist, zeigte sich zum Beispiel ganz offensichtlich in der ersten Debatte zum Bundesteilhabegesetz. Oft wurden die Vorschläge, die im Beteiligungsprozess von Menschen mit Behinderungen eingebracht wurden, als „Wünsche“ bezeichnet. Es geht hier aber nicht um ein Wunschkonzert, sondern um Menschenrechte! Das allein zeigt schon, dass die Regierung die Empfehlungen aus Genf nicht ernst nimmt. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, das die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland beobachtet, schreibt in seiner Stellungnahme, dass der Regierungsentwurf noch in zentralen Punkten an die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention angepasst werden muss.
Welche sind das?
Zu den Regelungen, die bisher absolut nicht menschenrechtskonform ausgestaltet sind, zählen etwa die „gemeinschaftliche Inanspruchnahme“, also das sogenannte Zwangspooling, oder die Regelung zum leistungsberechtigten Personenkreis: Wer Leistungen der geplanten neuen Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen möchte, muss laut Gesetzentwurf nachweisen, dass er oder sie entweder in mindestens fünf von neun Lebensbereichen ohne personelle oder technische Unterstützung nicht teilhaben kann oder mindestens in drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung nicht teilhaben kann. Einer Studentin mit Sehbehinderung könnte es zum Beispiel künftig passieren, dass sie die benötigte Vorlesehilfe nicht mehr bewilligt bekommt. Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen befürchten zu Recht, dass sie in Zukunft noch weniger bestimmen können, wo, wie und mit wem sie leben möchten.
Ministerin Nahles warf in der Plenardebatte ihren Kritikern vor, sie schürten mit „unvollständigen Informationen“ Ängste bei den Betroffenen. Gleichzeitig versicherte sie, dass es keine Verschlechterungen geben werde. Glauben Sie ihr nicht?
Die Behauptung der Regierung, Menschen mit Behinderungen wären Marionetten der Opposition, hat im Anschluss an die Debatte große Empörung bei den Betroffenen ausgelöst. Der Protest kommt allein aus den Reihen der Betroffenen, ganz unabhängig von der Opposition. Was wir jedoch leisten können, ist, ihren Protest in den Bundestag zu tragen. Mit der Befürchtung, dass der vorliegende Gesetzentwurf Verschlechterungen bringen wird, ist die Opposition im Bundestag übrigens nicht allein: Auch aus dem Bundesrat kommt die Kritik, dass der Kreis der Leistungsberechtigten nicht eingeschränkt und niemand schlechter gestellt werden darf als nach dem heutigen Recht.
Eine weitere Forderung der Betroffenen ist, dass die Leistungen bundesweit einheitlich gewährleistet werden müssen. Es dürfe nicht vom Bundesland abhängen, ob und wie sie gewährt werden. Woher kommt die Sorge, es könne zu einer Regionalisierung der Eingliederungshilfe kommen?
Viele der Regelungen im Gesetzentwurf, wie etwa zum Budget für Arbeit oder zur Bedarfsfeststellung, sind Länderöffnungsklauseln. Die Länder und Kommunen haben also die Möglichkeit, einzelne Regelungen einzuschränken. Es steht deshalb zu befürchten, dass sich die Regelungen künftig von Kommune zu Kommune unterscheiden – und damit auch die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen auseinander driften. Ein Fleckenteppich ist aber nicht zumutbar. Wir brauchen unbedingt Regeln, die die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen gleichwertig machen.
In der Fragestunde haken Sie nach und wollen wissen, wie die Bundesregierung auf die Kritik der Betroffenen reagieren will. Was erwarten Sie als Antwort?
Die Antworten aus dem SPD-geführten Ministerium für Arbeit und Soziales waren bisher enttäuschend und nicht zufriedenstellend. Oft konnte man durch widersprüchliche Antworten sogar den Eindruck gewinnen, dass die Regierung gar nicht weiß, was sie tut. Ich hoffe, dass es dieses Mal anders ist.
(sas/27.09.2016)