Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Home  |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > INFORMATIONS-CENTER > Plenarprotokolle > Vorläufige Plenarprotokolle >
15. Wahlperiode
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

   122. Sitzung

   Berlin, Mittwoch, den 08. September 2004

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Wolfgang Thierse:

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

   Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich)

   Am 19. August hat uns alle vollkommen unvorbereitet die Nachricht vom Tode unseres Kollegen Dr. Günter Rexrodt erreicht. Wir wussten von seiner schweren Krankheit, hielten sie aber für überwunden. So kam sein Tod plötzlich und traf uns wie ein Schock. Seine tatkräftige und lebensbejahende Art hat er sich auch in einer Zeit bewahrt, in der ihm seine Krankheit viel Kraft abverlangte.

   Am 12. September 1941 in Berlin geboren, blieb Günter Rexrodt seiner Geburtsstadt lebenslang verbunden. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft an der Freien Universität Berlin arbeitete er in einem großen Berliner Industriebetrieb und bei einer Bank. 1968 nahm er seine Tätigkeit bei der Berliner Industrie- und Handelskammer auf, wo er 1974 Mitglied der Geschäftsführung wurde.

   Günter Rexrodt wechselte 1979 zum Senator für Wirtschaft und begann seinen politischen Weg 1982 als Staatssekretär des Wirtschaftssenators und übernahm 1985 als Senator das Finanzressort. 1989 ging er zu einer großen Bank – erst nach New York und dann nach Frankfurt am Main als Vorstandsvorsitzender. 1991 kam der Ruf in den Vorstand der Berliner Treuhandanstalt.

   Kurze Zeit später führte ihn sein Weg in die Bundespolitik. Günter Rexrodt übernahm 1993 das Amt des Bundeswirtschaftsministers, das er, 1994 als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt, bis Oktober 1998 innehatte. 1998 wieder in den Bundestag gewählt, wurde er haushaltspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion.

   Günter Rexrodt gehörte dem Präsidium der FDP seit 1999 an und übernahm im Jahr 2001 das Amt des Schatzmeisters der Bundespartei.

   Die, die ihm begegneten, beeindruckte seine zupackende Art und die Fähigkeit und Bereitschaft, auf andere Menschen zuzugehen. Er war ein engagierter, in der politischen Auseinandersetzung streitlustiger Parlamentarier, der trotz aller Meinungsunterschiede seinen politischen Gegnern freundlich und charmant begegnete. Er wusste, wie wichtig dies in der Politik ist.

   Wir betrauern den Tod unseres Kollegen Günter Rexrodt. Wir werden ihn in ehrender Erinnerung behalten. Seiner Witwe und seinem Sohn drücken wir unser tiefes Mitgefühl aus.

   Ich danke Ihnen.

   Meine Damen und Herren, für den verstorbenen Kollegen Rexrodt hat der Abgeordnete Hellmut Königshaus am 20. August 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.

   Ferner hat für die Kollegin Tanja Gönner, die am 13. Juli 2004 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat, die Abgeordnete Angela Schmid am 28. Juli 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.

   Für den Kollegen Albert Deß, der am 19. Juli 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat, hat der Abgeordnete Artur Auernhammer am 29. Juli 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.

   Ich begrüße die neue Kollegin und die neuen Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.

(Beifall)

   Sodann möchte ich nachträglich Bundesminister Otto Schily, der am 20. Juli dieses Jahres seinen 72. Geburtstag beging, sowie der Kollegin Barbara Wittig und dem Kollegen Hans-Peter Uhl jeweils nachträglich sehr herzlich zum 60. Geburtstag gratulieren.

(Beifall)

   Dann teile ich mit, dass die Kollegin Petra Selg ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen benennt als Nachfolgerin die Kollegin Marianne Tritz. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin Tritz zur Schriftführerin gewählt.

   Wir setzen nunmehr die Haushaltsberatungen – Tagesordnungspunkt 1 – fort:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2005

(Haushaltsgesetz 2005)

– Drucksache 15/3660 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Finanzplan des Bundes 2004 bis 2008

– Drucksache 15/3661 –

Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

   Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige Aussprache insgesamt achteinhalb, für morgen neun und für Freitag dreieinhalb Stunden beschlossen haben.

   Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes.

   Das Wort hat Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Glos (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor knapp zwei Jahren sind die Deutschen an die Wahlurne gerufen worden. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, eine Halbzeitbilanz zu ziehen. Wie sieht unser Land, Herr Bundeskanzler,

(Peter Dreßen (SPD): Die Sonne scheint!)

nach sechs Jahren Ihrer Regierung zusammen mit dem gefährlichsten Minister, was die Wirtschaft anbelangt, mit Herrn Trittin, aus? Ich würde, wenn ich von der Wirtschaft ausgehe, die Regierung gerne Schröder/Trittin-Regierung nennen, weil sich dann gleich zeigt, wo die Schwachstellen liegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Wir haben in unserer Wirtschaft leider – niemand kann sich darüber freuen – einen Trend zum Substanzabbau zu verzeichnen, der erschreckt. Führende deutsche Unternehmen wie VW und Bayer scheiden aus dem Euro Stoxx 50 aus. Nun kann man sagen: Das ist eine Nachricht, die nur die Börsianer interessiert. In Wirklichkeit ist das ein Zeichen des Abstiegs der deutschen Wirtschaft innerhalb Europas. Der Euro Stoxx 50 enthält die am stärksten kapitalisierten Unternehmen Europas. Wenn jetzt auf einmal zwei deutsche Traditionsunternehmen ausscheiden, dann muss das auch mit der Politik zu tun haben und dann kann das nicht allein an der mangelnden Fähigkeit der Unternehmensführer liegen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich frage mich: Warum regt das eigentlich niemanden bei uns im Land mehr auf?

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So eine Aussage regt einen auf, sonst nichts!)

Weil wir, seitdem Sie regieren, schlechte Nachrichten gewohnt sind, nach dem Motto, Herr Schmidt: Es hätte ja alles noch schlimmer kommen können. Es hätten ja auch gleich fünf Unternehmen ausscheiden können. Da nur zwei ausgeschieden sind, ist also alles prima.

   Traditionsreiche deutsche Großbanken sind – Sie müssen sich nur die Börsenkurse anschauen – in ihrer Börsenkapitalisierung weit abgeschlagen. Sie werden als Fusionskandidaten gehandelt und es wird berichtet, Sie, Herr Bundeskanzler, würden sich für solche internationalen Fusionen einsetzen.

   Ein weiteres Beispiel. Es erfolgt derzeit ein Ausverkauf deutscher Wohnungen an internationale Fondsgesellschaften, offensichtlich weil ansonsten niemand mehr bereit ist zu kaufen. Ich erinnere mich, dass man sich, als Theo Waigel überlegt hat, die GAGFAH, die der Bundesversicherungsanstalt gehört, zu verkaufen, um die Eurostabilitätskriterien zu erfüllen, sehr darüber aufgeregt hat. Was war da alles los! Jetzt ist das Ganze verramscht worden und der Herr Gerster, den Sie als Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit geschasst haben, hat dabei noch Geld verdient. Niemand regt sich darüber auf. Ich glaube, das alles gehört zu den Momentaufnahmen der heutigen Zeit.

   Bei mir war unlängst ein Mensch, der sein Geld damit verdient, dass er große Kreditpakete von angeschlagenen Großbanken – er sagt, in Deutschland seien fast alle angeschlagen – an amerikanische Fonds vermittelt. Im Moment gibt es in diesem Bereich einen gewaltigen Ausverkauf. Es handelt sich dabei nach dem Nominalwert um zig Milliardenbeträge – wie teuer verkauft wird, weiß man nicht –, da sich die Großbanken entlasten und diese Pakete ins Ausland verramschen.

(Hans Eichel ,Bundesminister: So ein Quatsch!)

Das heißt aber auch, dass indirekt Firmen mitverkauft werden und ein Arbeitsplatz- und möglicherweise auch ein Wissenstransfer erfolgt, weil mittelständische Firmen, die Bestandteil dieser Pakete sind, plötzlich nicht mehr eine bestimmte deutsche Großbank als Partner haben, sondern die Anwälte amerikanischer Fondsgesellschaften. – Ich glaube, das alles sollte uns eigentlich umtreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Bundeskanzler, die Firma, die Sie einmal zum Opernball nach Wien eingeladen hat – seinerzeit waren Sie Mitglied im Aufsichtsrat; das alles war korrekt; es ist ja auch ein schöner Ball; auch ich war schon dort –,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Asbach Uralt! – Lothar Mark (SPD): Ist das primitiv!)

die Firma VW, verkauft sich selbst zum Teil nach Abu Dhabi.

   Der Wirtschaftspresse hat man entnehmen können, dass für die Ölscheichs der Kaufpreis wegen der zwischenzeitlichen Börsenentwicklung der VW-Aktie um 10 Prozent billiger wird, als man kalkuliert hat. Ich kann nur sagen: Offensichtlich hat der Vorstand schlecht gearbeitet. Zu diesem gehört auch Herr Hartz; er hätte sich besser um die Personalplanung kümmern sollen, um rechtzeitig umzuschalten.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist ja ein Argumentationsdurcheinander!)

– Herr Schmidt, dass Ihnen das nicht gefällt, kann ich sehr gut verstehen. Sie sind der unflätigste Zwischenrufer.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich würde gern dem Publikum all das vorlesen, was Sie an Unflätigkeiten während meiner Reden dazwischenrufen. Wenn Sie aber glauben, mich damit durcheinander zu bringen, dann täuschen Sie sich ganz gewaltig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ob sich die Ölscheichs bei Herrn Hartz bedanken werden, wird sich erst zeigen. Deutschland wird aber immer mehr zum Schnäppchenmarkt. Man geht heutzutage auf Schnäppchenjagd. „Geiz ist geil!“, Herr Bundeskanzler, auch bezüglich des Ausverkaufs der deutschen Wirtschaft.

(Waltraud Lehn (SPD): Ich würde lieber ins Bierzelt gehen! Da passt die Rede besser hin! – Weitere Zurufe von der SPD)

– Ich weiß, Sie wollen das verdrängen, Sie nehmen es nicht zur Kenntnis. Aber die Wähler nehmen es zur Kenntnis. Schauen Sie sich einmal Ihre Wahlergebnisse an. Darauf komme ich noch zu sprechen.

   Genauso schlimm ist, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland anhält. Sie hat inzwischen den Mittelstand erfasst. Das Hauptargument sind die politisch verantworteten Lohnzusatzkosten oder Arbeitskosten in der Bundesrepublik Deutschland, wie der Deutsche Industrie- und Handelstag sagt.

   Der beispiellose Niedergang Ihrer Partei, Herr Bundeskanzler, setzt sich fort. Ich erinnere an die Wahlen in Hessen, in Niedersachsen und in Bayern – in Bayern ist es kein Wunder, weil dort die Konkurrenz so gut ist –, aber auch die Wahlergebnisse in Hamburg und im Saarland sind beredtes Beispiel dafür, dass zumindest die Wählerinnen und Wähler das Ganze zur Notiz nehmen.

(Lothar Mark (SPD): Das ist eine Wahlniederlage, aber kein Niedergang der Partei!)

Wer jetzt die Schuld an diesen Debakeln allein auf Oskar Lafontaine schiebt, macht sich die Sache zu einfach. Sein ehemaliger Kumpel, Joschka Fischer – der Umgang

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist so etwas von lächerlich! – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind ja wirklich durcheinander!)

ist symptomatisch –, hat gesagt: „Lafontaine litt an einem akuten Überforderungssyndrom und ist einfach davongelaufen.“ Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrem Tun nicht auch manchmal ähnlichen Symptomen begegnen; aber eigentlich wollte ich sagen: Es ist richtig, dass Lafontaines Politik als SPD-Chef und Finanzminister Jobs in Deutschland gekostet hat; er hat falsche Weichenstellungen zu verantworten. Richtig ist aber auch, Herr Bundeskanzler: Die größten, durchschlagendsten Fehler durfte sich Lafontaine unter Ihrer Richtlinienkompetenz erlauben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Er war nämlich derjenige, der die Reformen in Deutschland, die auf Wachstum angelegt waren, wieder zurückgenommen hat. Sie haben dabei zugesehen.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): So ist es!)

Seit Lafontaines Steuerpolitik stottert der Wachstumsmotor im Mittelstand; das muss ich nicht einzeln aufzählen. Für die Beteiligungsmärkte war Deutschland keine erste Adresse mehr. Die Finanzmärkte schüttelten den Kopf über Lafontaines Attacken auf den Stabilitätspakt und seinen Feldzug für Wechselkurszielzonen. Ich will noch einmal daran erinnern: Das alles hat er unter Ihrer Ägide gemacht.

   Die Nachricht von seinem Rücktritt hat ein Kursfeuerwerk an den Börsen und Devisenmärkten ausgelöst. Herr Bundeskanzler, falls Sie so etwas vorhaben, sagen Sie es uns rechtzeitig.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich kann mir vorstellen – ich weiß natürlich, dass die Verbreitung von Insiderwissen verboten ist –, dass es dann nicht nur ein Feuerwerk geben wird, dann wird es Kursraketen an den internationalen und deutschen Märkten geben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich Erhard Eppler.

(Zuruf von der SPD: Wir sind hier nicht beim Oktoberfest!)

– Jetzt hören Sie erst einmal zu! – Er hat über Sie gesagt – wo er Recht hat, hat er Recht –:

(Zuruf von der SPD: Was hat Stoiber gesagt?)
Schröder – das ist reine Lotterie.

In der Lotterie haben die Wähler bei der letzten Wahl leider eine Niete gezogen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wenn es ernst wird, Herr Bundeskanzler – es sind in unserem Land leider sehr ernste Zeiten –, dann setzen die Menschen auf Verlässlichkeit.

Sie sind aber kein Kanzler der Verlässlichkeit. Deshalb erlebt die SPD ein Debakel nach dem anderen. Die Mitglieder und die Wähler – das steht fest – befinden sich auf einer Massenflucht.

   Willy Brandt – er war eine Zeit lang auch im Amt des Parteivorsitzenden Ihr Vorgänger – hat 1990 gesagt: „Nun wächst zusammen, was zusammengehört.“ Unter Ihrer Kanzlerschaft und unter dem Parteivorsitz von Müntefering – beides in der Nachfolge von Willy Brandt – brechen im Grunde genommen die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland, die zugeschüttet waren, wieder auf. Es gibt eine nie gekannte Enttäuschung der Menschen. Ich finde, das ist eigentlich etwas ganz Schreckliches.

   Es muss Sie nachdenklich machen, wenn jetzt bei den Demonstrationen – – Ich weigere mich, sie Montagsdemonstrationen zu nennen; ich finde das ganz makaber, weil es damals um etwas ganz anderes ging.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe da jetzt ein Plakat gesehen, auf dem stand: „Wenn Lügen kurze Beine hätten, wären die Politiker Liliputaner.“ Wenn man es speziell auf Sie münzte, würde das Wort „Zwerg“ wahrscheinlich noch besser zutreffen. Man mag das noch ein Stück weit lustig finden.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wendet sich aber letztendlich gegen uns alle – auch gegen die Schreihälse auf der linken Seite –, weil das Vertrauen in die demokratischen Politiker dadurch ungeheuer geschwächt wird.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Peinlich!)

   Ich kann nur sagen: Seitdem der Aufbau Ost zur Chefsache erklärt worden ist, fühlen sich unsere Freunde in Ostdeutschland schlecht behandelt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Chefsache bei Schröder zu sein ist mehr Drohung als Verheißung. Ich glaube, man ist da im Osten ganz besonders empfindlich.

   Herr Bundeskanzler, es gelingt Ihnen nicht, Ihre eigenen Reihen zu überzeugen. Wenn es nur um die Schreihälse hier ginge, würde das keine große Rolle spielen. Es geht aber auch um die Mitglieder und Anhänger, um die Menschen, die Vertrauen in die Sozialdemokratische Partei haben. Die müssen Sie mitnehmen!

   Sie müssen auch das unselige Theater mit den DGB-Gewerkschaften beenden. Gestern gab es wieder ein Treffen, über das ich – wie über Fischers Reisen – nur sagen kann: Außer Spesen nichts gewesen! Da läuft doch ein Spiel ab, das jedes Mal das gleiche Strickmuster trägt:

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Reden haben immer das gleiche Strickmuster! – Lothar Mark (SPD): So wie Ihre Reden!)

Um die Sympathisanten – die Beitragszahler – bei der Stange zu halten – sie zahlen beim DGB hohe Beiträge –, geht man, wenn es darauf ankommt, kräftig gegen die Regierung vor. Wenn Wahlen kommen, schiebt man wieder Millionen herüber, unterstützt die gleiche Regierung und sagt, die Opposition habe alles noch sehr viel schlimmer gemacht. Wir werden das Strickmuster wieder beobachten, wenn es auf die Wahlen zugeht. Insofern ist all das unglaubwürdig. Ich kann nur sagen: Wenn man solche unglaubwürdigen Spiele spielt, dann kann man die Menschen nicht überzeugen.

   In der SPD gibt es genug Spaltpilze. Ich beneide Sie in dieser Hinsicht nicht. Ich beneide auch nicht Herrn Müntefering, der in seiner Eigenschaft als SPD-Vorsitzender überhaupt keine Erfolge aufzuweisen hat. Ich meine, die Regierungskoalition gleicht zwei Jahre nach der Bundestagswahl einer gescheiterten Selbsthilfegruppe. Obwohl Sie von einer selbst gegrabenen Grube zur anderen stolpern, beklagen Sie die Undankbarkeit der getäuschten Wähler. Sie betreiben Selbstbeschwichtigung, verkünden Durchhalteparolen, schwören sich bei den Klausurtagungen an den verschiedensten Orten – von Palais Schaumburg bis Neuhardenberg – gegenseitig Beistand. Die Grünen gehen gleichzeitig in Luxushotels; sie mögen es nicht mehr so gewöhnlich wie die anderen Menschen.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das reicht ja nicht mal für einen Aschermittwoch!)

All das bringt unser Land nicht weiter. Wenn immer mehr Menschen am Wahltag zu Hause bleiben und wenn dadurch die Parteien am rechten und am linken Rand gestärkt werden, dann muss das uns allen Sorgen machen. Deswegen kann ich nur sagen: Zur Halbzeit der Legislaturperiode präsentiert sich das Bundeskabinett kraftlos und ausgelaugt.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kraftlos sind Sie doch!)

Eichel ist verschlissen. Man muss heute nur einmal eine führende Boulevardzeitung aufschlagen: Sie hat den Kern seiner Versprechungen wiedergegeben. All das ist jetzt eingestampft worden. Wo ist der ausgeglichene Haushalt 2006?

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Der Haushalt 2005!)

Eichel ist inzwischen Weltmeister im Schuldenmachen geworden. Der Marsch in den Schuldenstaat hält an. Das alles müssen einmal die Jungen in Deutschland bezahlen.

(Jörg Tauss (SPD): Eure! – Lothar Mark (SPD): Was Sie hinterlassen haben, waren 1,2 Billionen Mark!)

   Die Bundesgesundheitsministerin wäre ohne die Unterstützung und Zuarbeit der Opposition überfordert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Pflichtbeifall! – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was ist denn mit Ihrer Zahnpauschale, die nicht funktioniert?)

   Der für Verkehr und den Aufbau Ost zuständige Minister – da kann ich nur sagen: Nomen est omen – „stolpert“ ideenlos über die Politbühne. Seine Hilflosigkeit ist greifbar, wenn man sieht, wie er mit dem Desaster von 3 Milliarden Euro pro Jahr umgeht, das er selbst bzw. sein Haus durch Toll Collect verursacht hat.

(Zuruf von der SPD: Wir wollen Stoiber haben!)

   Der für Arbeit und Wirtschaft zuständige Minister, Herr Clement, wird zunehmend als vermeintlicher Neoliberaler und Turbokapitalist diskreditiert.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Vorsicht mit diesem Vorwurf!)

Er dient den Gewerkschaften als Buhmann und Sündenbock.

   Herr Bundeskanzler, ich kann Ihnen einen Tipp geben, wie Sie Herrn Sommer und Ihre Genossen befrieden können: Führen Sie Herrn Clement doch einmal gefesselt mit sich und lassen Sie sie, während er gefesselt bleibt, einfach die Aggressionen des DGB an ihm austoben.

(Hubertus Heil (SPD): Nehmen Sie mal die Hand aus der Tasche!)

– Vielen Dank für Ihren Hinweis.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich bin der Meinung, dass sich Herr Clement lieber um das Thema Wettbewerb kümmern sollte. Wir haben vorhin Günter Rexrodts gedacht. Günter Rexrodt ist mit dafür verantwortlich, dass es auf den Energiemärkten Wettbewerb gibt; denn er hat den Wettbewerb auf dem Strommarkt eingeführt. Sie versuchen jetzt, das alles über die Genossenschiene in einem beispiellosen Genossenfilz wieder ein Stück weit rückgängig zu machen.

   Ich finde es makaber: Ihr Staatssekretär Tacke – ich weiß nicht, wohin Sie dieser Gipfelsherpa noch führen soll – war vom früheren Wirtschaftsminister Müller – das war Ihr Freund, den Sie mitgebracht haben – beauftragt, die Fusion zwischen Eon und Ruhrgas, die vom Kartellamt und von Gerichten abgelehnt worden war, durch eine Ministererlaubnis zu genehmigen. Jetzt wird ausgerechnet dieser Staatssekretär, der noch im Amt ist, im gleichen Konzern und vom Aufsichtsratsvorsitzenden Müller in diesem Bereich zu einem gut dotierten Vorstandsvorsitzenden gemacht. Ein solches Vorgehen kann sich eine seriöse Regierung eigentlich nicht leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lothar Mark (SPD): Wie war das denn in Baden-Württemberg?)

   Auch Herr Fischer hat die letzten Monate damit verbracht, vor der Innenpolitik wegzutauchen, nach dem Motto: Da lassen sich keine Lorbeeren ernten. Er ist durch Entwicklungsländer getingelt, die er sonst nie besucht hat. Ich habe vermutet, er macht gleichzeitig seinen Antritts- und Abschiedsbesuch. Aber er hat vorgegeben, dort zu sein, weil er für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat kämpft. Diese Großmannssucht ist jetzt wieder in sich zusammengebrochen. Ich glaube, wir haben ganz andere Sorgen in Deutschland. Herr Bundesminister, wir sollten gemeinsam versuchen, auf europäischer Ebene voranzukommen, statt dass Sie durch die Welt tingeln, um für eine Schimäre zu werben.

   Ich meine, Ihr Bundestagswahlkampf hat die Menschen über die wahre Lage im Land hinweggetäuscht. Mit unhaltbaren Versprechungen sind die Perspektiven schöngeredet worden. Nach der Wahl herrschten Hektik und Konzeptionslosigkeit. Beides ist Deutschland wirtschaftlich teuer zu stehen gekommen.

   Ein besonderer Rohrkrepierer – ich habe dieses Thema schon gestreift – ist inzwischen die so genannte Wunderwaffe Hartz. Ich erinnere mich noch daran, dass auch wir, die Opposition, zu einer Weihehandlung im Französischen Dom in Berlin eingeladen worden sind. Man hat so getan, als ob eine neue Ära bzw. Epoche anbricht, als ob jetzt jemand da sei, der den Stein der Weisen gefunden hat. Dadurch sind die Deutschen kurz vor der Wahl noch einmal getäuscht worden.

   Rechnen Sie doch einmal nach, was aus den so genannten Hartz-Reformen geworden ist. Bei der praktischen Umsetzung wurden kapitale Fehler gemacht. Durch ständiges Nachbessern und permanente Flickschusterei ist der rote Faden verloren gegangen. Die Menschen wissen nicht mehr, wie sie darüber denken sollen. Die Folgen sind Enttäuschung und Frust. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind aus Enttäuschung und Frust auf der Straße.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben dem doch zugestimmt, Herr Glos! Haben Sie das schon vergessen? Im Bundesrat haben Sie zugestimmt!)

   Herrn Hartz muss man sagen: Wer sich als Messias feiern lassen will, der muss sich nicht wundern, wenn er bei einem Scheitern seiner Projekte als falscher Prophet gesteinigt wird. So ist die Geschichte der Menschheit schon immer verlaufen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das ist ja so verlogen!)

Ich meine, er hätte besser daran getan, vornehmlich da zu arbeiten, wo er bezahlt wird, nämlich für die Aktionäre von VW.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, das heillose Durcheinander von Vorschlägen und wiederholten Änderungen hat natürlich einen sehr hohen Preis.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei Ihnen in der Partei ist es heillos mit Vorschlägen!)

Wenn jede Woche eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird – wie Franz Josef Strauß einmal gesagt hat –, von der Mindeststeuer bis zum Mindestlohn, dann fehlt den Leuten das Mindestvertrauen und sie wenden sich von der Politik ab. Ich meine, hierin liegt auch der entscheidende Grund dafür, dass das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform in wesentlichen Teilen, das wir möglich gemacht haben, einfach verpufft ist, statt konjunkturelle Wirkung im Inland zu entfalten.

   Unser Problem ist die Kaufzurückhaltung, die wir gegenwärtig erleben. Volkswirtschaftlich ist sie zunächst gut – wir haben eine stark steigende Sparquote –, sie geht aber zulasten des Mittelstands, des Einzelhandels und mittlerweile auch der Automobilindustrie: Die Deutschen lieben auch ihr liebstes Kind, das Auto, nicht mehr so wie früher. Weil sie Angst haben vor der Zukunft, sparen sie das Geld an und das wirkt sich natürlich verheerend auf den Inlandskreislauf aus, ganz abgesehen davon, dass die Bauwirtschaft am Krückstock geht. Ich muss Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler: Wer diese Vertrauenskrise überwinden will, der braucht Mut zur Wahrheit

(Lothar Mark (SPD): Das sagen gerade Sie!)

und der braucht vor allen Dingen Realismus. Es beginnt bei der Wahrheit.

(Lachen und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

– Sie können mich der Unwahrheit nicht überführen. Unwahrheit – dein Name ist SPD, liebe Genossinnen und Genossen:

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Seit Jahren werden illusionäre Konjunktur- und Wachstumsprognosen präsentiert. Wir sagen jedes Mal: Es stimmt so nicht. Sie aber halten an Ihren Prognosen fest. Alle Arbeitsmarktversprechungen haben sich als unhaltbar erwiesen. 2 Millionen Arbeitsplätze sollte Hartz binnen ein paar Jahren bringen. Wir sind immer noch beim Stand von 4 Millionen offiziellen Arbeitslosen; in Wirklichkeit gibt es ja viel mehr, was nicht sichtbar ist.

   Reformpolitisch, Herr Bundeskanzler und meine verehrten Herren von der rot-grünen Regierung, stehen wir ungefähr da, wo die Koalition der Mitte bereits 1998 gewesen ist. Fast zehn Jahre sind verloren gegangen, zehn verlorene Jahre für Deutschland. Damals wurden wichtige Reformen von Ihnen blockiert: Bei der Steuer konnten wir unsere Vorstellungen nicht durchsetzen, weil wir den Bundesrat gebraucht hätten; deswegen ist das Petersberger Modell dann verschwunden.

   Wir haben den demographischen Faktor bei der Rentenversicherung eingeführt, wir haben die Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen eingeführt, wir haben erste Lockerungen im Arbeitsrecht gemacht, zum Beispiel die mehrmalige Befristung von Arbeitsverträgen. Nach der Wahl ist das alles mit einem Federstrich wieder zurückgenommen worden. Mit unseren Reformen im Sozialsystem und vor allen Dingen mit steigenden Beschäftigungszahlen und einer Defizitquote von circa 2 Prozent war der richtige Weg beschritten. Sie haben von Theo Waigel ein hervorragendes Erbe hinterlassen bekommen. Das steht fest.

(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Waltraud Lehn (SPD): Es tut weh, Ihnen zuzuhören!)

– Wissen Sie, Frau Kollegin, auf Ihrer Seite sitzen viele Leute, die alles bestreiten; sie bestreiten ja zum Teil nicht einmal ihren eigenen Lebensunterhalt. Aber diese Fakten müssen Sie zur Kenntnis nehmen, auch wenn sie wehtun.

   Ich muss zwischendrin zu meinem parlamentarischen Geschäftsführer sagen, er soll einmal die Redezeit anders melden; denn die Uhr irritiert mich ständig.

   Wir haben in den zurückliegenden Jahren im Gegensatz zu Ihnen nicht blockiert, sondern wir haben Ihre reformpolitischen Bemühungen konstruktiv unterstützt.

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wann war denn das?)

Was in den letzten Jahren erfolgreich verlaufen ist, trägt – das müssen Sie zur Kenntnis nehmen – die Handschrift der Union. Ohne unsere Mitarbeit stünden wesentliche Elemente des Hartz-Konzeptes nicht im Gesetzblatt. Ohne unsere Initiativen bei den Minijobs hätten wir heute keinen Beschäftigungsboom auf dem Gebiet. Ohne die Erfahrungstransfusion von Horst Seehofer zur Bundesgesundheitsministerin Schmidt gäbe es jetzt keine Überschüsse in den Kassen der Krankenversicherung.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

   Bei den Irritationen um Hartz IV tragen Sie die Schuld: Ihre Propagandaabteilung hat geschlafen. Sie haben viel zu spät über die Wirkungen von Hartz IV aufgeklärt. Sie haben das Ausfüllen der Fragebögen in den neuen Bundesländern hauptsächlich den Funktionären der PDS, die ihre Hilfestellung angeboten haben, überlassen. Da ist es dann kein Wunder: Diese Hetzer, mit denen Sie gleichzeitig in zwei wichtigen Bundesländern regieren, haben natürlich überhaupt kein Interesse daran, dass es vertrauensbildende Maßnahmen gibt.

Wenn man es sich genau anschaut, dann ist ja angeblich vieles nicht so schlimm. Ich kann nur sagen: Die Leute ärgern sich auch, weil sie das Gefühl haben, sie seien einer Mogelpackung aufgesessen. Man nannte das Ganze Arbeitslosengeld II, in Wirklichkeit ist es eine Variante der Sozialhilfe. Man soll die Menschen vorher nicht täuschen, sondern ihnen klipp und klar sagen, was man vorhat und wo die Grenzen liegen. Wir müssen das alles sicherlich tun, weil die öffentlichen Kassen schon lange nicht mehr die Leistungsfähigkeit haben, die sie einmal hatten. Deswegen sind wir ja auch für alle Sparmaßnahmen.

   Herr Bundeskanzler, ich komme zu Ihrer ökonomischen Bilanz. Ich habe vorhin ein paar Beispiele aus der Praxis gebracht; das hat Ihnen nicht gefallen. Global und allgemein klingt das alles viel vornehmer. Der Hintergrund ist aber genauso schwach. Die Bundesregierung spricht von einem robusten Wachstum. Das Gegenteil ist heute der Fall. Die Frühindikatoren mahnen zur Vorsicht. Das angepeilte Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent, das Sie regierungsamtlich propagieren, wird nur erreicht, wenn Deutschland weiterhin gut exportieren kann. Der Inlandskreislauf ist noch lange nicht angesprungen. Wir segeln im Windschatten der Konjunkturprogramme anderer, nämlich im Windschatten der USA und des Booms in China. Wenn dieser Boom aus irgendwelchen Gründen nachlassen sollte, dann brechen bei uns die Prognosen wieder in sich zusammen.

   Wie gesagt: Das Hartz-Konzept hat nicht gegriffen. Ihre Wahlkampfwunderwaffe hat sich als Rohrkrepierer erwiesen. Herr Bundeskanzler, am 16. August 2002 haben Sie die neue Wirklichkeit versprochen. Inzwischen kennen wir die wirkliche Wirklichkeit. Die wirkliche Wirklichkeit ist – ich sage es noch einmal –: Nach wie vor gibt es offiziell über 4 Millionen Arbeitslose. Das ist die Wirklichkeit bei uns im Land und das spüren immer mehr Menschen.

   Der Haushalt wird als „Schicksalsbuch der Nation“ bezeichnet. Ich kann nur sagen: Wenn das, was Herr Eichel vorgelegt hat, das Schicksalsbuch ist, dann geht unser Volk einem sehr ungewissen Schicksal entgegen,

(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder (CDU/CSU): Das kann man laut sagen!)

weil es geschönt und gefälscht ist. Kollege Austermann hat, nachdem Eichel vom Treffen von Nobelpreisträgern und Nachwuchswissenschaftlern am Bodensee berichtet hat, zu Recht gesagt, dass Eichel erst dann eingeladen wird, wenn es einen Nobelpreis fürs Schuldenmachen gibt. Dann ist auch Eichel nobelpreisverdächtig.

   Herr Bundeskanzler, wir befinden uns inzwischen in einer Schuldenfalle. Es hat keinen Sinn, das Ganze schönzureden. Die Schuldenlawine nährt sich aus sich selbst. Es entsteht ein Teufelskreis, der über kurz oder lang die politische Gestaltungsfähigkeit unseres Landes infrage stellt. Deutschlands Staatsfinanzen steuern längst nicht mehr wie versprochen in den Ausgleich, sondern sie steuern leider in den Abgrund. Deswegen müssen wir auch mit dem Stabilitätspakt sehr vorsichtig sein.

   Ich will Ihnen nur einmal vorlesen, was die „FAZ“ vorgestern geschrieben hat.

(Lothar Mark (SPD): Das haben wir gelesen!)

– Da nicht alle Zuhörer das gelesen haben, möchte ich es doch vorlesen. Sie können mich dadurch nicht abhalten.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie halten die Menschen ja für ziemlich dumm!)

Unter „Kaschierte Schuldenpolitik“ steht dort:

Eine Sorge allerdings dürfte Eichel nun los sein. Im Zusammenspiel mit Paris hat es die Bundesregierung geschafft, dem von Deutschland initiierten Stabilitätspakt die Verbindlichkeit zu rauben. Sanktionen für überbordende Schulden sind daher kaum noch wahrscheinlich. Darauf hat Kanzler Gerhard Schröder mit Eichels Hilfe hingearbeitet, frei nach dem Motto: Ist der Pakt erst ruiniert, verschuldet es sich ungeniert.
(Lothar Mark (SPD): Das war die literarische Form der „Bild“-Zeitung!)

Wir brauchen diesen Stabilitätspakt auch, damit die Menschen ausreichend Vertrauen in die neue Währung haben.

   Den knappen EU-Finanzen droht neues Ungemach. Günter Verheugen ist ja inzwischen Ihr Mann fürs Grobe. Er ist nicht in der Türkei, um zu überprüfen, ob alle Kriterien, die man aufgestellt hat, erfüllt werden, sondern um Ihre Weisung auszuführen. Deswegen ist er ja auch in die neue Kommission berufen worden.

(Lothar Mark (SPD): Das ist eine unverschämte Unterstellung!)

Er soll seine Arbeit zu Ende machen und ohne Wenn und Aber testieren – so wird es kommen –, dass die Türkei für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union bzw. für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen infrage kommt.

(Lothar Mark (SPD): Das hat die CDU vor 40 Jahren gewünscht!)

   Ich meine ganz ernsthaft: Auch hier geht es noch einmal gegen unsere Finanzen. Wer soll das Ganze denn bezahlen? Die EU der 25 ist doch schon heute finanzpolitisch pleite. Es würde doch steigende deutsche Zahlungen bedeuten, wenn wir ein wirtschaftlich so rückständiges Land zusätzlich hereinholen würden.

   Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich noch weiter zitieren, aber so empfehle ich Ihnen, das Ganze nachzulesen.

(Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: Lieber nicht! – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sprechen Sie mal mit Frau Merkel!)

– Jetzt hören Sie doch auf. Herr Präsident, wird mir diese Unruhe, die Sie nie unterbinden, auf meine Redezeit angerechnet?

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Stefan Kornelius hat in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ einen sehr nachdenklichen Artikel über das Für und Wider eines Beitritts der Türkei verfasst.

(Waltraud Lehn (SPD): Vorlesen! – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Eben haben Sie so schön vorgelesen!)

– Ich lese ihn nicht vor. Sie können ihn selber nachlesen. Kornelius warnt auch vor zu hohen Erwartungen auf der türkischen Seite.

   Herr Bundeskanzler, warum fürchten Sie ein Referendum über den EU-Verfassungsvertrag wie der Teufel das Weihwasser? Der Grund ist, dass Sie genau wissen, dass dann die Deutschen auch über die Zukunftsperspektive der Europäischen Union abstimmen, in der die Türkei Vollmitglied würde, sodass die Menschen aus Anatolien einen direkten Zugang zu unserem Arbeitsmarkt bekommen würden. Das schafft doch bei den Menschen neue Ängste.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie schüren die Ängste! Unanständig!)

Durch die Vollmitgliedschaft der Türkei würde Europa plötzlich undefinierbar gemacht. Deshalb gibt es keine Abstimmung.

   Sie müssen uns noch die Frage beantworten, ob denn Herr Chirac, mit dem Sie sehr intensiv verbunden sind, mit Ihnen abgesprochen hat, dass er nun in Frankreich ohne Notwendigkeit verkündet hat, das französische Volk solle direkt über den Verfassungsvertrag abstimmen. Wie sehen Sie das als deutscher Bundeskanzler? Frankreich und Deutschland müssen im Gleichklang marschieren. Die Europäische Union ist nichts mehr wert, wenn sich Deutschland und Frankreich nicht mehr abstimmen. Haben Sie das gleiche Vertrauen ins deutsche Volk, wie der französische Präsident es offensichtlich ins französische Volk hat? Was hat er Ihnen darüber erzählt? Darauf sind wir alle sehr gespannt.

   Ich meine, auch Deutschlands Rolle auf der globalen Ebene muss hinterfragt werden. Abkoppelungsversuche im Irakkonflikt haben in den USA ein tiefes Misstrauen gegenüber Deutschland zurückgelassen. Das, Herr Bundeskanzler, müsste Sie besorgt machen. Wir können den Kampf gegen den Terror in Europa langfristig nur in Zusammenarbeit mit den USA gewinnen. Es hat keinen Wert, auf einem Auge blind zu sein.

   Herr Parteivorsitzender Müntefering, die Pöbeleien der Damen und Herren aus Ihren Reihen – die eine ist noch in der Regierung, die andere nicht mehr; dafür ist sie zur Belohnung Ausschussvorsitzende geworden – gegenüber den Amerikanern – jüngst von Frau Wieczorek-Zeul, vorher von Frau Däubler-Gmelin – sind nicht in Ordnung.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Diese Rede ist so was von peinlich!)

Herr Bundeskanzler, angesichts der schrecklichen Ereignisse und Bilder in Ossetien, die wir alle vor Augen haben, gilt unser ganzes Mitgefühl natürlich dem russischen Volk; die Osseten sind Teil des russischen Volkes. Daher ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, mit Besserwisserei zu kommen.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Die ganze Rede war deplatziert!)

Der ganze Unsinn mit der GSG 9, die angeblich alles besser gemacht hätte, war überflüssig. Menschenrechtsverletzungen muss man gleichmäßig in der ganzen Welt verurteilen. Nur dann wird man glaubhaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ein letzter Punkt. In der Bibel steht, die Linke soll nicht wissen, was die Rechte tut.

(Lothar Mark (SPD): Da steht aber auch: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten!)

Danach wird bei Ihnen regiert, Herr Bundeskanzler. Ihre Bundesminister arbeiten gleichzeitig mit- und gegeneinander. Ich bringe ein Beispiel – die beiden Herren sitzen nebeneinander –: Schily hat sich abgemüht, zusammen mit der Union ein restriktives Zuwanderungsrecht für Deutschland zu verabschieden. Ich meine, das ist auch gut so. Was macht gleichzeitig der neben ihm sitzende Fischer? Er lässt bei der Visaerteilung die Schleusen öffnen. Demnach halten sich circa 5 Millionen Menschen rechtswidrig in der Europäischen Union auf. Die allermeisten sind mithilfe deutscher Konsulate eingereist. Das finde ich nicht in Ordnung. Das ist ein Skandal erster Größenordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Bundeskanzler, was machen Sie als Regierungschef in diesem Fall? Sie grinsen den einen so freundlich an wie den anderen. Das ist die Regierungskunst der Beliebigkeit. Ich meine, dass das die Deutschen inzwischen satt haben. Deswegen brauchen wir in Deutschland einen Neuanfang, der mit Klarheit und Wahrheit Ernst macht.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schaffen Sie zuerst einmal Klarheit und Wahrheit in Ihren Reihen!)

   Es gibt in Deutschland ermutigende Zeichen. Darunter fällt aber nicht die Tatsache, dass Sie, Frau Sager, wieder mit einem guten Ergebnis zur Vorsitzenden der Grünen gewählt worden sind. Es ist auch kein ermutigendes Zeichen, dass die Grünen ihrem heimlichen Führer Fischer folgen. Da er inzwischen ein Besserverdiener geworden ist, sind auch die Grünen die Partei der Besserverdiener geworden.

(Jörg Tauss (SPD): Kein Neid!)

Insofern gibt es weiterhin einen Gleichklang zwischen Ihnen, Herr Fischer, und Ihrer Partei.

   Ein ermutigendes Zeichen ist für mich die auch von den Arbeitnehmern getragene Lohnzurückhaltung bei Daimler Chrysler und bei Siemens, um den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder zu stärken.

(Franz Müntefering (SPD): Lesen Sie den Rest doch mal ab. Vielleicht hat man Ihnen wenigstens etwas Vernünftiges aufgeschrieben! Das wäre vielleicht besser!)

Wir als Politiker, und Sie als Bundeasregierung müssen das aufnehmen. Wir müssen die Lohnzusatzkosten weiter begrenzen. Wir müssen den Arbeitsmarkt entrümpeln und wir müssen Deutschland zu einem konkurrenzfähigen Standort machen.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann können wir ja beim Zahnersatz zusammen marschieren! Das wäre jetzt mein Vorschlag!)

Dazu gehört eine grundlegende Reform der Sozialsysteme. Wir wollen, dass dieses Land wettbewerbsfähig bleibt.

(Franz Müntefering (SPD): Können Sie das alles wiederholen? Das war so schön!)

Herr Bundeskanzler, dazu ist – ob Sie wollen oder nicht, das kann man auch nicht delegieren, das kann man auch nicht teilen – politische Führung aus einem Guss gefordert. Ihr Job ist ein harter Job. Ich hätte viel lieber, da ich manchmal Mitleid mit Ihnen habe, Gutes über Sie gesagt. Menschlich tue ich das gern,

(Lothar Mark (SPD): Schmeichler!)

aber bei Ihrer Regierungstätigkeit gibt es dazu leider keinen Anlass.

   Ich bin der Meinung, man kann die Zukunft nur gewinnen, wenn man auf der Basis von Klarheit und Wahrheit bleibt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Waltraud Lehn (SPD): Ich würde mich allerdings auch daran halten!)

Ich empfehle Ihnen ganz zuletzt Abraham Lincoln.

(Zuruf der Abg. Waltraud Lehn (SPD))

– Jetzt hören Sie doch noch einen Satz lang zu. Ich weiß, es ist für Sie schwer zu ertragen, aber die Wahrheit ist nun einmal schwer zu tragen. Ich zitiere Abraham Lincoln. Er hat gesagt: Man kann alle Leute für einige Zeit und einige Leute für alle Zeit, nicht aber alle Leute für alle Zeit hinters Licht führen.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark (SPD): Haben Sie verstanden, was er damit ausdrückt? – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Da hinterlassen Sie uns ein Rätsel! Die Rede hat mir richtig gut gefallen!)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort Bundeskanzler Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gerhard Schröder, Bundeskanzler:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Glos, früher waren Ihre Auftritte überwiegend lustig und selten peinlich. Heute war es umgekehrt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sage ich mit der gleichen freundlichen menschlichen Sympathie, die ich Ihnen entgegenbringe. Aber politisch war das, was Sie hier abgeliefert haben, wirklich daneben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Schwache Reaktion! Fällt Ihnen nichts Besseres ein, Herr Bundeskanzler? – Michael Glos (CDU/CSU): Da fällt ihm nichts ein!)

   Ich will das nur an einem Beispiel, das Sie gebracht haben, näher erläutern. Sie haben sich über Volkswagen verbreitet und über die Tatsache, dass Volkswagen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten zusammenarbeitet, die sich an Volkswagen beteiligen wollen. Aus meiner langen Tätigkeit im Aufsichtsrat von Volkswagen weiß ich, dass nach der Satzung und dem VW-Gesetz, das ja, jedenfalls bei Ihnen, nicht unumstritten ist, gegen die niedersächsische Landesregierung relativ wenig läuft. Die niedersächsische Landesregierung wird aber nicht von Sozialdemokraten gestellt. Ich bedauere das sehr. Im Präsidium des Aufsichtsrates von Volkswagen sitzt Herr Wulff und im Aufsichtsrat sitzt Herr Hirche. Auch Sie von der FDP sind beteiligt. Gegen beider Stimmen würde eine im Übrigen durchaus vernünftige Beteiligung der Emirate nicht laufen. Wen kritisieren Sie da eigentlich?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich glaube, es ist an der Zeit, zu den Problemen im Lande zurückzukommen, über die man in diesem Hohen Haus zu debattieren hat. Unser Land ist, wie übrigens andere europäische Länder auch, drei großen Herausforderungen ausgesetzt, mit denen wir fertig werden müssen. Dabei haben wir uns auf den Weg gemacht.

   Zunächst stellt sich die Herausforderung in der internationalen Lage.

Wir haben Grund, über die Herausforderung zu reden, die Terrorismus heißt – und nicht nur zu reden. Wir haben daneben ungelöste regionale Konflikte, mit denen auch deutsche Politik fertig werden muss. Die Stationen des Terrors, einer Bedrohung, die nach der des Kalten Krieges neu ist und mit der die zivilisierte Welt fertig werden muss, sind doch bekannt: New York und Washington, Djerba und Bali, Madrid und jetzt Moskau und Beslan.

   Ich plädiere dafür, Terrorismus nicht danach zu unterscheiden, wo er örtlich stattfindet, sondern Terrorismus als eine Angelegenheit zu betrachten, die bekämpft werden muss, und zwar gleichgültig, wo sie stattfindet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Das hat meine Position zu dem, was in Russland geschehen ist, bestimmt und das wird meine Position weiter bestimmen. Wenn man über die Ursachen redet, dann darf man nicht Täter zu Opfern machen. Gelegentlich lese ich Ähnliches. Ich sage nicht, dass das hier gesagt worden ist, aber gelegentlich habe ich den Eindruck, dass man je nachdem, wo Terrorismus stattfindet, unterschiedliche Maßstäbe ansetzt.

   Natürlich – da sind sowohl der französische Präsident als auch ich mit dem russischen Präsidenten einig – muss es in Tschetschenien eine politische Lösung geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber diese Lösung muss doch ganz bestimmten Kategorien folgen, zum Beispiel der,

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Zum Beispiel freien Wahlen!)

dass wir ein Interesse daran haben, dass die territoriale Integrität der Russischen Föderation nicht infrage gestellt wird. Wir haben ein eigenes Interesse daran, dass das nicht passiert. Was würde denn wohl die Folge sein, wenn die territoriale Integrität Russlands über diesen Konflikt infrage gestellt würde? Jedenfalls keine, die mehr an Stabilität in der Welt und in Europa bedeutete. Das gilt es doch zu beachten, wenn man diese Frage beantworten will.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn man politische Lösungen will, dann muss es Gesprächspartner geben. Will mir jemand wirklich erklären, dass diejenigen, die für den Mord an unzähligen Kindern verantwortlich sind, Gesprächspartner für eine politische Lösung sein können? Das kann doch niemand erklären.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen meine Bitte dort wie überall: Terrorismus, der das Leben unschuldiger Menschen, von Kindern zumal, nicht achtet, darf nirgendwo eine Chance haben und ist nirgendwo Partner für seriöse internationale Politik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist richtig: Dieser Herausforderung, die in der internationalen Politik liegt, kann man nur mit einem multilateralen Ansatz begegnen. Es wird doch immer klarer in der internationalen Politik, dass ein anderer nicht geht. Das ist der Grund, warum der Bundesaußenminister und die ganze Regierung diesen multilateralen Ansatz sowohl beim Kampf gegen den Terrorismus als auch bei der Lösung oder bei der Mithilfe zur Lösung regionaler Konflikte stützen.

   Wir erleben doch gerade, dass wir alle ein Interesse daran haben müssen, dass im Irak nicht weniger, sondern mehr Stabilität ist. Deutschland leistet seinen Beitrag. Wir leisten unseren Beitrag, indem wir helfen, eigene Sicherheitskräfte, ob Polizei oder Militär, auszubilden. Natürlich geschieht das nicht im Irak; denn es gilt das, was ich gesagt habe, nämlich dass wir dort keine Soldaten hinschicken. Aber wir helfen doch bei der Lösung solcher Fragen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben deshalb keinen Grund, uns irgendwelche Vorwürfe machen zu lassen, übrigens auch, Herr Glos, uns Selbstvorwürfe zu machen. Es gibt keinen Grund dafür. Deutschland ist das Land, das seine internationalen Pflichten, seine Bündnispflichten auf Punkt und Komma erfüllt. Ich füge hinzu: Wir können stolz darauf sein. Wir stehen selber materiell dafür ein, dass diese Pflichten erfüllt werden. Das ist nicht überall so.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt nach wie vor auf dem Balkan, das gilt in Afghanistan. Wir werden demnächst darüber zu reden haben, wenn es um die Verlängerung der Mandate geht.

   Das gilt auch für das, was Deutschland bei neuen regionalen Konflikten leistet, zum Beispiel im Iran. Dieser Konflikt ist höchst besorgniserregend. Wer ist es denn, der mit dem französischen und dem englischen Außenminister versucht, diesen Konflikt zu dämmen, ihn nicht ausbrechen zu lassen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Was hat er erreicht?)

Es ist doch der Bundesaußenminister und kein anderer, der sich im Iran darum bemüht, dieses Land dazu zu bewegen, den Brennstoffkreislauf nicht zu schließen.

   Es ist viel über die Zusammenkunft in Sotschi geredet worden. Dabei ist aber auch eines klar geworden, nämlich dass die Russen das gleiche Interesse wie wir daran haben, dass es keine neue atomare Macht gibt, die Iran heißt. Diesem Interesse dienen wir. Diesem Interesse dienen die Reisen, die der Bundesaußenminister macht. Sie sollten stolz darauf sein und sie nicht diskreditieren, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich denke, dass angesichts der neuen Herausforderungen klar ist, dass es diese Bundesregierung gewesen ist – wir reden schließlich über Halbzeitbilanzen und Bilanzen im Allgemeinen –, die selbstbewusst und in eigener Verantwortung definiert hat, was sie international zu leisten imstande und bereit ist. Wir haben auf dem Balkan, in Afghanistan und anderswo zusammen mit unseren Bündnispartnern gegen den internationalen Terrorismus gekämpft, auch mit militärischen Mitteln. Es war doch schwierig genug, das in diesem Hohen Haus – und zwar im gesamten Hohen Haus – durchzusetzen. Daran kann ich mich noch erinnern. Aber weil wir unsere Pflichten erfüllen, haben wir auch das Recht, dann Nein zu sagen, wenn wir von der Sinnhaftigkeit nicht überzeugt sind. Das ist es, was eigenes Handeln ausmacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die zweite Herausforderung heißt Globalisierung. Sie heißt Globalisierung und meint eine Einbindung in die internationale Arbeitsteilung, wie es sie niemals gegeben hat, mit der Folge eines verschärften ökonomischen Wettbewerbs, wie er auch noch nie der Fall gewesen ist. Wir haben eine europäische und eine innenpolitische Antwort darauf zu geben. Das gilt übrigens gleichermaßen für die dritte große Herausforderung, nämlich den radikal veränderten Altersaufbau in unserer Gesellschaft.

   Zuzugeben ist doch, dass das schon in den 90er-Jahren sichtbar war. Es haben nicht alle so darauf reagiert, wie darauf hätte reagiert werden müssen und wie zum Beispiel in Schweden reagiert worden ist. Aber tun Sie doch jetzt nicht so, als ob in den 90er-Jahren nur die Sozialdemokraten und die Grünen für die Tatsache verantwortlich gewesen wären, dass nicht zureichend reagiert worden ist! Das waren doch allemal auch Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

So viel Nachdenklichkeit sollte man schon erwarten können.

   Beides – die Globalisierung und der veränderte demographische Aufbau unserer Gesellschaft – sind die zwei großen Herausforderungen neben der internationalen. Es ist richtig, dass die ökonomische und die politische Antwort auf beide Herausforderungen, die in den europäischen Ländern gleich groß sind, heißen muss: Europa auf der einen Seite und Umbau unserer Gesellschaft nach innen auf der anderen Seite.

   In beiden Bereichen handelt diese Regierung und sie handelt durchaus viel versprechend, auch, was die europäische Dimension angeht. Wer ist es denn gewesen, der veranlasst hat, dass in Europa wieder über Industriepolitik geredet wird, und zwar nicht in dem Sinne, dass der Staat anzuordnen hätte, was geschieht, sondern in dem Sinne, dass man sich auch wieder um das Rückgrat einer Wirtschaft, nämlich die industrielle Produktion, kümmert, statt sich nur auf die Situation von Finanzmärkten und Ähnliches zu beziehen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das waren doch wir Deutschen zusammen mit den Franzosen und Engländern.

   Wer ist es denn gewesen, der gesagt hat, wir brauchen jemanden in der Kommission, der in allererster Linie für die Frage verantwortlich ist, wie es industriell weitergeht, und der für einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie verantwortlich ist? Dazu ist ein deutscher Kommissar – der Stellvertreter des Kommissionspräsidenten – berufen worden. Das hat etwas mit der Europapolitik zu tun, die wir machen und die durchaus erfolgreich ist. Das kann man auch an solchen Punkten ablesen.

   Ich gestehe zu, dass es hilfreich war, Frau Merkel, dass auch Sie sich engagiert haben. Warum sollte ich das denn nicht zugestehen? Natürlich war das hilfreich. Aber es ist doch ein Erfolg der deutschen Politik, den man nicht einfach wegdiskutieren kann, weil es in die bayerische Volksseele passt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Von der Volksseele verstehen Sie besonders viel!)

   Eine europäische Verfassung hätte es außerdem ohne deutsche Initiativen nicht gegeben. Der Verfassungsprozess ist auf unseren Vorschlag in Nizza in Gang gesetzt worden. Ich sage Ihnen: Wir werden die Ersten bzw. unter den Ersten sein, die den Verfassungsentwurf zu ratifizieren haben. Ich habe jedenfalls den Anspruch, dass das in Deutschland passiert.

   Ich möchte kurz über die Frage reden, wie das geschehen soll. Herr Glos, das, was Sie beabsichtigen, ist doch allzu durchsichtig. Sie sagen mit Bezug auf die Abstimmung über den Verfassungsentwurf: Wir wollen das deutsche Volk direkt beteiligen. Sie wollen es also nur an einem einzigen Punkt beteiligen. Sie sagen das natürlich auch in der Hoffnung, dass Sie dann sozusagen den Fuß in die Tür für Regierungshandeln bekommen; denn die Entscheidung, ob Beitrittsverhandlungen mit einem Land aufgenommen werden oder nicht, gehört zum Regierungshandeln und ist nichts anderes. Das, was Sie machen, ist doch, wie gesagt, allzu durchsichtig. Ich finde es in Ordnung, dass die Koalition sagt: Wenn schon direkte Beteiligung, dann aber gründlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich sind auch diejenigen ernst zu nehmen, die sagen, das müsse man sich gut überlegen. Gar keine Frage, ich bin für einen entsprechenden Diskussionsprozess. Aber es ist scheinheilig, das deutsche Volk nur bei der Abstimmung über den Verfassungsentwurf direkt beteiligen zu wollen und ansonsten nicht. Das wird mit uns nicht zu machen sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie immer diese Diskussion endet, der Ratifikationsprozess wird frühzeitig eingeleitet. Das ist die feste Vereinbarung der Regierungskoalition. Das ist auch notwendig und stünde Deutschland gut an. Übrigens läge es in der Tradition der Europapolitik aller deutschen Regierungen, wenn wir hier besonders drängen würden. Das sollten wir tun.

(Michael Glos (CDU/CSU): Was haben Sie mit Chirac ausgemacht?)

– Was Jacques Chirac angeht: Der französische Präsident wird in eigener Verantwortung entscheiden, ob ein Referendum in Frankreich durchgeführt wird oder nicht. Im Übrigen können Sie ganz beruhigt sein. Natürlich hat er mich informiert, bevor das öffentlich wurde. Aber das ist eine souveräne französische Entscheidung, aus der wir uns heraushalten sollten.

   Eines ist besonders wichtig: Wie auch immer ratifiziert wird, ob rein parlamentarisch oder im Rahmen direkter Demokratie, man sollte keine unterschiedlichen qualitativen Maßstäbe an das jeweilige Verfahren anlegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die zweite und dritte Herausforderung in Deutschland, aber auch in allen anderen europäischen Ländern, bestehen, wie gesagt, in der Globalisierung und im demographischen Wandel. Unsere Antworten darauf haben wir mit der Agenda 2010 – dieser Prozess ist zwar auf den Weg gebracht worden, aber keineswegs abgeschlossen – und mit unserer Steuerpolitik gegeben. Damit überhaupt keine Missverständnisse aufkommen: Ich verteidige ausdrücklich das, was der Bundesfinanzminister mit unser aller Zustimmung in der Steuerpolitik macht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Da Sie von Wahrheit und Klarheit geredet haben, möchte ich gerne ein paar wenige Daten nennen. Als wir in die Regierung kamen, lag der Spitzensteuersatz – dieser interessiert Sie augenscheinlich besonders – bei 53 Prozent. Im Jahre 2005, also in ein paar Monaten, wird er bei 42 Prozent liegen. Ich gebe zu, dass er bei 43 Prozent gelegen hätte, wenn wir seinerzeit nicht miteinander hätten reden müssen, Herr Brüderle. Das ist zuzugestehen. Immerhin wird er bald 10 Prozentpunkte unter dem damaligen Niveau liegen. Das reicht. Mehr Spielraum haben wir nicht, wenn wir die Staatsaufgaben noch finanzieren wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir über Gerechtigkeit in der Steuerpolitik reden, dann ist etwas anderes – das wird hier nie erwähnt – noch viel wichtiger. Als wir 1998 in die Regierung kamen, lag der Eingangssteuersatz bei 25,9 Prozent. 25,9 Prozent! Dafür war Herr Waigel verantwortlich. Am 1. Januar 2005 wird er bei 15 Prozent liegen. Das ist gerecht, weil dies den Geringverdienenden nutzt. Das wollen wir.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das wollten wir schon zehn Jahre vorher!)

– Stimmt, das wolltet ihr schon zehn Jahre vorher. Aber ihr habt es nicht gemacht.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der CDU/CSU: Bundesrat!)

– Entschuldigung, ich habe doch das gleiche Problem. Aber ihr habt es nicht gemacht. Wir haben das durchgesetzt. Das, was wir erreicht haben, lassen wir uns nicht durch eure Sprüche kaputtmachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie hätten doch Gelegenheit gehabt, dafür zu sorgen, dass die Gewerbesteuer – sie betrifft die kleinen und mittleren Unternehmen besonders – bei Personengesellschaften auf die zu zahlende Einkommensteuer angerechnet wird. Das habt ihr doch nicht gemacht; daran habt ihr noch nicht einmal im Traum gedacht. Das hat diese Koalition durchgesetzt. Das ist wirtschaftsfreundlich und nichts anderes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In puncto Steuer, Unternehmensbesteuerung, aber auch Besteuerung der Privatpersonen hat die Koalition überhaupt keinen Grund, in Sack und Asche zu laufen und sich von Ihnen eine Debatte aufdrängen zu lassen, die mit der Wirklichkeit nun überhaupt nichts zu tun hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Jetzt reden wir über das, was in dem Prozess, der mit Agenda 2010 beschrieben ist, ansteht. Wir sind es doch gewesen, die bereits in der letzten Legislaturperiode dafür gesorgt haben, dass neben der Umlagefinanzierung bei der Rente eine Kapitaldeckung aufgebaut werden kann. Der Prozess, die Säule Kapitaldeckung, die neben der Umlagefinanzierung das Dach der Rentenversicherung hält, dicker zu machen, als sie gegenwärtig ist, dauert natürlich länger. Das geht nicht von heute auf morgen. Das kann auch niemand wirklich erwarten. Aber wir sind es doch gewesen, die das gemacht haben.

   Zum Nachhaltigkeitsfaktor habe ich etwas gesagt. In der Tat, er musste sein. Wir sind es gewesen, die einen Fehler – das ist zuzugeben – korrigiert haben.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Ihren eigenen Fehler!)

Ich weise nur darauf hin, dass das, was Sie seinerzeit vorgehabt haben, zu den Wirkungen, die der Nachhaltigkeitsfaktor hat, nicht geführt hätte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Beschäftigen wir uns doch einmal mit der Gesundheitspolitik. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie das so gelaufen ist, als die Seele wegen der 10 Euro im Quartal für einen Arztbesuch kochte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Ulla Schmidt standhaft verteidigt hat, was gemeinsam beschlossen worden ist und wie sich viele von Ihnen zur Seite gedrückt, um nicht zu sagen: in die Büsche verkrochen haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Da wir gerade bei der Gesundheitspolitik sind: Das System ist mittlerweile transparenter. Es gibt Ansätze – aber eben nur Ansätze –, dafür zu sorgen, dass die Kassen mit den Ärzten Verträge abschließen können. Dass allerdings weniger Transparenz als nötig und weniger Freiheit als möglich in diesem System sind, das haben doch Sie zu verantworten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Versuch der FDP, den Besitz von Apotheken auf vier zu beschränken, das heißt, den Markt in diesem Bereich nicht freizugeben, grenzt schon ans Lächerliche. Das ist eine marktwirtschaftliche Orientierung, bei der es einem kalt den Rücken herunterläuft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich bin im Übrigen dafür, dass man den Menschen deutlich macht, dass mehr Transparenz im System und die Tatsache, dass wir gemeinsam – das ist zuzugeben – eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung einerseits und Solidarität andererseits geschaffen haben,

(Birgit Homburger (FDP): Wo denn?)

Wirkungen zeitigen. Das ist doch bereits gestern deutlich geworden. Erstes Halbjahr 2003: Defizit der gesetzlichen Krankenkassen 2 Milliarden Euro. Das hätte doch auf die Beitragssätze gedrückt, wenn man es so gelassen hätte. Erstes Halbjahr 2004: Überschuss der gesetzlichen Krankenkassen 2,5 Milliarden Euro. Das ist ein Turnaround von 4,5 Milliarden Euro. Das hat mit der neuen Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität, die gefunden worden und die in sich durchaus gerecht ist, zu tun. Solidarität ist nicht aufgegeben worden. Angesichts der Situation unserer Gesellschaft – das hat mit dem Altersaufbau zu tun – musste das gemacht werden; sonst wären die Systeme auf Dauer nicht finanzierbar geblieben. Das wird uns auch noch bei anderen Punkten begegnen. Ich komme darauf zurück.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben gesagt – wir haben darüber ein Telefongespräch geführt –: Um eine Gemeinsamkeit zu erreichen, machen wir beim Zahnersatz das, was die Union vorgeschlagen hat. Sie wissen das. Ich habe mich darauf eingelassen und die Koalition hat sich auch darauf eingelassen. Jetzt stellen wir zusammen fest,

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Nein! Nein!)

dass diese Variante, die eingeführt worden ist, den Kassen in jedem Fall ein Maß an Verwaltungskosten aufbürdet, das wirklich nicht vernünftig ist. Wenn das so ist, dann muss man auch die Kraft haben, zu sagen: Wir korrigieren das. Wir haben das gemeinsam gemacht, also korrigieren wir es auch gemeinsam.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich warne nur davor, dann, wenn es ein besseres System gibt – das hat die Ministerin vorgeschlagen –, zu sagen: Wir wissen noch nicht so richtig, ob wir uns darauf einlassen können; das können wir erst im Oktober entscheiden. Das ist nicht der richtige Umgang mit der Problematik, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Notwendig wäre dagegen, zu sagen: Lassen Sie uns das, was wir mit zu viel an Verwaltungskosten befrachtet haben – durchaus gemeinsam –, gemeinsam korrigieren und eine vernünftigere Lösung finden! Lassen Sie es uns bald machen; denn es eilt, zum einen, weil es in die Maastricht-Kriterien eingeht, zum anderen aber auch, weil Klarheit über den weiteren Weg herrschen muss. Lassen Sie uns das gemeinsam machen und zögern Sie das nicht hinaus!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich verstehe die Abstimmungsnotwendigkeiten in Ihren beiden Parteien. Aber im Laufe des parlamentarischen Prozesses müsste es zu schaffen sein,

(Beifall der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

so weit zu kommen, dass die Abstimmung vollzogen wird und wir miteinander eine vernünftigere Lösung durchsetzen können.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie hatten lange genug Zeit!)

   Auch dort wird die Reform weitergehen müssen, ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht, was mehr Transparenz und mehr Markt – auch bei den Apotheken – angeht. Diese Frage wird Sie, meine Damen und Herren, noch einholen; ich bin ganz sicher.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wir fürchten uns, Herr Bundeskanzler!)

– Wer sich da vor Ihnen fürchten soll, muss mir noch erklärt werden, Herr Westerwelle.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie werden gleich darstellen, wie furchterregend Sie sein können.

   Ich komme zu dem dritten Punkt, der Teil der Agenda ist. Das ist das, was mit dem Namen Hartz IV verbunden ist. Die Notwendigkeit, Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen, ist von niemandem bestritten worden. Im Blick auf die Debatte darüber, wer wann Aufklärung geleistet hat, habe ich einmal herumgefragt, wann denn das Gesetz abschließend im Bundesrat beschlossen worden ist. Kaum einer – außer mir natürlich – ist auf Mitte Juli gekommen.

   Als wir wussten, wie das Gesetz aussehen würde – es war ein schwieriges Vermittlungsverfahren, das nicht im letzten Dezember, kurz vor Weihnachten, sondern im Juli 2004 endete –, begann sozusagen die Phase der Umsetzung in die notwendigen Verordnungen und Richtlinien. Das musste auch schnell gemacht werden; denn zum 1. Januar 2005 muss Klarheit herrschen.

   Jetzt ein paar Bemerkungen zu den Wirkungen und zu der Art und Weise, wie damit umgegangen wird. Ich glaube, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe richtig ist. Darüber, denke ich, gibt es auch keine großen Unterschiede in den Auffassungen in diesem Hause. Wenn das so ist, reduziert sich das Ganze doch auf die Frage, ob die Umsetzung so, wie sie im Gesetz vorgesehen ist und die erst zum 1. Januar 2005 beginnen soll, dem gemeinsamen Anliegen entspricht.

   Dann sollte man einmal buchstabieren, was denn im Moment so diskutiert wird, insbesondere von der verehrten Opposition.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Von Herrn Schreiner!)

– Von dem auch; das stimmt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Es gibt noch ein paar mehr!)

Da wird gesagt, das Schonvermögen sei nicht großzügig genug angesetzt. Ich will Ihnen dazu nur zwei Beispiele nennen. Dass ein Ehepaar, die Ehegatten jeweils 45 Jahre, mit zwei Kindern neben Haus und Hausrat, was bei der Transferzahlung nicht berücksichtigt wird, 47 500 Euro an Schonvermögen hat, gibt es – wir haben das überprüft – in keinem anderen europäischen Sozialstaat.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Was sagt denn Herr Schreiner dazu?)

   Ich füge hinzu: Das neue Arbeitslosengeld II, die frühere Arbeitslosenhilfe also, ist eine steuerfinanzierte Leistung. Dieses Geld wird keineswegs nur von den Spitzenverdienern aufgebracht. Dieses Geld wird auch aus den Steuern der Verkäuferin, des Gesellen im Handwerk, des Krankenpflegers, von wem auch immer aufgebracht. Angesichts dieser Tatsache durch die Gegend zu laufen

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer tut das? – Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Heiko Maas!)

– das sind doch Ihre Ministerpräsidenten; fragen Sie doch einmal Herrn Milbradt! –

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und zu sagen, das sei zu wenig, wird der Lage nicht gerecht.

(Zuruf von der SPD: Üble Heuchler!)

   Besonders makaber ist es im Übrigen, dass die gleichen Ministerpräsidenten, die jetzt Veränderungen durchführen wollen – ob sie Müller, Meier oder Schulze heißen –, im Vermittlungsverfahren dafür gesorgt haben, dass nicht weniger, sondern mehr an Schärfe und Druck ins System gekommen ist. Das ist doch keine Art, Politik zu machen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dann fordern die Gleichen, dass das Arbeitslosengeld I je nach Dauer der Beitragszahlung länger bezahlt werden muss. Sie bestreiten mit dieser Aussage Landtagswahlkämpfe. Dabei hätten Sie doch im Vermittlungsverfahren etwas sagen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Keiner von denen, die jetzt die Fahne hoch reißen, hat dazu ein einziges Wort gesagt. So kann man doch nicht politisch arbeiten, insbesondere dann nicht, wenn man sich angeblich das Prinzip Verlässlichkeit auf die Fahne geschrieben hat. Das geht doch nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   In den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss ist es unter der nächsten Ziffer um den Zuverdienst gegangen. Jetzt wird von allen gesagt, hier müsse mehr ermöglicht werden. Ich erinnere mich noch an das Vermittlungsverfahren; wir waren doch alle dabei. Wie ist es da denn gelaufen? Diejenigen, die weniger Zuverdienstmöglichkeiten gefordert und angesichts der Machtverhältnisse im Bundesrat auch durchgesetzt haben, laufen jetzt herum und sagen, sie hätten sich bessere Zuverdienstmöglichkeiten vorgestellt.

(Zurufe von der SPD: Pfui!)

Das ist doch nicht auf einen Nenner zu bringen, meine Damen und Herren. Doch die gleichen Leute reden davon, dass sie Vertrauen schaffen wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Heuchler!)

   Richtig makaber wird das vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Herr Koch aus Hessen öffentlich und in den Vermittlungsgesprächen gefordert hat, dass es überhaupt keine Zuverdienstmöglichkeiten geben dürfe; dabei hat er auf Erfahrungen in Wisconsin, also auf ein amerikanisches Beispiel, hingewiesen. Die gleichen Leute, die so etwas gesagt haben, laufen jetzt durch die Republik und diskreditieren das ganze Vorhaben, indem sie Forderungen nach weiter gehenden Möglichkeiten stellen, obwohl sie das vorher abgelehnt haben. Sie glauben doch selber nicht, Herr Glos, dass man das als vertrauensbildend bezeichnen kann.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will auch, damit das nicht einseitig wird, ein Wort zu der Frage der von uns vorgesehenen zumutbaren Arbeit, die angenommen werden muss, sagen. Ich glaube, dass es ungeheuer schwierig wäre, für alle denkbaren Fälle abstrakt im Gesetz zu definieren, wann eine Arbeit zumutbar ist und angenommen werden muss. Deswegen hat der Bundesarbeitsminister dafür gesorgt – und das ist richtig –, dass die Fallmanager, also diejenigen, die die Vermittlungstätigkeit ausüben – in Zukunft wird einer 75 junge Leute betreuen; bei den Älteren sind wir noch nicht so weit, da kommt einer auf 140 Fälle; aber das ist auch schon ganz gut –, einen möglichst weiten Ermessensspielraum haben. So können sie selber im Einzelfall eine Definition vornehmen und mit dem Arbeitslosen in einer Eingliederungsvereinbarung aushandeln, was zumutbar ist und was nicht. Ich setze darauf, dass damit verantwortlich umgegangen wird.

Die Beispiele, die jetzt in die Welt gesetzt werden, sind absurd. Natürlich wird es Aufgabe im Rahmen der Monitoringprozesse sein, zu kontrollieren, ob das vernünftig gemacht wird und ob Gruppen oder Einzelne so vom Gesetz betroffen werden, wie es vorgesehen ist. Wenn nicht, muss man über die Prüfung von Einzelfällen und über das Monitoringverfahren dafür sorgen, dass die Ziele des Gesetzes erreicht werden. Das ist unsere Aufgabe. Aber mit dieser Aufgabe kann doch erst begonnen werden, wenn das Gesetz in Kraft ist, wenn es wirkt, nämlich ab 2005. Das kann man nicht prophylaktisch machen.

   Ich glaube, dass man sich wirklich die Zeit nehmen sollte, eine der größten Sozialreformen, die in der Geschichte der Bundesrepublik gemacht worden sind, weil sie gemacht werden musste, sehr sorgfältig auf ihre Wirkungen abzuklopfen, und bereit sein sollte, korrigierend einzugreifen, wenn Wirkungen erzielt werden, die das Gesetz nicht vorsieht. Aber schon vorher über die Veränderung der Reformen zu reden halte ich für ganz falsch und deswegen wird das auch nicht geschehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Falsch wäre es indessen, diese große Reform, die wir brauchen, um unsere eigene Zukunftsfähigkeit sicherzustellen und die sozialen Sicherungssysteme in Ordnung zu bringen und zu halten, nur auf den Leistungsbereich und die dort notwendigen Veränderungen zu beschränken. Im Übrigen kann sich auch dieser im europäischen Maßstab sehen lassen. Ziel des Gesetzes ist doch etwas ganz anderes, nämlich die stetig anwachsende Langzeitarbeitslosigkeit besser als in der Vergangenheit zu bekämpfen. Das ist das eigentliche Ziel des Gesetzes.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dieses Ziel erreichen wir durch Fördern. Im ersten Schritt wollen wir die ständige Zufuhr in die Langzeitarbeitslosigkeit bei denen, die jung sind, abstellen. Deutschland steht im europäischen Maßstab, was Jugendarbeitslosigkeit angeht, sehr gut da. Aber wir wollen noch besser werden. Deswegen schaffen wir ab 1. Januar 2005 einen Rechtsanspruch für junge Leute unter 25 Jahren auf entweder Ausbildung oder Arbeit oder Qualifizierung. Das dient dem Ziel, die Zufuhr in die Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen.

   Ein Wort zum Fördern im Zusammenhang mit der Debatte in Deutschland. Wir werden im nächsten Jahr alles in allem und flexibel einsetzbar knapp 10 Milliarden Euro – ich glaube, es sind genau 9,63 Milliarden Euro – zur Verfügung haben, von denen 42 Prozent dort eingesetzt werden, wo die Arbeitslosigkeit größer ist als anderswo, nämlich im Osten unseres Landes.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie man vor diesem Hintergrund behaupten kann, für den Osten des Landes werde nichts Spezielles getan, entzieht sich nun wirklich jedem Verständnis.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Aber eines ist genauso klar: Die gewaltige Aufgabe, die wir vor uns haben, lässt sich nur durchführen, wenn Kommunen, Länder und Bund, und zwar unabhängig von der parteipolitischen Färbung der jeweiligen Regierung, in dieser Frage zusammenarbeiten. Hier geht es um ein Stück Zukunftsfähigkeit des Landes. Wer meint, darüber aus parteipolitischem Kalkül oder angesichts von Wahlkämpfen hinwegsehen zu können, der tut etwas gegen die Interessen unseres Landes und nicht dafür.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Aufgabe kann nur gemeinsam durchgeführt werden und das muss unabhängig von der parteipolitischen Färbung von Landes- oder Kommunalregierungen geschehen. Das ist eindeutig.

   Abschließend ein paar Bemerkungen zu den Folgen dessen, was wir an Umbauarbeit in den sozialen Sicherungssystemen aus den Gründen, die ich genannt habe – verschärfter Wettbewerb, Stichwort: Globalisierung, und radikal anderer Altersaufbau unserer Gesellschaft –, geleistet haben. Wichtig ist, dass niemand glauben darf, wenn die Gesetze beschlossen sind, kann man sich zurücklehnen. Das geht aus zwei Gründen nicht: Es wäre ein Irrtum, zu glauben, Reformprozesse in reichen Gesellschaften – entgegen dem, was Herr Glos gesagt hat, ist dies eine Gesellschaft, die wohlhabend ist und voller Kraft steckt, auch und gerade im internationalen Maßstab; ich werde noch ein paar Punkte dazu nennen – ließen sich bewerkstelligen, indem man hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz verabschiedet. Die Erfahrung, die wir gegenwärtig machen, ist doch, dass bei einer so großen und wichtigen Reform die Umsetzung in der Gesellschaft die eigentliche Aufgabe jeglicher reformerischen Arbeit ist. Das ist, glaube ich, ein Gesichtspunkt, dem man sich ganz neu widmen muss,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das haben Sie besonders gut gemacht!)

weil das ganz andere Arbeitsweisen als die hier gepflegten verlangt. Wir befinden uns mitten in dem Prozess, das zu verklaren.

   Die zweite Erkenntnis muss sein: Angesichts der fortschreitenden und immer schnelleren Veränderung der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften sind Reformprozesse nie am Ende. Es ist vielmehr eine permanente Aufgabe, zu überprüfen, ob die Überbausysteme in der Politik noch mit den radikalen, schnellen Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaften Schritt halten können. Das ist das eigentlich Entscheidende, worum es geht.

   Wir tun das, damit die sozialen Sicherungssysteme auch in Zukunft haltbar bleiben,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

damit auch unsere Kinder und deren Kinder noch in den Genuss einer – in unseren Gesellschaften ist es immer eine relative – Sicherheit kommen. Immerhin ist es eine Sicherheit, die in der Geschichte unseres Landes noch nie erreicht worden ist. Darum machen wir jetzt die Umbauarbeit und darum nehmen wir die Schwierigkeiten in Kauf. Ich weiß sehr wohl um die Schwierigkeiten, die Sie genannt haben. Ich weiß auch – das ist keine Frage – um die schmerzhaften Wahlniederlagen. Aber ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir jetzt nicht handeln würden, dann würde es zu spät sein, wer auch immer das Heft des Handelns dann in der Hand halten würde.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir tun das, weil die Agenda 2010, wie seinerzeit angekündigt, auch ein anderes Gesicht, sozusagen die Kehrseite der Medaille, hat. Dieses Gesicht bedeutet schlicht: Der Umbau ist nicht nur nötig, um die Sicherungssysteme in Ordnung zu halten. Er ist auch nötig, damit wir gesellschaftliche Ressourcen freisetzen, um sie in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu investieren. Das ist der andere Teil der Agenda 2010.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dieser andere Teil beinhaltet die Notwendigkeit, dass wir in Forschung und Entwicklung investieren.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Genau!)

Wir müssen das 3-Prozent-Ziel erreichen. Aber angesichts der Schwarzmalerei will ich sagen: Für Forschung und Entwicklung werden im europäischen Durchschnitt 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausgegeben. In Deutschland sind es rund 2,5 Prozent. Schweden hingegen gibt 4,3 Prozent dafür aus. Wir kommen nicht auf diese Zahl, aber wir müssen in diese Richtung gehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind zwar schon besser als der Durchschnitt, aber wir müssen noch besser werden und müssen sehen, dass wir schnell das Ziel von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen.

   Wie geht das? Es geht durch Subventionsabbau. Da sind auch Sie gefordert. Denn Subventionsabbau heißt, Ressourcen, die man in der Vergangenheit für Subventionen eingesetzt hat, für Zukunftsinvestitionen auszugeben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Damit bin ich bei der Eigenheimzulage. Sie können unter Beweis stellen, dass Sie mithelfen wollen, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen,

(Unruhe bei der CDU/CSU)

indem Sie die Blockade aufgeben, mit der Sie die Eigenheimzulage belegt haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir müssen – das ist nur innerhalb des föderalen Systems zu schaffen – mehr in Bildung investieren. Das gilt übrigens auch für die Ausbildung. Damit bin ich beim Ausbildungspakt. Natürlich gibt es noch eine Lehrstellenlücke. Niemand bedauert das mehr als wir. Aber dass 10 000 Ausbildungsverträge mehr als im letzten Jahr bereits jetzt unterschrieben sind, ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Die rechnerische Lücke von 30 000, die es immer noch gibt, muss bis zum Jahresende geschlossen werden. Das ist Aufgabe der Wirtschaft.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Tatsache, dass große angelsächsische Zeitungen Deutschland inzwischen als Investitionsstandort Nummer eins ansehen – das können Sie in „Newsweek“ nachlesen; ich bin auch bereit, Ihnen das vorzulesen, Herr Kollege Glos –,

(Heiterkeit bei der SPD)

hat eminent mit der Qualifizierung unserer Leute zu tun. Diese hat wiederum mit der Fähigkeit und der Bereitschaft zu tun, Ausbildungsplätze bereitzustellen. Das ist etwas, was wir im eigenen Interesse und auch im Interesse der Wirtschaft leisten müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der dritte Punkt. Wir brauchen die Ressourcen, um sie vor allen Dingen in Betreuung zu investieren. Wir brauchen sie, weil es sich diese Gesellschaft überhaupt nicht leisten kann – in Zukunft noch viel weniger –, die Qualifikation, die Kreativität und die Leistungsbereitschaft von Frauen nur deshalb ökonomisch nicht zu nutzen, weil es an Betreuungsplätzen fehlt. Das können wir uns nicht leisten. Außerdem kommt hinzu, dass es nicht gerecht ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das sind die Bereiche, um die es schwerpunktmäßig geht und für die wir Ressourcen mobilisieren müssen und Ressourcen mobilisieren werden.

   Wenn man sich einmal anschaut, was von dem Schauergemälde übrig geblieben ist, das Herr Glos gemalt hat, und wenn man die Zahlen wirklich betrachtet, dann sieht man, dass wir zwar keinen Anlass haben, euphorisch und selbstgerecht in die Zukunft zu blicken, dass wir aber Anlass haben, selbstbewusst und entlang eigener entwickelter Stärke die Zukunftsaufgaben anzugehen. Wir haben beim Wachstum zur Eurozone aufgeschlossen. Die Industrieproduktion in Deutschland wächst deutlich schneller als im europäischen Vergleich.

   Übrigens, dass wir Exportweltmeister sind, hat doch auch etwas mit der Kraft der deutschen Wirtschaft und nicht mit ihrer Schwäche zu tun. Warum sagen wir das nicht?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies hat auch etwas mit der Lohnpolitik der deutschen Gewerkschaften zu tun, die dazu geführt hat, dass die Lohnstückkosten schon die ganzen 90er-Jahre über, auch in der Phase der Stagnation, im Grunde gleich geblieben sind – es gab eine Steigerung von 0,1 Prozent pro Jahr – und dass damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in einem Maße wie nie zuvor zugenommen hat. Wir haben auch in der schwierigsten Phase der Weltwirtschaft, in der Stagnationsphase, die Gott sei Dank überwunden ist, abzüglich der Wechselkursbereinigung real Marktanteile gewonnen.

   Das ist doch ein Zeichen von Kraft, auf die wir stolz sein und worauf wir unabhängig von allen parteipolitischen Auseinandersetzungen auch einmal hinweisen sollten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben das bei einer Inflationsrate erreicht, die die stabilste und geringste in Europa ist, was uns bei den Zinsen gelegentlich Schwierigkeiten macht. Weil wir eine so geringe Inflationsrate haben, haben wir das höchste reale Zinsniveau. Das ist ein Problem, was die Refinanzierung unserer Unternehmen angeht. Aber es ist doch auch etwas, worauf man hinweisen kann, was man nicht einfach vergessen darf.

   Wie sieht es schließlich – darüber wird immer wieder geredet – bei den Patenten aus? Wir liegen im europäischen Maßstab weit an der Spitze. Wir sind besser als die Konkurrenten, auch besser als die großen europäischen Konkurrenten. Ja, es ist wahr: Amerika und Japan sind noch besser. Wir sollten und wollen dazu aufschließen. Deswegen investieren wir in Forschung und Entwicklung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, ich gehöre wirklich nicht zu denjenigen, die nicht wüssten, wie schwer die Arbeitslosigkeit auf diesem Land lastet und wie sehr uns das umtreiben muss. Wir sind deswegen weit davon entfernt, nur ein rosiges Bild zu malen. Aber zu sagen, dieses Land sei ein einziges Jammertal, nur weil Ihnen die Regierung nicht passt, das ist hanebüchener Unsinn.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Was wir tun müssen und was wir tun werden, ist, die Positionierung Deutschlands als eines selbstbewussten, bündnistreuen Landes in der internationalen Politik nicht aufzugeben. Was wir nach innen tun müssen, ist, den Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme voranzubringen, weil sie nur so auf Dauer zu sichern sind. Was wir im Übrigen zu tun haben, ist, Ressourcen in den Bereichen einzusetzen, die ich genannt habe.

   Dabei können wir auf eine ungeheure Kraft in der deutschen Gesellschaft und auch in der deutschen Wirtschaft bauen – nicht in dem Sinne, dass man sich damit zufrieden geben könnte, aber schon in dem Sinne, dass man sie als Ausgangspunkt für eine Zukunft nutzt, die wir nun wirklich nicht schwarz in schwarz malen müssen.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Ach, nein! – Um Gottes willen! – Gegenruf der Abg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Das ist Demokratie!)

Dr. Guido Westerwelle (FDP):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben viele bemerkenswerte Sätze in Ihrer Rede gesagt, aber einer war besonders bemerkenswert. Sie haben gesagt: Diese Regierung handelt vielversprechend.

(Lachen bei Abgeordneten der FDP)

Das ist das Problem dieser Regierung: Sie verspricht viel, aber sie hält nichts. Deswegen laufen Ihnen auch die Menschen davon.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Es ist bei Ihnen jedes Jahr dasselbe Ritual.

(Franz Müntefering (SPD): Leichtmatrose! – Ute Kumpf (SPD): Aber mit Schlauchboot!)

– Herr Müntefering, das war ein fabelhafter Zwischenruf. Heute habe ich schon etwas über Zwischenrufe gehört. Herr Schmidt sitzt jetzt nicht neben Ihnen, aber Sie, Herr Müntefering, und Herr Schmidt – Frau Kumpf, Sie sind schöner als Herr Schmidt, das muss man ausdrücklich sagen – sitzen hier regelmäßig wie die beiden Opas auf dem Balkon in der Muppet Show und rufen dazwischen. Das ist wirklich bemerkenswert. Darüber, was Sie mit Innovation zu tun haben, wollen wir ein andermal reden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Geistreich!)

   Herr Bundeskanzler, es gibt immer – das ist das Entscheidende – das gleiche Ritual. Es wechselt aus meiner Sicht nur jedes Jahr der Verantwortliche. In einem Jahr sagen Sie, dass die Weltwirtschaft für die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich ist, und im nächsten Jahr sagen Sie, dass die Opposition dafür verantwortlich ist. Dann verweisen Sie auf die angeblich mangelnde Mitwirkung der Oppositionsparteien hier im Bundestag oder im Bundesrat.

   Tatsache ist aber etwas ganz anderes. Tatsache ist, dass sich diese Opposition, zum Beispiel im Vermittlungsverfahren, um ein Vielfaches konstruktiver verhalten hat und verhält, als Sie das zu Ihrer Zeit in der Opposition jemals getan haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie haben gesagt, Sie wollen den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent senken. Dazu merke ich – wir haben heute Morgen des verstorbenen Kollegen Günter Rexrodt gedacht – an: Wir hätten längst auf der Grundlage der Petersberger Beschlüsse ein völlig neues, einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren Sätzen. Es waren die Ministerpräsidenten Schröder und Eichel, die das blockiert haben; denn durch den Bundestag war es durch. Sie haben als Ministerpräsidenten aus Wahlkampfgründen gegen die Interessen Deutschlands gearbeitet.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Sie sagen, Sie hätten sich der Probleme der demographischen Entwicklung angenommen, Sie hätten erkannt, dass die Sozialstaatsreformen notwendig sind. Wir wollen aber nicht vergessen, dass der demographische Faktor in der letzten Legislaturperiode der alten Regierung in das Rentensystem eingeführt worden ist, doch abermals waren Sie es, die blockiert haben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

   Wir wollen auch nicht vergessen, wie es bei den Arbeitsmarktreformen zugegangen ist. Sie sagen, Sie müssten heute durchfechten, dass es zu einer Vereinfachung und Liberalisierung auf dem Arbeitsmarkt kommt. Dort, wo Sie das tun, haben Sie unsere Unterstützung. Wir weisen aber darauf hin: Das war alles längst beschlossen und Gesetz. Wenn das Trio Schröder, Eichel und Lafontaine damals anders gehandelt hätte, hätten heute Hunderttausende von Arbeitslosen Arbeit. Das möchte ich an dieser Stelle festhalten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Mark (SPD): Er wird nicht einmal rot dabei!)

   Ich habe mich schon gewundert, dass Sie, als Sie über die Sozialstaatsreformen sprachen, uns und nicht die Mitglieder der Regierungsfraktionen angeschaut haben. Uns müssen Sie doch nicht erzählen, dass angebotene Arbeit auch angenommen werden muss. Uns müssen Sie doch nicht erzählen, dass sich Leistung wieder lohnen muss.

(Jörg Tauss (SPD): Doch, doch! Ihnen schon!)

Sie müssen uns doch nicht erzählen, dass Demonstrationen, wenn sie von Demagogen von der PDS aufgehetzt werden, in die falsche Richtung weisen. Auch ich kritisiere das, was Herr Milbradt dazu gesagt hat, aber wir wollen doch festhalten, dass bei diesen Montagsdemonstrationen die PDS vorne mitläuft. Das ist Ihr Koalitionspartner, nicht unserer!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   An der Spitze dieser Montagsdemonstrationen steht doch kein Freidemokrat und hält wie am letzten Montag die Rede, sondern es war Ihr Genosse, Ihr früherer Parteivorsitzender Oskar Lafontaine, der dort gesprochen hat. In den Reihen der Montagsdemonstrationen gehen doch keine Freidemokraten und unterstützen auch noch diejenigen, die dort aufhetzen. In Wahrheit ist es doch so, dass Herr Ströbele und Herr Bsirske von den Grünen dort demonstrieren. Das ist der Grund, warum Ihnen die Leute weglaufen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wollen wir hier einmal wiedergeben, wer von Ihnen sich wie – über das Verständnis, das man für jemanden, der in Sorge ist und demonstriert, haben muss, hinaus – geäußert hat? Wollen wir das allen Ernstes wiedergeben? Alles, was an marktwirtschaftlichen Reformen im Deutschen Bundestag und im Dezember im Vermittlungsverfahren beschlossen worden ist, ist von uns befördert und immer wieder verteidigt worden.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch die Apotheken?)

   Das Problem ist, dass Ihre eigenen Leute permanent mit neuen Vorschlägen kommen; übrigens auch der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Thierse. Es sind doch Ihre Leute, die die Stimmung machen und die meinen, sie könnten damit für sich selbst einen Vorteil erreichen. Das wollen wir an dieser Stelle einmal festhalten.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Der Präsident!)

– Ich habe den stellvertretenden Parteivorsitzenden angesprochen; das ist erlaubt.

   Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das nächste Problem ist, dass Sie gar keine Linie haben. Sie meinen, Sie bekämen Widerstand in der Bevölkerung, weil Sie Reformen durchsetzen. Sie bekommen Widerstand, weil Sie keine verlässliche Politik machen. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wie ist es denn abgelaufen? Sechs Jahre lang gab es keine einzige Klausur. Jetzt jagt eine die nächste. Angefangen haben Sie Anfang des Jahres, im Januar, mit einer Klausur der Bundestagsfraktion der Sozialdemokraten. Daher kommt der berühmte Satz der Bundeskanzlers – damals war er noch SPD-Vorsitzender –: Das Jahr 2004 muss ein Jahr der Innovation werden.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die einzige Innovation, die stattgefunden hat, ist die, dass mittlerweile Herr Müntefering der alten Tante SPD die Rheumadecke auflegen kann. Das ist Ihre Innovation.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Was ist mit dem, was in der Bildungspolitik, in der Forschungspolitik und der Wissenschaftspolitik stattfinden müsste? Wohin sind Sie denn da? Weggetaucht?

(Jörg Tauss (SPD): Bitte? Eine Frechheit!)

– Herr Tauss, in jedem Raum ist einer der Dümmste, aber melden Sie sich doch nicht freiwillig.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Der redet doch gerade!)

   Meine sehr geehrten Damen und Herren, Frau Bulmahn hat doch Anfang des Jahres damit angefangen – eine sehr bemerkenswerte Sache –: Mal waren es fünf, mal waren es zehn Eliteuniversitäten. Anfang des Jahres haben wir noch gedacht, wunders was da kommt. Was ist denn aus dem Programm für Eliteuniversitäten geworden? – Nichts! Vertagt, vertagt, vertagt!

(Jörg Tauss (SPD): Ja, durch wen? – Weiterer Zuruf von der SPD: Durch die Länder!)

Das ist das Entscheidende. Wissen Sie, warum das möglich ist? Das ist in der Tat auch aufgrund föderaler Strukturen möglich, die wir gemeinsam korrigieren wollen. Ich glaube, darüber sind wir uns in diesem Hause einig.

(Beifall bei der FDP)

   Das ist aber auch deshalb möglich, weil Sie keine politische, geistige Meinungsführerschaft mehr ausüben. Sie reden von Eliten, beschließen aber gleichzeitig in diesem Hause ein Verbot von Studiengebühren, das den Universitäten quasi per staatlichem Diktat verbietet, Gebühren zu erheben. Mehr Freiheit ist die Innovation und nicht mehr staatliche Regulierung. Das gilt auch und gerade in der Bildungspolitik.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen)

Dann kam die nächste – eine fabelhafte, hochinteressante – Klausurtagung, die sich mit den Folgen von Hartz beschäftigen sollte. Dort wurde entsprechend nachgebessert. Es dauerte dann keine zwei Tage, bis sich Minister aus Ihrer Bundesregierung mit Herrn Stolpe an der Spitze zu Wort gemeldet und gesagt haben: Es muss aber auch die Nachbesserung wieder nachgebessert werden. Der arme Herr Clement musste seinen Urlaub unterbrechen – mein Mitleid hält sich in Grenzen – und zu dieser Klausur- bzw. Krisensitzung anreisen. Anschließend sagte Herr Stolpe wie auch andere aus Ihrer Koalition, dass das, was zwei Tage zuvor gerade nachgebessert worden war, noch einmal nachgebessert werden muss.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Herr Stolpe ist das von Toll Collect gewohnt!)

   Sie haben in den wesentlichen Bereichen keine Linie. Erst haben Sie die Hartz-Reformen beschlossen. Im Kern ist vieles davon richtig. Dafür haben Sie auch die Unterstützung der Opposition bekommen.

(Jörg Tauss (SPD): Milbradt!)

Dann haben Sie gesagt, es müsse nachgebessert werden, weil die Reformen handwerklich so dilettantisch umgesetzt wurden. Dann kam es zur Nachbesserung der Nachbesserung. Auf der Klausursitzung in Bonn verabschieden Sie sich dann für den Rest der Legislaturperiode von allen weiteren Reformprojekten. Sie verwalten die Krisen, aber Sie gestalten nicht die Zukunft. Das spüren die Menschen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Nun komme ich zu dem, was Sie angesprochen haben, zuerst zur Ausbildungsplatzabgabe.

(Jörg Tauss (SPD): Umlage!)

In Ihrer Agenda-2010-Regierungserklärung hieß es zunächst: keine Ausbildungsplatzabgabe.

(Jörg Tauss (SPD): Umlage!)

Anschließend wurde die Ausbildungsplatzabgabe

(Jörg Tauss (SPD): Umlage!)

von Ihren beiden Parteitagen beschlossen. Nach dem Führungswechsel in der SPD führten Sie dann die Ausbildungsplatzabgabe

(Jörg Tauss (SPD): Umlage!)

ein, damit Herr Müntefering gegenüber den Linken in seiner Partei etwas vorzuweisen hat. Daraufhin nahmen Sie die Ausbildungsplatzabgabe

(Jörg Tauss (SPD): Umlage!)

wieder zurück und sagten, wir bräuchten einen Ausbildungspakt.

(Jörg Tauss (SPD): Pädagogik lebt von wertvollen Wiederholungen!)

   Meine Damen und Herren, die Menschen sind bereit, auch einen harten Weg mitzugehen.

(Zuruf von der SPD: Das wissen Sie doch gar nicht!)

Aber sie wollen ein Ziel haben. Sie wollen wissen, wohin es geht. Sie wollen sehen, dass gerecht und verlässlich vorgegangen wird. Sie sind eine Bundesregierung, die sich verhält wie ein Hase auf der Flucht: Sie schlagen Haken, aber Sie haben keinen Kurs. Das ist Ihr Problem.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   In der letzten Debatte, die hier stattgefunden hat, ging es um das Thema Mindestbesteuerung. Sie haben gesagt, dass wir durch die Wiedervereinigung Europas, über die wir hier gesprochen haben, eine Mindestbesteuerung brauchen. Anschließend wurde eine Reihe von Papieren erarbeitet. Von den Grünen wurde ein Vorschlag zur Vermögensteuer vorgelegt. Mittlerweile haben Sie dazu ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Herr Kuhn fasste es so zusammen, dass Ihre Steuererhöhungspläne in Wahrheit nur mehr Verwaltungskosten, aber gar nicht mehr Steuereinnahmen bringen würden. Daher wurden sie zurückgezogen. Nachdem diese Vorschläge gestern von Ihnen und von Herrn Kuhn zurückgezogen worden sind, sagt am heutigen Tag der Parteivorsitzende der Grünen, Herr Bütikofer: Die Mindestbesteuerung muss kommen und die Instrumente sind die Vermögen- und die Erbschaftsteuer.

   Genau das ist der Fehler, der uns in Deutschland zur Kapitalflucht treibt und den wir bekämpfen müssen. Wir müssen mit immer neuen Steuererhöhungsdiskussionen Schluss machen. Ich nenne noch einmal die Debatten über die Vermögensteuer, die Mindestbesteuerung und die Erbschaftsteuer. Jetzt dreht sich die Diskussion auch um die Mehrwertsteuer. Sie machen immer neue Steuererhöhungsvorschläge. Aber mit Steuererhöhungsvorschlägen treiben Sie die Menschen in Schwarzarbeit und Kapitalflucht. Wir brauchen die Investitionen hier in Deutschland. Deswegen ist ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem das erste Vorhaben, das die Freien Demokraten bei einer Regierungsbeteiligung durchsetzen wollen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es ist richtig, dass wir dabei auch die Sozialstaatsreformen durchsetzen müssen. Wir wissen das. Wir wissen, dass wir Sozialstaatsreformen brauchen.

(Zuruf von der SPD: Nur will das keiner!)

Wer nicht arbeiten kann, dem muss geholfen werden. Wer aber nicht arbeiten will, der kann nicht damit rechnen, dass Familienväter und allein erziehende Mütter abends länger arbeiten, damit er sich einen lauen Lenz machen kann.

(Zuruf von der SPD: Da klatscht doch keiner!)

   Hier geht es um die Frage der Treffsicherheit des Sozialstaates. Wir haben ein anderes Verständnis vom Sozialstaat als Sie.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja, Sie wollen ihn abschaffen!)

Sie sehen darin einen Wohlfahrtsstaat, der zur Beruhigung an alle ein wenig verteilt. Wir wollen einen Sozialstaat, der seine Hilfen auf die wirklich Bedürftigen konzentriert. Das ist der feine Unterschied.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

All Ihre Reformen – ob Agenda 2010, bei der Sie in Wahrheit auf halbem Wege stehen geblieben sind, oder Hartz I bis IV – werden nicht tragen und nicht ausreichen, wenn Sie Ihre Wirtschaftspolitik nicht korrigieren und an die Ihre ganzen Reden drehen sich in Wahrheit im Kern um die Frage: Wie verteilt der Staat an wen etwas am besten? Ein Bundeskanzler in diesen Zeiten müsste hier stehen und müsste sagen: Wachstum schaffen wir durch: erstens, zweitens, drittens, durch folgende Rahmenbedingungen des Staates. Das Wort „Wachstum“ kommt in Ihren Reden überhaupt nicht mehr vor, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das gibt es überhaupt nicht mehr!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie können noch so sehr vorhandene Arbeit durch eine Sozialstaatsreform besser verteilen – und es ist notwendig, dass angebotene Arbeit auch angenommen wird –, Sie müssen aber Ihre Politik ergänzen: durch eine Wirtschaftspolitik, die auf Wachstum setzt. Dazu zählen vor allen Dingen auch die neuen Technologien. Sie sprachen doch selbst von der Innovation. Sie sprechen hier von den Patenten und setzen sie auf Ihre Erfolgsliste, so als ob Sie ein einziges Patent angemeldet hätten.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch primitiv!)

In Wahrheit ist es so, dass Ihre Bundesregierung dazu beiträgt, dass Patente, die in Deutschland angemeldet werden und die hier Arbeitsplätze schaffen könnten, ins Ausland verlagert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Wir haben das doch beim Transrapid als moderner Verkehrstechnologie erlebt: Die Richtlinien der Politik kamen nicht von Herrn Schröder; Herr Trittin hat die Richtlinien bestimmt und der Transrapid durfte hier nicht gebaut werden. Mittlerweile wollen Sie auf jeder Chinareise mindestens einmal im Transrapid fotografiert und gefilmt werden.

   Dasselbe erleben wir jetzt wieder bei der Bio- und Gentechnologie. Es ist doch nicht nur eine ökonomische Frage, es ist doch auch eine moralische und eine ethische Frage. Wenn die Forschung für Bio- und Gentechnologie in Deutschland immer mehr durch die Gesetzgebung, die Frau Künast zu verantworten hat, ins Ausland vertrieben wird, dann gehen uns nicht nur Chancen für Arbeitsplätze verloren, in Wahrheit gehen uns auch Chancen verloren, Krankheiten zu bekämpfen und etwas gegen den Welthunger zu tun. Ihre Blockadehaltung gegen die Grüne Gentechnik, mit der man zum Beispiel schädlingsresistente Pflanzen herstellen kann, sodass man nicht mehr Millionen von Tonnen von Chemie braucht, um in der Dritten Welt Felder zu bearbeiten, diese Ihre Blockade gegen die Grüne Gentechnik hat einen Vorläufer: Ihre Blockade gegen die Rote Gentechnik. Beides ist grottenfalsch. Wer heute moderne Technologien wie Gen- und Biotechnologie blockiert, der verhält sich unmoralisch, weil er nicht seinen Beitrag leistet im Kampf gegen Krankheiten und gegen den Welthunger.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist die Auseinandersetzung, die wir führen wollen und führen müssen.

   Sie haben von der Energie gesprochen. In der Tat ist es richtig, dass die hohen Energiepreise und die Entwicklung, die wir dort haben, uns allen Sorgen machen; das ist gar keine Frage, das wissen wir auch. Ob die Vorschläge aus den Reihen der Union kommen oder von anderen – ich glaube, dass die Vorstellung, man könnte staatlich die Preise festsetzen, zu kurz gedacht ist, um es ganz höflich zu formulieren.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Die Vorschläge kommen nicht von uns! Das wissen Sie!)

– Die kommen nicht von der CDU, ja.

   Auf der anderen Seite, meine sehr geehrten Damen und Herren, will ich Ihnen genauso sagen: Wenn der Bundeskanzler sich hierhin stellt, auf die hohen Energiepreise hinweist und sagt, es fehle ja an Wettbewerb und deswegen sei diese Preisentwicklung gefährlich,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ökosteuer!)

dann weise ich darauf hin, dass es Ihre Bundesregierung, Ihr Staatssekretär Tacke war, der gegen das Votum des Kartellamtes gerade für weniger Wettbewerb auf dem Energiesektor gesorgt hat. Dass dieser Herr Tacke jetzt auch noch zu dem Unternehmen wechselt, das er mit Verwaltungsentscheidungen begünstigt hat, das stinkt zum Himmel, und das werden wir aufklären.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Da sind viele Fragen zu klären; das wissen wir. Sie sprechen von Subventionen, Sie sprechen davon, dass die entsprechenden steuerlichen Ausnahmetatbestände beseitigt werden müssen. Da haben Sie unsere Zustimmung. Wenn Sie hier einfügen, dass Sie das bisher für Subventionen aufgewendete Geld brauchen, um es für Bildung und Innovation auszugeben – einverstanden. Fangen wir doch einmal gleich bei dem an, was am einfachsten geht. Der Bundeskanzler, der hier sagt, wir brauchen diese Gelder, um sie in die Bildung zu stecken, hat vor nicht einmal einem Jahr auf dem Steinkohletag gerade 16 Milliarden Euro an Subventionen zusätzlich zugesagt – für die Verlängerung von Vergangenheit, statt dass man daraus Arbeitsplätze in Forschung, Bildung und Wissenschaft macht.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nichts kommt von Ihnen dazu.

   Jetzt kommen Sie mit Ihrem „Jäger 90“, der Eigenheimzulage. Es ist sehr bemerkenswert, wie Sie an die Eigenheimzulage herangehen. Hermann Otto Solms hat Ihnen das gestern in der Debatte gesagt und wir stehen dazu: Wir sind doch bereit, an die ganzen verschiedenen steuerlichen Ausnahmetatbestände heranzugehen. Wir werden das aber nicht tun, damit Herr Eichel seine selbstverschuldeten Haushaltslöcher stopfen kann. Wenn wir an die steuerlichen Ausnahmetatbestände herangehen, dann müssen die Auswirkungen durch Steuersenkungen eins zu eins an die Steuerzahler weitergegeben werden. Ansonsten ergibt sich keine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage; in Wahrheit ergeben sich dann nämlich nur Steuererhöhungen. Das wäre Gift für die Wirtschaft und brächte noch mehr Arbeitslosigkeit. Das unterscheidet uns.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans Eichel, Bundesminister: So bringen Sie den Haushalt nie in Ordnung! – Volker Kauder (CDU/CSU): Sie auf der Regierungsbank sind bitte ruhig!)

   Sie haben über die Außenpolitik gesprochen. Dies möchte ich mit zwei Bemerkungen aufgreifen. Herr Bundeskanzler, ich glaube, dass wir alle in diesem Hause gestern diese schrecklichen Terrorattentate und diese grausamen Morde an den Kindern in Russland mit derselben Betroffenheit verurteilt haben. Ich glaube, niemand ist irgendeiner anderen Meinung dazu. Jeder ist hier als Mensch tief darüber betroffen. Diejenigen, die Kinder morden, Geiseln nehmen und Unschuldige in den Tod schicken oder mitnehmen, sind keine Freiheitskämpfer, sondern Kriminelle, die zur Verantwortung gezogen werden müssen. Darin sind wir alle uns einig.

   Es geht aber um etwas anderes, nämlich um die Frage, ob der Terrorismus weltweit bekämpft werden kann. Wenn er bekämpft werden kann, dann stellt sich die Frage, wie. Aus unserer Sicht als Oppositionsfraktion kann der Terrorismus in der Welt mit Sicherheit nicht bekämpft werden, indem man bei Menschenrechtsverletzungen schweigt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen sage ich Ihnen und dem Bundesaußenminister hierzu: Sie kritisieren an der amerikanischen Regierung, an Washington, alles – und vieles davon zu Recht. Gleichzeitig an Moskau aber nichts zu kritisieren und die Menschenrechtsverletzungen sowie die mangelnde Rechtsstaatlichkeit zu übersehen,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Allein die fehlende Pressefreiheit!)

das ist eine erschreckende Einäugigkeit in der Außenpolitik, die wir korrigieren werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Das ist unglaublich!)

   Die Menschenrechte sind unteilbar.

   Ich will Ihnen beiden, Herrn Kollegen Glos und Herrn Bundeskanzler Schröder, die Sie bisher gesprochen haben, in einem Punkt widersprechen: Sie beide haben von der Halbzeitbilanz gesprochen. Nein, das ist eine Dreiviertelbilanz; denn in spätestens zwei Jahren ist dieser Spuk nach acht Jahren vorbei.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse:

Lieber Kollege Westerwelle, Sie haben mich persönlich angesprochen. Da ich nicht die Möglichkeit zu einer Kurzintervention habe, andererseits aber ein Interesse daran habe, ein Missverständnis nicht bestehen zu lassen, will ich nur – –

(Volker Kauder (CDU/CSU): Nein, nein! – Michael Glos (CDU/CSU): Sie müssen herunterkommen, Herr Präsident! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Einen Moment. Warten Sie doch ab. Ich will doch nur eine ganz freundliche Bemerkung machen.

(Unruhe – Friedrich Merz (CDU/CSU): Herr Präsident!)

Weil mir daran liegt, möchte ich hier nur darum bitten, dass wir genau dieses Missverständnis in einem persönlichen Gespräch aufklären.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Das ist kein Missverständnis! – Gegenruf von der SPD: Kein Respekt vor dem Amt des Bundestagspräsidenten!)

   Nun erteile ich Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, wir haben in den 20 Minuten, in denen Sie uns angeschrieen haben, versucht, Ihnen zuzuhören.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Sie müssen ein bisschen lauter sprechen! Ich verstehe Sie nicht!)

Ich gebe zu: Wir waren ein bisschen abgelenkt, Herr Westerwelle, weil wir uns als Fans der Muppet Show die ganze Zeit überlegt haben, wer die anderen Besetzungen sind. Ich will das aber nicht weiter ausführen, denn das, was Sie gemacht haben, hat mit dem Ernst der Situation, in der wir uns befinden, nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zu dem, was Sie zum Thema Halbzeit und dazu, dass wir auf dem halben Weg sind, ausgeführt haben, kann ich nur sagen: Sie haben Recht. Wir sind auf dem halben Weg, aber wir werden nicht stehen bleiben, sondern wir müssen weiter gehen. Wir werden das, was wir erreicht haben, nutzen, um darauf aufzubauen.

   Was haben wir in der ersten Halbzeit erreicht? Wir haben bei der Rentenversicherung und bei den Rentenbeiträgen Stabilität erreicht. Ich glaube, dass das ein großer Erfolg ist. Ich halte – ehrlich gesagt – nichts davon, dass Sie in jeder Debatte aufs Neue erklären, Sie hätten ja damals den demographischen Faktor eingeführt. Du meine Güte, ja, Sie haben den demographischen Faktor eingeführt und er hätte zu weit höheren Rentenbeiträgen geführt, als wir sie heute tatsächlich haben. Auch das gehört zur Erkenntnis der Realität.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Sie profilieren sich immer dann, wenn es um Steuern geht. Die Bilanz Ihrer Regierungsbeteiligung ist ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent und ein Eingangssteuersatz von 25 Prozent.

(Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir alles schon erörtert!)

In dem Fall kann man sich hier nicht hinstellen und ständig hervorheben, wie toll man es gemacht hat.

   Lassen Sie mich auf noch etwas hinweisen: Ich habe die Debatte zu den Haushaltsberatungen ganz intensiv verfolgt und habe auf das gewartet, was die Union zum Thema Steuern sagt. Dabei fällt mir ein, dass ich letztes Jahr zu Weihnachten, am 24. Dezember, in der „Bild“-Zeitung gelesen habe, dass Herr Merz damals erklärte: Bis zum Sommer legen wir ein neues Steuerkonzept vor.

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Im Sommer 2020 vielleicht!)

– Inzwischen ist der Sommer vorbei, Herr Merz. Ich frage mich, wo jetzt die Steuerehrlichkeit der Union geblieben ist. Ich kann Ihnen sagen, wo sie geblieben ist. Ihre Ideen zu Steuersenkungen sind bei all dem verschwunden, was im Zusammenhang mit der Kopfpauschale an Finanzierungs- und Steuerlöchern entstanden ist. Genau das ist Ihr Problem.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wenn wir über Ihre weiterführenden Ideen zur Gesundheitspolitik reden – bei der Gebisspauschale sind Sie gerade dabei, sich aus dem Staub zu machen –, dann stellt man fest, dass Sie eines nicht geschafft haben. Sie haben ein Konzept vorgelegt, es mit großem Tamtam verabschiedet und sich dafür bejubeln lassen. Dann haben Sie gesagt: Die Sache mit dem Sozialausgleich machen wir später. Ich frage mich, wann später ist. Herr Seehofer hat ausgerechnet, dass 60 Milliarden Euro fehlen. Diese 60 Milliarden Euro haben Sie noch immer nicht finanziert. Wie wollen Sie es denn machen? Mit Steuererhöhungen? Oder erklären Sie irgendwann, dass die Sache mit dem Sozialausgleich nicht mehr wichtig ist? Ich habe das Gefühl, dass Sie zuerst die Gebisspauschale aus dem Konzept herausgenommen haben, um dann die Kopfprämie hinterherzuwerfen. Vor allem eines ist klar: Mit sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und einem stabilen System hat all das gar nichts mehr zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Wir haben eine Gesundheitsreform gemacht. Sie hat Erfolge gezeigt, wenn man davon absieht, dass die Klientelpartei FDP verhindert hat, dass es bei den Apotheken wirkliche Konkurrenz gibt. Immerhin bestehen heute 800 Versandapotheken. Da tut sich was beim Wettbewerb. Trotzdem sind wir hier noch lange nicht fertig. Wir werden weitermachen müssen. Deswegen sagen wir ganz klar: Wir wollen die Bürgerversicherung. Aus welchen Gründen? Erstens. Die Bürgerversicherung ist dafür da, eine Antwort auf das demographische Problem zu geben, das im Gesundheitssystem immer deutlicher wird.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Eine reine Zwangsveranstaltung!)

   Wir wollen eine Versicherung für alle und keine Einheitskasse. Das ist ein Unterschied. Wir wollen mehr Wettbewerb zwischen den Kassen, aber auch mehr Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern. Ohne das wird es nicht gehen. Wettbewerb im System muss sein. Sie werden darauf verzichten müssen, immer ein schönes Gärtchen um diejenigen zu bauen, von denen Sie hoffen, gewählt zu werden.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

Zweitens. Wir wollen, dass die Solidarität zwischen allen stattfindet, nicht nur zwischen denen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben müssen. Auch darauf wird es ankommen; denn wir müssen die reale Lebenssituation in der Zukunft berücksichtigen. Die Menschen werden nicht mehr mit 18 Jahren die Ausbildung abschließen und dann immer bei VW arbeiten. Nein, wir werden eine andere Situation haben: Die Menschen werden eine Zeit lang abhängig beschäftigt sein und dann vielleicht selbstständig tätig oder auch einmal Beamter sein. Sie werden in ihrem Leben in Zukunft hoffentlich sehr viele Berufe ausüben, in Anstellungsverhältnissen und als Selbstständige. Genau deswegen brauchen wir die Bürgerversicherung. Sie gibt den Menschen auch in diesen Situationen, mit der neuen Flexibilität, die wir wollen und brauchen, Sicherheit. Bürgerversicherung heißt eben auch: eine Versicherung für alle. Darauf kommt es uns an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Glos, Sie haben hier heute Morgen in Ihrem sehr bewegenden Auftritt – ich weiß nicht, warum Frau Merkel uns das immer gönnt – gesagt, die Grünen seien in einem Luxushotel gewesen. Ich kann Ihnen das Hotel sehr empfehlen, weil es einen sehr guten Service bietet, aber ein Luxushotel ist es nicht.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Jetzt macht sie auch noch das Hotel herunter! Das ist geschäftsschädigend!)

Es zeigt aber eines, Herr Glos: Wir sind nach Bad Saarow in Ostdeutschland gefahren und haben dort Erfahrungen sammeln können, die Sie wahrscheinlich nie machen werden, weil Sie mit der Realität in Ostdeutschland eben leider nichts zu tun haben. Das gilt übrigens auch für Herrn Westerwelle, der hier wieder von denen geredet hat, die nicht arbeiten wollen und sich einen lauen Lenz machen. Erzählen Sie das einmal auf einer dieser Demonstrationen in Ostdeutschland! Das ist menschenverachtend gegenüber denjenigen, die 250 und 300 Bewerbungen geschrieben und eben keinen Job gefunden haben, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Die hat er aber auch nicht gemeint!)

   Natürlich gehen viele Menschen in Ostdeutschland heute auf die Straße, weil sie verunsichert sind, weil sie berechtigte Ängste haben. Das müssen wir ernst nehmen und wir müssen genau hinhören.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir genau hinhören, werden wir feststellen: Das Gesetz ist richtig und wir müssen es nicht verändern. Aber wir müssen bei der Umsetzung darauf achten, dass das Fördern tatsächlich die zentrale Rolle spielt.

   Auf der anderen Seite sollten wir aber nicht verkennen, was die Populisten dieser Republik machen. Zu denen gehören Gysi, Lafontaine und Bisky, aber es gehören auch Leute dazu wie Herr Milbradt und viele andere dazu, die erst Ängste schüren und sie dann gern wieder nehmen. Dass dieser Populismus auf dem Rücken der Leute, die wirklich berechtigte Sorge haben, ausgetragen wird, können wir nicht akzeptieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Man muss sich auch anschauen, wie Sie versuchen, darunter durchzutauchen, Frau Merkel. Herr Milbradt ist ja keine Ausnahme. Am Sonntagabend kam Herr Seehofer zu mir und sagte: Ich verstehe überhaupt nicht, dass man jetzt weniger dazuverdienen kann als früher. Dazu sage ich nur: Guten Morgen! Wann haben Sie eigentlich einmal für das geworben, was wir mit Hartz IV umsetzen? Schließlich haben Sie dem zugestimmt und wollten gerade für den Zuverdienst noch schärfere Bedingungen.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Was besprechen Sie denn Sonntagabend mit Herrn Seehofer?)

   Herr Milbradt ist keine Ausnahme. Herr Milbradt kommt mir manchmal vor wie der Sprecher der ostdeutschen CDU-Landräte, die überall sagen: Was da gemacht wird, ist ja furchtbar. Dabei ist es das, was Sie im Vermittlungsausschuss mit beschlossen haben und was Sie noch sehr viel schärfer haben wollten. Also stehen Sie, verdammt noch mal, jetzt auch dazu und tauchen Sie nicht drunter weg! Das wird die Glaubwürdigkeit dieser Politik nicht bereichern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Was sagt denn Herr Müller über Sie?)

Ich will aber auch etwas zu denen sagen, die heute von einer neuen Spaltung zwischen Ost und West reden. Wir werden in den nächsten Jahren 156 Milliarden Euro – darin sind die Kosten für die Sozialversicherungen nicht enthalten – nach Ostdeutschland transferieren. Das ist richtig so und darauf können wir wirklich stolz sein. Wir werden uns mit der Frage zu beschäftigen haben, was wir eigentlich mit diesem Geld machen wollen und wohin es investiert wird. Wir haben sehr viel in Straßen investiert, wir haben ein tolles Telekommunikationsnetz. Ich glaube, jetzt ist das an der Reihe, was man gemeinhin weiche Infrastrukturfaktoren nennt; denn derjenige, der will, dass sich Unternehmen ansiedeln, muss für eine entsprechende Umgebung sorgen.

   Wer heute von einer neuen Spaltung zwischen Ost und West redet, der tut denen Unrecht, die ganz bewusst, mit großer Anstrengung, mit viel Kraft und mit viel Engagement in diesem gemeinsamen Deutschland angekommen sind. Gerade die jungen Leute, die Unternehmen gegründet haben und die sich engagieren, nenne ich in diesem Zusammenhang. Ich möchte, dass wir nicht von einer Spaltung zwischen Ost und West reden und dass wir nicht solche Tendenzen schüren. Wir sollten vielmehr sagen: Wir sind ein gemeinsames Land und darauf sind wir stolz. Wir können auch sagen: Wir werden ohnehin nicht voneinander loskommen.

   Das Wichtigste ist, dass wir uns darüber freuen und dass wir gemeinsam auf das stolz sind, was wir erreicht haben, dass wir stolz auf die Städte in Ostdeutschland sind, die man besichtigen kann und in denen viel geschafft worden ist, und dass wir auf eine ganze Reihe von Unternehmen stolz sind. Schauen Sie sich Multicar an, ein kleines Unternehmen in der Nähe von Gotha. Dieses hat inzwischen nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch im Ausland einen gigantischen Absatz. Es hat auch den Mungo produziert, den die deutsche Bundeswehr gerade für die Einsätze, die auf dem Balkan stattfinden, braucht. Natürlich könnten wir auf das stolz sein, was wir gemeinsam geschafft haben. Ich finde, das sollten wir auch. Auch als Politiker sollten wir nicht versuchen, auf der einen Seite aufzuwiegeln und auf der anderen Seite zu beruhigen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Worauf könnten wir noch stolz sein? Wir könnten uns einmal die Wachstumsbranchen ansehen, die wir haben. Die zentralen Wachstumsbranchen gerade in Ostdeutschland sind alle die, die etwas mit Umwelttechnologie zu tun haben. Arbeitsplätze in Magdeburg, in Lauchhammer und in Erfurt sind durch den Push für die erneuerbaren Energien überhaupt erst entstanden. Das ist der erste Arbeitsmarkt. Herr Westerwelle, auch das ist Wachstum, wenn es auch nicht das Wachstum ist, das Ihnen gefällt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Natürlich wird man an der Stelle nicht daran vorbeikommen – das will ich auch nicht –, etwas über die Energiepreise zu sagen, weil man den Eindruck haben muss, dass jemand mit fadenscheinigen Begründungen noch schnell etwas beiseite schaffen will, und zwar auf Kosten der Wirtschaft und auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das ist nicht akzeptabel. Wenn man sich diese Situation anschaut, dann erinnert man sich auch an andere Fragen, die damit zusammenhängen. Ich meine die Managergehälter in Deutschland, die endlich transparent werden müssen, weil auch das zur Ehrlichkeit in einer Gesellschaft gehört.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wenn wir schon dabei sind, dann will ich sagen, dass ich persönlich das Gefühl habe, dass es einer solchen Stimmung nicht zuträglich ist, wenn man den Eindruck hat, dass die Grenzen zwischen Wirtschaft und Politik nicht mehr ganz klar sind. Ich bin dafür, dass wir von der Wirtschaft in die Politik wechseln können und umgekehrt. Das ist richtig und das kann auch gut sein. Aber wenn man den Eindruck haben muss, dass eine Hand die andere wäscht, sollten wir uns selber fragen, ob das richtig ist, ob das gut ist und welche Diskussion darüber wir brauchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Ich habe über die Erfolge der Umweltpolitik geredet. Wir haben aber auch noch viel vor uns. Die Strategie „weg vom Öl“ wird in Zukunft die zentrale Aufgabe sein. Sie wird uns ökonomisch unabhängiger machen und sie ist zentral für die außenpolitische Sicherheit. Der Zugang zu Ressourcen spielt übrigens auch eine immer größere Rolle im Kaukasuskonflikt. Der Zugang zum Öl wird eine wichtige Rolle bei vielen internationalen Themen spielen.

Was in Russland geschehen ist, ist ein Verbrechen, das keinerlei Rechtfertigung hat. Die Terroristen, die diese Verbrechen begangen haben, sind bestimmt keine Menschen, mit denen man verhandeln kann. Darin stimme ich dem Bundeskanzler zu. Ich stimme auch der Feststellung des Bundeskanzlers zu, dass wir eine politische Lösung brauchen. Für eine politische Lösung ist es notwendig, dass wir ehrlich sagen, dass die so genannte Politik mit unerbittlicher Härte und die dafür eingesetzten Instrumente einer Überprüfung bedürfen. Ich glaube, dass wir das so ehrlich und klar feststellen können und dies unter Freunden auch tun sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD))

   Der Einsatz für die politische Lösung wird ein sehr schwieriger Weg sein, weil die Spirale der Gewalt auch eine Spirale der Hoffnungslosigkeit ist. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Dem Terrorismus wird man nur die Zivilisation entgegensetzen können. Das ist – das gilt auch für uns – die zentrale sicherheitspolitische Frage, auf die es ankommt.

   Weil wir uns in den Haushaltsberatungen befinden, muss ich hinzufügen, dass sich in der Perspektive – das gilt nicht nur für diesen Haushalt, sondern wir müssen auch weiterdenken – das, worauf es uns ankommt, nämlich Multilateralität, Einhaltung der Menschenrechte und weltweite Entwicklung, irgendwann einmal viel klarer als bisher in unserem Haushalt wiederfinden muss. Dafür muss man nämlich auch Geld ausgeben. Wir müssen in Zukunft mehr Geld in den Bereichen Entwicklungshilfe, Außenpolitik und auch Verteidigung ausgeben. Daran werden wir nicht vorbeikommen. Ich glaube, das ist eine gemeinsame Aufgabe, die sich uns in den nächsten Jahren noch viel drängender stellen wird, als es derzeit der Fall ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich will noch etwas ansprechen, Frau Merkel, das Sie mit aller Kraft zu verhindern suchen, was Ihnen aber nicht gelingen wird. Dabei handelt es sich um die Frage des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. Ich glaube, Sie haben nicht bedacht, dass Sie für einen innenpolitischen Benefit dafür sorgen, dass wir zentrale Sicherheitsfragen aus den Augen verlieren. Ich glaube, Sie haben auch nicht bedacht, dass die Wirtschaft in Deutschland – Sie können mit jedem Wirtschaftsführer reden – für den Beitritt der Türkei ist. Ich glaube, Sie haben nicht bedacht,

(Michael Glos (CDU/CSU): Lassen Sie sie mal in Ruhe!)

dass alles dafür getan wird, dass sich die Türkei entwickelt, und dass sorgfältig auf die Einhaltung der Menschenrechte geachtet wird.

(Michael Glos (CDU/CSU): Das glauben Sie doch selber nicht! Bleiben Sie bei der Wahrheit!)

Günter Verheugen widmet sich in diesen Tagen dieser Aufgabe vorbildlich.

   Ich glaube, Sie haben auch nicht bedacht, dass die Türkinnen und Türken, die in unserem Land leben, sehr viel zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Ich würde Sie gerne auffordern, langsam umzudenken; denn wir brauchen die Erweiterung der Union und wir brauchen auch aus Sicherheitsgründen den Beitritt der Türkei. Das ist ein positives Signal, das wir – auch zugunsten der eigenen Verlässlichkeit – senden sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Angesichts dessen, was vor uns liegt, werden wir uns auch weiterhin mit Fragen des Arbeitsmarkts beschäftigen müssen. Ich möchte, dass das Fördern Wirklichkeit wird und dass wir uns nicht – auch nicht ab dem 1. Januar – zurücklehnen und meinen, das werde schon irgendwie klappen. Vielmehr hat jeder Einzelne seine Aufgaben zu leisten. Das gilt sowohl für die Kommunen als auch für die Wohlfahrtsverbände und die Politik.

   Ich möchte, dass es nicht zur Bildung einer immer größeren Schicht von Menschen kommt, die außen vor bleiben. Hartz IV ist die Antwort darauf. Es geht darum, diesen Menschen eine Chance zu bieten, sich wieder einzubringen, indem jeder ein Angebot bekommt. In diesem Sinne bedeutet Fördern auch, die Kommunen auf Vordermann zu bringen.

   Ich will erreichen, dass die Kinder der heutigen Sozialhilfeempfänger, denen es übrigens in Zukunft allen besser gehen wird – ich meine, das könnten Sie von der Union akzeptieren und auch deutlich machen; denn diesen Erfolg haben wir mit der Reform erreicht –,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

in Zukunft sagen können: „Mein Papa ist jetzt Trainer im Sportverein“ oder „Meine Mama restauriert jetzt Kirchen“. Ich will auch erreichen, dass die Stadtteilbibliotheken und Schwimmbäder geöffnet bleiben, statt zu schließen. All das sind Chancen, die mit Hartz IV verbunden sind. Das gilt übrigens auch und ganz besonders für Ostdeutschland. Es geht darum, dass jeder einen Platz in der Gesellschaft hat. Wir dürfen nicht sagen: Was du machst, ist uns eigentlich egal. Du bleibst außen vor. – Alle sollen dabei sein und mitmachen können. Jeder muss auch mitmachen. Ich bin ganz sicher, dass das eine große Chance für unsere Gesellschaft ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Weitere Chancen bietet die älter werdende Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir sie nutzen. Wir müssen sicherlich über die Auswirkungen der demographischen Entwicklung, insbesondere der Geburtenraten – darauf werde ich noch ausführlicher eingehen –, auf die Sozialsysteme, insbesondere auf die Pflegeversicherung, und auf unser „ganz normales“ Leben reden. Aber ich bin froh, dass wir einen Diskussionsprozess anstoßen werden, in dessen Mittelpunkt die Fragen stehen werden, wie wir den Pflegebereich angesichts einer älter werdenden Gesellschaft gestalten wollen, wie es um Wohnen, Bildung und Dienstleistungen in einer älter werdenden Gesellschaft bestellt ist; denn wir dürfen nicht vergessen, dass in diesem Zusammenhang auch Arbeitsplätze entstehen. Ein Beispiel – darauf habe ich schon hingewiesen –: Meine Wahlheimat Weimar gehört zu den wenigen Städten, in denen der Zuzug höher ist als die Abwanderung. 500 vorwiegend ältere Menschen ziehen jedes Jahr nach Weimar, weil sie es schön finden, dort alt zu werden, wo Goethe einst gelebt hat. Das bietet auch eine Chance für Jüngere; denn dadurch sind sehr viele Arbeitsplätze in sehr vielen Bereichen, vor allem im Dienstleistungsbereich, entstanden. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine älter werdende Gesellschaft auch Jüngeren Chancen und Arbeitsplätze bietet.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wenn man über neue Arbeitsplätze redet, dann kommt man an dem Thema Innovationen nicht vorbei. Sie haben Recht – das sollte man ehrlicherweise zugeben –: Wir sind mit unserem ersten Anlauf im Bereich der Innovationen nicht so weit gekommen, wie wir wollten, weil andere Dinge wichtiger waren. Aber das bedeutet nicht, dass wir keinen zweiten Anlauf nehmen werden. Bildung und Forschung müssen die zentralen Themen bleiben, wenn Deutschland wettbewerbsfähig bleiben soll. Deswegen müssen wir uns hier anstrengen – das tun wir auch – und alle müssen mitmachen. Wir haben dafür gesorgt, dass Professoren nach ihrer Leistung bezahlt werden können. Alle strengen sich offenbar an, bis auf das Land Bayern, das keine entsprechenden Neuregelungen erlassen hat. Aber in allen anderen Bundesländern sind inzwischen Gesetze in Kraft, die diese Möglichkeit eröffnen. Natürlich kommt es ebenfalls darauf an, dass wir Geld in die Hand nehmen, damit aus klugen Erfindungen Produkte werden, mit denen man Geld verdienen kann. Wir müssen im zweiten Anlauf versuchen, das zu erreichen. Aber das ist nicht alles.

   Wir müssen auch Geld in die Hand nehmen, damit das, was Lenin einmal richtigerweise gesagt hat – lernen, lernen und nochmals lernen –, real wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas sagen, das nichts mit dem Bundeshaushalt zu tun hat. Bis 2008 beträgt das Volumen der Eigenheimzulage etwas über 6 Milliarden Euro. Natürlich können Bund und Länder jeweils 3 Milliarden Euro dafür ausgeben. Aber die Länder könnten mit ihrem Anteil bis 2008 auch 50 000 neue Stellen für Lehrerinnen und Lehrer schaffen. Ich finde, es wäre ein gutes Signal, wenn wir das gemeinsam schaffen könnten. Wir wollen, dass die Lehrerinnen und Lehrer an Schulen arbeiten können, die qualitativ gut sind, die ein Lebensort sind und die allen und nicht nur denjenigen Kindern helfen, die im dreigliedrigen Schulsystem sowieso die besten Chancen haben, weil ihre Eltern ein dickes Portemonnaie haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Noch ein Wort zu dem Vorschlag der FDP, durch Streichung der Eigenheimzulage Steuersenkungen zu finanzieren: Ich sage Ihnen ganz offen, dass dies denjenigen Eltern, die die meisten Kinder haben und deren Einkommen sich am unteren Rand bewegen, leider nichts nutzen wird. Es geht vielmehr darum, dass alle Kinder eine gute Ausbildung bekommen und dass Bildung nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt. Mir leuchtet es nicht ein, dass es richtig sein soll, dass auf der einen Seite die Kinder der Gutverdienenden mit Bobby Cars durch die Wintergärten der Vorstadtvillen fahren und dass auf der anderen Seite die Chance nicht genutzt wird, eine gute Schule für alle zu schaffen. Auf Letzteres kommt es an. 50 000 neue Stellen für Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland wären eine echte Innovation und ein Schritt auf dem Weg zu einer Bildungsrevolution.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Weil ich der Auffassung bin, dass wir die Probleme dort, wo sie auftreten, anpacken sollten, sage ich: Die Idee von Renate Schmidt, ein Elterngeld einzuführen, ist richtig. Dazu gibt es viel Kritik – auch bei uns, in den eigenen Reihen –, weil sich natürlich die Frage stellt, ob das gerecht ist. Ich sage: Ja, das ist gerecht. Man kann sich natürlich auch zurücklehnen und sagen: Gut, wenn die Akademikerinnen keine Kinder mehr bekommen, dann müssen eben mehr Kinder aus Sozialhilfefamilien und mehr Arbeiterkinder Akademiker werden. Auch das ist richtig und dafür muss man sorgen, zum Beispiel durch das, was ich vorhin angesprochen habe, nämlich durch die Verbesserung unserer Schulen.

   Aber es ist eben auch richtig, dass sich 40 Prozent der Akademikerinnen heute entgegen ihren eigenen Wünschen nicht für Kinder entscheiden. Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste Antwort heißt: Kinderbetreuung. Dafür tun wir etwas und dafür müssen wir etwas tun. Die zweite Antwort soll aus meiner Sicht heißen: ein einkommensabhängiges Elterngeld. Dieses einkommensabhängige Elterngeld kann dazu führen, dass der Schritt, sich für das erste Kind zu entscheiden, leichter wird. Ich finde, wir sollten dazu beitragen.

   Wir sollten übrigens auch dafür sorgen, dass die Väter ihren Anteil tragen. Sie reden ja immer gern davon, wie schön es ist und wie viel Spaß es macht, Kinder zu haben. Ladys, sagt den Jungs: Es ist nicht nur schön, es macht nicht nur Spaß, sondern es rechnet sich auch. Dafür ist das Elterngeld gut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich komme zum Schluss. Frau Merkel – wir alle haben lange auf Ihre Rede gewartet –,

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) – Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Schön!)

Sie haben sich im letzten Jahr zu verantwortungsbewusster und verantwortungsvoller Politik geäußert. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Sie haben dazu einen Anlauf genommen und manches ist gemeinsam auf den Weg gebracht worden. Sie haben Anläufe genommen, um Gesetze mit zu beschließen, und das war gut so. Aber die Anläufe, die Sie genommen haben, um am Ende auch zu einer verantwortungsvollen Politik zu stehen, sind leider gescheitert. Ich bedauere das sehr.

   Es gibt noch einen, der das sehr bedauert: Kurt Biedenkopf. Er sagt: Wichtig ist, dass die verantwortlichen Politiker zu dem stehen, was sie für richtig halten. Sie haben die Reformen mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen. Sie haben sie nach langen Beratungen im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat gebilligt. Jetzt müssen Sie auch vertreten, was sie beschlossen haben. – Sagen Sie das Herrn Milbradt! Sagen Sie das den CDU–Landräten! Sagen Sie das Herrn Rüttgers! Sagen Sie das allen anderen, die heute auf der Straße herumlaufen und verkünden: Irgendwie war es doch nicht so gemeint! Wer eine verantwortungsvolle Politik machen will, wer verantwortungsvolle Opposition machen will, der ist in der Pflicht, diese Verantwortung bis zum Ende mitzutragen;

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ganz ruhig bleiben!)

sonst ist er nicht glaubwürdig. Die Frage der Glaubwürdigkeit wird im Jahre 2006 entscheidend sein, und zwar – ich bin ganz sicher – nicht zu Ihren Gunsten.

   Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt die Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Frau Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))

Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind in der Mitte dieser Legislaturperiode. Das ist die Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen. An einem solchen Tag, Herr Bundeskanzler, muss man den Realitäten schon ins Auge blicken. Sie haben vor zwei Jahren in Ihrer Regierungserklärung gesagt – ich zitiere –:

Das Ziel unseres Weges ist klar: ein Leben reicher an Chancen, reicher an Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsformen, reicher an Dienstleistungen und Märkten, reicher an Zukunftshoffnungen sowie an Kultur und Sicherheit, aber durchaus auch reicher an Einkommen und Vermögen für alle.

In der Tat, Herr Bundeskanzler, sind die meisten Menschen in Deutschland reicher geworden: reicher an Enttäuschungen über gebrochene Versprechen, reicher an bitteren Erfahrungen über Tricksereien in der Arbeitslosenstatistik, über Neuverschuldung jenseits der Verfassungsgrenze, über Pleiterekorde, über fehlende Ausbildungsplätze, über zunehmende Bürokratie.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Frau Merkel, das 100-Milliarden-Euro-Missverständnis!)

Die Menschen in diesem Land sind auch ärmer geworden: ärmer an Hoffnung in eine Politik aus einem Guss durch diese Bundesregierung und – das ist vielleicht das Bedrückendste – ärmer an Vertrauen in die Gestaltungskraft der Politik insgesamt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das ist die Halbzeitbilanz und das ist die Bilanz nach sechs Jahren Rot-Grün.

(Joachim Poß (SPD): Jetzt sagen Sie etwas zu den 100 Milliarden!)

   Das Debakel wird komplett, wenn Sie selbst – Sie selbst! – Ihre Politik als schlimm bezeichnen. Ja, Sie bezeichnen sie als schlimm. Oder wie soll man es verstehen, wenn Sie sagen, mit der Union würde es noch schlimmer? So etwas kann nur sagen, wer seine eigene Politik als schlimm bezeichnet, meine Damen und Herren.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Sie sind das große 100-Milliarden-Missverständnis!)

   Was kann das sein? Ist es vielleicht die raffinierte Umsetzung und Weiterentwicklung des lafontaineschen Satzes auf dem legendären Mannheimer Parteitag, der da lautet: „Nur wer sich selbst begeistert, kann andere begeistern“? Ist das, was Sie da betreiben, sozusagen Negativstimulierung: schlimm, schlimmer, am schlimmsten? Wie wollen Sie die Menschen in diesem Land von etwas begeistern, was Sie selber als schlimm bezeichnen, und mitnehmen? Das geht nicht!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Viele sehen die Widersprüchlichkeiten und wissen überhaupt nicht, mit wem sie es nun zu tun haben, mit Schröder, mit Müntefering, mit Clement oder mit Maas, mit Steinbrück oder mit Platzeck;

(Lothar Mark (SPD): Die können die Konkurrenz mit Ihnen aufnehmen!)

vielleicht gibt es immer noch ein ganz kleines bisschen Lafontaine als Restversicherung.

   Herr Bundeskanzler, Sie sitzen bei der Klausurtagung. Sie verteidigen überall tapfer, dass das Arbeitslosengeld II in Ost und West unterschiedlich ist. Dann ist es Sonntag und Ihr Minister für den Aufbau Ost wirbt dafür, dass man es in Ost und West doch eigentlich auch wieder gleichmachen könnte.

   Herr Bundeskanzler, schauen Sie sich einmal die sächsischen Landtagsabgeordneten der Sozialdemokratie an, zum Beispiel Herrn Karl Nolle. Herr Karl Nolle war es, der gesagt hat: Es wird mit Hartz IV zu Massenumsiedlungen in leer stehende unsanierte Plattenbauten kommen, Armenghettos werden entstehen, ein sozialpolitischer Super-GAU. Das ist die Werbekampagne der sächsischen SPD für Hartz IV. Sie haben Ihren Laden einfach nicht im Griff, meine Damen und Herren! Das ist die Wahrheit und das kommt zum Tragen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Sie haben es im Griff, vor allem Herrn Stoiber haben Sie im Griff! – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wo ist denn der Tauss mit Zwischenrufen? Tauss ist nicht da!)

   Wie wollen Sie den Menschen denn erklären, dass Sie jahrelang mangelndes Wachstum mit schwächelnder Weltkonjunktur begründet haben, dann aber, wenn die Weltwirtschaft boomt, die Realeinkommen in Deutschland trotzdem nicht steigen? Unser Land wird doch in der Liste des Pro-Kopf-Volkseinkommens heruntergereicht. Dafür haben Sie Entschuldigungen, aber Sie können es nicht erklären.

   Es ist doch richtig – Herr Eichel hat gestern darauf hingewiesen und Sie haben es auch getan –: Wir alle freuen uns darüber, dass Deutschland Exportweltmeister ist.

(Lothar Mark (SPD): Aber Sie reden es trotzdem herunter!)

Wir alle profitieren davon. Aber es ist ganz offensichtlich, dass das allein nicht ausreicht. Wir müssen es schaffen, die Binnenkonjunktur wieder in Gang zu bringen und auch intern Wachstum zu haben. Da mangelt es. Darüber sagen Sie kein einziges Wort, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Seit sechs Jahren reden Sie nun Jahr für Jahr davon, dass sich im nächsten Jahr die Beschäftigungssituation mit Sicherheit verändern wird, dass auch in der Beschäftigungsstatistik der Aufschwung sichtbar wird. In den vergangenen 731 Tagen, seit die Hartz-Veranstaltung im Französischen Dom stattfand, sind in Deutschland jeden Tag 1 547 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen. Diese Widersprüche kennen die Menschen.

   Wie wollen Sie den Menschen erklären, dass Sie jedes Jahr hoch und heilig versprechen, einen Haushalt vorzulegen, der die Maastricht-Kriterien wirklich einhalten wird? Wir haben Jahr für Jahr erlebt, dass nach wenigen Wochen, wenigen Monaten alles, was uns Herr Eichel erzählt – Herrn Eichel war gestern unwohl; man hat es an jeder Faser gesehen –, Makulatur ist. Er hat uns im September 2003, vor einem Jahr, gesagt, die Neuverschuldung werde 24 Milliarden Euro betragen. Er muss heute zugeben, dass es 40 Milliarden Euro sind. Es könnten gut mehr sein. 2002 waren es 30 Milliarden Euro Neuverschuldung, 2003 38 Milliarden Euro, dieses Jahr sind es über 40 Milliarden Euro Neuverschuldung. Wer soll Ihnen überhaupt noch etwas glauben, Herr Bundeskanzler? Das müssen Sie doch verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dieser Mangel an Glaubwürdigkeit, dieses Weghören, weil man es nicht mehr hören kann und weil man weiß, es stimmt nicht, das genau ist Ihr innenpolitisches Dilemma, und zwar Ihr ganz ureigenes rot-grünes innenpolitisches Dilemma.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abg. Petra-Evelyne Merkel (SPD): Sie haben es immer noch nicht verwunden, dass Sie nicht mehr in der Regierung sind! – Waltraud Lehn (SPD): Die lenkt doch nur ab!)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben über die Außenpolitik gesprochen und dabei die richtigen Worte gefunden. Ich möchte deshalb ausdrücklich sagen, wir alle sind entgeistert und entsetzt über das Geiseldrama in Ossetien. Wir alle haben die grauenhaften Bilder von den Kindern, den Eltern und Großeltern gesehen. Ich füge ganz persöhnlich an: Manche Debatte, die wir in diesem Hause führen, relativiert sich angesichts solcher Bilder. Wir sehen natürlich die Herausforderung; dabei gibt es viele Gemeinsamkeiten: Der Terrorismus ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Ich persönlich sage sogar, die Bekämpfung dieser Herausforderung ist schwieriger als die Überwindung des Kalten Krieges, weil wir es nicht mit übersichtlichen Abschreckungsstrukturen, sondern mit Gruppen von fundamentalistischen Kräften zu tun haben, die bereit sind, ihr eigenes Leben bedingungslos aufs Spiel zu setzen, um westliche, offene, demokratische Gesellschaften zu vernichten. Mit dieser Herausforderung müssen wir uns auseinander setzen. Wir wissen, dass jeden diese terroristischen Attacken treffen können. Wir wissen, dass niemand vor ihnen gefeit ist. Deshalb müssen wir uns – keiner hat eine Patentlösung – mit dieser Frage auseinander setzen. Niemand hat etwas dagegen – im Gegenteil –, wenn deutsche Außenpolitik dabei eine wichtige, konstruktive Rolle spielt. Das ist unser aller gemeinsames Anliegen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Aber, Herr Bundeskanzler, den Worten und den internationalen Aktionen müssen natürlich auch Taten folgen. Wenn es richtig ist, dass politische Lösungen gefunden werden müssen, dann ist es auch richtig, dass das Budget für auswärtige Kulturpolitik nicht zum Sparschwein der Nation gemacht werden darf. Dann ist es auch richtig, dass die Situation der Goethe-Institute verbessert werden muss und nicht verschlechtert werden darf. Dann ist es auch richtig, dass die Deutsche Welle, die ein wirklicher Übermittler von Kulturgut ist, nicht jedes Jahr um ihren Etat bangen muss. Es muss doch an Ihren Taten ersichtlich sein, was Sie wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lothar Mark (SPD): Sie gaukeln doch hier was vor, was nicht stimmt! Sie lügen sich da etwas hin! – Waltraud Lehn (SPD): Aber Herr Stoiber will ihnen doch 5 Prozent wegnehmen!)

   Es ist auch richtig, dass dieses Haus in großer Mehrheit gemeinsam mit Ihnen immer wieder den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten für mehr Sicherheit und für mehr Frieden unterstützt. Das waren keine ganz einfachen Diskussionen, aber wir alle stehen dazu, dass wir uns dieser internationalen Herausforderung stellen müssen. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn wir so etwas wie ein Parlamentsheer haben – so hat es das Bundesverfassungsgericht ja formuliert –,

(Lothar Mark (SPD): Nicht „so etwas wie“! Das ist das Parlament!)

dann hat dieses Parlament – dazu hätte ich heute gerne von Ihnen ein Wort gehört – auch einen Anspruch auf lückenlose Information, wenn einmal etwas nicht geklappt hat. Bezüglich der Vorgänge in Prizren haben wir nicht die lückenlosen Informationen bekommen, die wir gerne erhalten hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Auch Sie müssen sich doch mit der Tatsache auseinander setzen, dass jedes Land, das neues Mitglied der NATO werden möchte, 2 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in den Verteidigungsetat stecken soll. Der entsprechende Etat Deutschlands liegt bei 1,4 Prozent, und das mit fallender Tendenz. Das heißt nichts anderes, als dass wir, wenn wir heute der NATO beitreten wollten, kaum die Voraussetzungen erfüllen würden. Damit geht von uns keine Vorbildwirkung aus. In diesem Bereich muss gearbeitet werden. Unsere Soldaten müssen in den Stand versetzt werden, ihre Aufgaben nach innen und außen ausreichend erfüllen zu können. Hier besteht Handlungsbedarf, Herr Bundeskanzler. Darauf werden wir immer wieder hinweisen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von der SPD)

   Gerade im Kampf gegen den Terror – meine Damen und Herren, da bin ich mir ganz sicher – darf es keine Doppelmoral geben. Ich sage Ihnen, es ist nicht in Ordnung, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, nachdem die OECD und die Kommission der Europäischen Union den Verlauf der Parlamentswahlen in Tschetschenien kritisiert haben, keine Notwendigkeit sehen, ein kritisches Wort zur Unterstützung dieser Institutionen zu sagen. Herr Bundeskanzler, das ist nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Im Hinblick auf die USA sagen Sie, unter Freunden müsse man sich auch kritisch die Meinung sagen können. Ich sage: Okay. Im Hinblick auf Russland aber heißt es: Wir brauchen keine Leistungsbilanz vor den Mikrofonen. – Das ist ein Messen mit zweierlei Maß. Das ist eine Doppelmoral, die im Kampf gegen den Terrorismus nicht hilft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich sage es Ihnen auch aus der ganz persönlichen Erfahrung von jemandem, der früher in der DDR gelebt hat: Es ist eine unglaubliche Ermutigung für all diejenigen, die von innen versuchen, etwas gegen diktatorische Systeme oder Tendenzen zu unternehmen, wenn sie von außen dafür ein Stück Unterstützung bekommen. Bitte vergessen Sie das angesichts unserer eigenen Geschichte nie!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Gerade in Zeiten großer Herausforderungen muss Politik wahrhaftig und darf sie nicht taktisch sein. Was für die Außen- und Sicherheitspolitik gilt, das gilt auch für die Europapolitik. Deshalb hinterlässt die Art und Weise, wie Ihr Parteivorsitzender, Herr Müntefering, mit einem möglichen Referendum zum EU-Verfassungsvertrag umgeht, einen mehr als faden Beigeschmack. Sie verbinden das Ganze mal eben schnell mit einem Junktim hinsichtlich weiterer Plebiszite. Im Mai haben Sie noch erklärt, dass Sie eine ablehnende Haltung zum Volksentscheid haben, der Bundesaußenminister genauso. Ich finde, Sie entlarven Ihre ganze Initiative damit als rein taktisch,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Genau so ist es!)

und zwar im Gegensatz zu denen, wie zum Beispiel die Kollegen der FDP, die einen Volksentscheid seit langem aus sachlichen Erwägungen heraus richtig finden.

(Joachim Poß (SPD): Was macht die CSU? Und was macht der Stoiber?)

Sie machen Taktik. Ich rate Ihnen: Wenn Sie diesen Eindruck widerlegen wollen, dann bringen Sie, bitte schön, Ihre Initiativen auf Punkt und Komma genau in die Föderalismuskommission oder in den Deutschen Bundestag ein; dann sind wir bereit, darüber zu diskutieren und das Für und Wider abzuwägen. Meine Position ist bekannt: Ich habe allergrößte Bedenken. Aber wir stellen uns der Diskussion, jedoch nicht, wenn sie taktisch motiviert ist und ein Hü und Hott auf dem Rücken von Europa und der Außenpolitik stattfindet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Klären Sie erst mal mit der CSU ab! Reden Sie erst mal mit Herrn Stoiber! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Poß, entwickeln Sie sich nicht zu einem Kläffer! Sie sind ein Kläffer! – Michael Glos (CDU/CSU): Wau!)

   Bundespräsident Köhler hat in seiner Antrittsrede am 1. Juli gesagt, dass Deutschland sich kein einziges verlorenes Jahr mehr leisten könne. Ich erspare Ihnen jetzt die Rückschau auf die ersten acht Monate dieses Jahres, in denen schon wieder viel Zeit verloren wurde. Aber zwei Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Hartz-Reform kann man nicht einfach über die Folgen hinwegsehen und keine Bilanz ziehen. Das hätte ich von Ihnen schon erwartet. Sie sagen doch immer, wenn man Fehler mache, dann müsse man auch dazu stehen.

   Das Programm „Kapital für Arbeit“, der volksnah genannte Jobfloater, sollte pro Jahr 120 000 Jobs schaffen, das macht in zwei Jahren 240 000 Jobs. Wissen Sie, wie viele geschaffen worden sind? 12 000 Jobs in zwei Jahren! Völliges Versagen eines hochgejubelten Instruments; das sollten wir uns wirklich merken.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wie viele Ich-AGs das zweite Jahr überleben, weiß keiner. Da gibt es grauenhafte Prognosen. Aber dass Sie selbst die Notbremse ziehen mussten, dass diese Ich-AGs eine Konkurrenzveranstaltung für wettbewerbsfähige Betriebe bedeuten,

(Joachim Poß (SPD): Ihre Ich-AG kommt auch ins Trudeln! Von Tag zu Tag mehr!)

dass in sie unglaublich viel Geld geflossen ist – es ist doch das Mindeste, dass Sie das einmal kritisch analysieren und sagen, dass andere Instrumente benötigt werden. Dabei habe ich die Personal-Service-Agenturen noch nicht einmal erwähnt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, Hartz hat gesagt – man vergisst es ja fast –, man könne binnen 36 Monaten die Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen senken. Falls Sie mit diesen Aussagen noch irgendetwas zu tun haben wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass nicht täglich 1 500 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren gehen, sondern dass 6 415 neue entstehen, damit wir dieses Ziel innerhalb der 36 Monate noch erreichen. Es wäre schön gewesen, Sie hätten uns gesagt, ob Sie das für realistisch halten. Auch das ist etwas, bei dem die Menschen verzweifelt sind, weil es nicht klappt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Herr Bundespräsident hat Recht: Wir können uns kein einziges verlorenes Jahr mehr leisten. Deshalb sind für die Zukunft, über die Sie im Übrigen bemerkenswert wenig gesprochen haben, drei Dinge von allergrößter Bedeutung.

   Erstens. Die jeweils beschlossenen Maßnahmen müssen vernünftig erklärt werden, was eigentlich logisch ist. Aber Sie haben die Flucht nach vorne angetreten und uns gefragt, ob wir noch wüssten, wann Hartz IV beschlossen wurde. Als wir im Winter im Vermittlungsausschuss zusammensaßen – Herr Eichel hat sich dabei sperrig verhalten und Sie haben falsche Versprechungen gemacht –, hat man gesagt, es würde ein Optionsmodell geben. Dann haben wir monatelang darüber verhandelt, dass die Kommunen die Wahl haben sollen, dieses Modell, wenn sie es wollen, zu nutzen. Was haben wir dann irgendwann im Juni bekommen? In einzelnen Fällen, 69 an der Zahl, dürfen die Kommunen dieses Modell anwenden. Aber es gibt heute 130 bis 140 Kommunen, die dies gern tun würden. Für dieses schlappe Optionsmodell haben wir bis Juni gebraucht.

(Waltraud Lehn (SPD): An wem lag das denn?)

Gleichzeitig wollte Herr Eichel das Geld für die Kommunen nicht herausrücken. Das ist die Ursache dafür, dass wir so spät fertig geworden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Es war außerdem aberwitzig – Herr Kauder hat Sie von dieser Stelle aus darauf hingewiesen –, dass Sie erst diese sehr „volksnahen“ Fragebögen von 16 Seiten verschicken und dann in den Urlaub fahren. Als Sie zurückkamen, haben Sie gesagt, dass wir jetzt eine Infokampagne brauchen. So können Sie die Menschen nicht überzeugen. Sie zu überzeugen ist Ihre und nicht unsere Verantwortung. Wir tun das Unsrige. Aber Sie müssen das Ihrige tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Über diese psychologisch geniale Leistung, Menschen aus Bonn, die ebenfalls ein schweres Schicksal haben, einzusetzen, damit sie den vielen Arbeitslosen in den neuen Bundesländern erklären, wie man die Fragebögen ausfüllt, müssen Sie sich mit sich selbst auseinander setzen; das erklärt Ihnen vielleicht einmal ein Ostdeutscher.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))

   Zweitens. Es muss handwerklich sauber gearbeitet werden. Da haben Sie sich nun zum zweiten Mal mit großem Pomp in Neuhardenberg versammelt und das Zauberwort Controlling eingeführt. Sie haben hin und her diskutiert, ob man vielleicht doch mit elf Auszahlungsterminen klarkommt, um dann irgendwann festzustellen, dass man natürlich zwölf Termine im Jahr für die Auszahlung dieser neuen Leistung braucht. Etwas anderes wäre niemandem zu erklären. Das alles hätten Sie im Frühsommer haben können. Dann wäre uns allen sehr viel Verdruss erspart geblieben und wir brauchten nicht wieder nachzubessern. Daran leiden die Menschen in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Sie haben jetzt endlich einen Vorschlag gemacht, wie man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Besserstellung von Familien in der Pflegeversicherung umsetzen kann. Aber wer geglaubt hatte, nach der monatelangen Diskussion gäbe es irgendeinen tragfähigen und zukunftsfähigen Vorschlag für eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, der sah sich getäuscht. Frau Schmidt ist so sehr im Zeitverzug, dass sie es nicht einmal mehr schafft, dass alle Rentner gleich behandelt werden, wenn das Gesetz am 1. Januar in Kraft tritt. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen vor dem Bundesverfassungsgericht wegen der unterschiedlichen Behandlung der Rentnerinnen und Rentner abhängig von ihrem Geburtsjahrgang.

(Waltraud Lehn (SPD): Ihr Konzept ist doch noch weniger vergnügungssteuerpflichtig!)

Diese Schwierigkeiten gibt es nur, weil Sie nicht rechtzeitig etwas unternommen haben. Sie hatten für die Umsetzung des Urteils doch jahrelang Zeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß (SPD): Systematische Täuschung!)

   Lassen Sie mich auch ein Wort zum Zahnersatz sagen.

(Waltraud Lehn (SPD): Das ist jetzt aber interessant!)

Unser Vorschlag sah anders aus. Wir haben einen Kompromiss geschlossen. Zu diesem Kompromiss haben wir immer gestanden, Herr Bundeskanzler. Aber der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion

(Zuruf von der SPD: Guter Mann!)

– ich liefere das Zitat gerne nach – hat bereits wenige Tage nach dem Kompromiss in einer unerträglichen Art und Weise zu verstehen gegeben, dass er überhaupt nicht die Absicht hat, sich an diesen Kompromiss zu halten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Damals habe ich gedacht: der Bundeskanzler – ein Mann, ein Wort.

(Waltraud Lehn (SPD): Aber er ist nicht stur – im Gegensatz zu Ihnen!)

Ich habe an den Kompromiss geglaubt. Dann sind Monate verstrichen. Im Mai haben unsere Kolleginnen und Kollegen die Bundesgesundheitsministerin darauf aufmerksam gemacht, dass es im Gesetz eine Lücke gibt. Es ist nämlich nicht geregelt, wie die Beiträge der Rentner und der Sozialhilfeempfänger eingezogen werden sollen. Dann ist von Mai bis August wiederum Zeit verstrichen. Danach hat uns die Frau Bundesgesundheitsministerin erklärt, dass eine Regelung ohne bürokratischen Aufwand nicht möglich ist. Herr Bundeskanzler, hätte es diese Äußerung im Juli vergangenen Jahres nicht gegeben und hätte Frau Schmidt im Mai dieses Jahres schnell reagiert, dann hätte ich vielleicht nicht den Argwohn, dass hinter dieser Sache nicht mehr steckt als nur Bürokratie.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Aber so habe ich diesen Argwohn und das sollten Sie verstehen; denn das ist für die Verlässlichkeit im politischen Umgang von Wichtigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Waltraud Lehn (SPD): Was für ein Armutszeugnis!)

   Dennoch werden wir, um das Ganze nicht wieder auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger auszutragen, konstruktiv versuchen, eine Lösung zu finden. Aber uns hier vorzuwerfen, wir hätten Zeitvergeudung betrieben, ist wirklich jenseits der Realität. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.

   Drittens müssen folgende Fragen beantwortet werden – Herr Bundeskanzler, das ist vielleicht das Wichtigste –: Wie lohnen sich all die Veränderungen und all die Reformen für die Menschen? Was steht am Ende des Weges? Was für eine Bundesrepublik Deutschland, was für ein Deutschland möchte ich? Was kommt als Nächstes? Wir haben Ihnen eben fast 60 Minuten zugehört. Ich muss sagen: Fehlanzeige! Sie sind – ich glaube, das ist das Kernproblem – nicht in der Lage, zu beantworten, wo das Ganze hinführen soll.

(Waltraud Lehn (SPD): Sie haben zehn Antworten! Das ist auch nicht besser! Jeden Tag eine neue!)

   Deshalb flüchten Sie, wenn es nicht weitergeht, immer wieder in Schlagworte: Mindestbesteuerung, Ausbildungsplatzabgabe, Mindestlohn oder EU-Referendum. Das alles ist nicht ernst gemeint; aber Begriffe werden wie ein Hamster im Laufrad in die Welt gesetzt. Dabei denken Sie nicht darüber nach, wohin es geht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wenn man es genau beobachtet, dann wird der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Schlagworten immer kürzer. Wissen Sie, was das erzeugt? Das erzeugt bei der Bevölkerung Leere, Wahlenthaltung und zum Schluss Flucht in die radikalen Parteien. Das ist die Wahrheit.

(Waltraud Lehn (SPD): Das ist wirklich eine Unverschämtheit! – Petra-Evelyne Merkel (SPD): Diese Verbindung ist unglaublich! – Joachim Poß (SPD): Das ist Diffamierung!)

   In besonderer Weise beschäftigt uns in diesen Tagen die Lage in den neuen Bundesländern. Wir alle haben mit Erstaunen und Sorge – das sage ich ganz persönlich – gesehen, dass die Demonstrationen gerade in den neuen Bundesländern besonders gut besucht sind. Eine der Antworten des Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten heißt, dass wir nun nicht mehr von Ost und West sprechen sollen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Beschönigen nicht die Antwort ist, die wir brauchen.

(Waltraud Lehn (SPD): Danach sollten Sie einmal handeln!)

Es ist keine Antwort für diejenigen, die aus berechtigten Sorgen demonstrieren. Es ist auch keine klare Absage an diejenigen, die diese Demonstrationen instrumentalisieren wollen.

   Herr Bundeskanzler, wir haben viel geschafft. Ich bin noch heute der Meinung, dass die grundsätzlichen Weichenstellungen von 1989/1990 richtig erfolgt sind. Ich bin im Übrigen auch der Meinung, dass es gut war, dass Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war und nicht Oskar Lafontaine oder sonst wer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Waltraud Lehn (SPD): Das ist der größte Täuscher, den wir je hatten! – Petra-Evelyne Merkel (SPD): Blühende Landschaften! Unglaubliche Erwartungen wurden geweckt!)

   Aber ich sage auch ganz freimütig, dass wir uns alle, was die zeitliche Dimension der Aufgabe anbelangt, ein Stück getäuscht haben. Nun müssen wir heute feststellen, dass ein riesiges Stück des Weges geschafft ist, dass aber nach wie vor strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West bestehen. Denn in den ostdeutschen Ländern werden pro Kopf flächendeckend nur zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts der westdeutschen Länder erreicht. Das ist ein Unterschied zu den von mir durchaus wahrgenommenen punktuellen Schwierigkeiten auch in den alten Bundesländern.

   Deshalb müssen wir, wenn wir die Menschen auf einen demokratischen Weg mitnehmen wollen, Antworten auf folgende Fragen haben: Was ist bei einer Arbeitslosigkeit von 24 Prozent wie bei mir in Stralsund die Perspektive für die Menschen? Was müssen wir dort anderes tun als in den übrigen Regionen?

   Herr Bundeskanzler, 1998 haben Sie den Aufbau Ost zur Chefsache gemacht. In der Regierungserklärung vor zwei Jahren war Ihnen Ostdeutschland noch ganze vier Sätze wert. Danach kam in acht weiteren Reden zur Lage in Deutschland Ostdeutschland nur ein einziges Mal vor – und das nur, als Sie sagten, was Sie nicht ändern wollen. Das ist der Befund der Chefsache.

Genau aus diesem Grund ist natürlich Enttäuschung vorhanden. Deshalb sage ich wieder: Lassen Sie uns nicht so tun, als ob Gleiches schon vorhanden wäre; es gilt viel Gemeinsames und niemand will spalten, aber es nicht identisch.

   Die Menschen in den neuen Bundesländern spüren, dass die Schere zwischen Ost und West seit 1998 wieder aufgegangen ist, und sie verlangen eine Antwort auf die Frage: Was könnt ihr tun und was tut ihr, damit sie langsam wieder zugeht? Sie wollen nicht alles sofort, sie wollen nur eine Antwort auf diese Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Man darf nicht monatelang Verpflichtungsermächtigungen, die Investitionen in Ostdeutschland auslösen könnten, sperren. Man muss auch sagen: Gebt den neuen Bundesländern die Chance, die Regelungsdichte, die überall in Deutschland vorhanden ist, wo immer es EU-rechtlich möglich ist, ein bisschen zu lockern, damit sie schneller vorankommen. Das ist der Wunsch der neuen Bundesländer. Setzen Sie sich einmal daran und tun Sie etwas!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Das Gemeinsame an der Botschaft für Ost und West ist im Übrigen, dass wir auf gar keinen Fall bei Hartz IV stehen bleiben dürfen. Hartz IV, das Sie wie im Übrigen auch ich – wie die allermeisten bei uns – tapfer verteidigen,

(Lachen bei der SPD)

hat einen richtigen Befund: Wir können es uns finanziell nicht leisten, dauerhaft bestimmte Anreize für Arbeitsaufnahmen nicht zu setzen. Unser Ziel muss aber sein, die Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Die Differenzen, zum Beispiel mit einem Ministerpräsidenten wie Georg Milbradt, bestehen nicht über die Frage der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,

(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach so!)

sondern darüber, ob wir die richtigen Anreize für die Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt geben. Darin unterscheiden wir uns.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sind nicht unterschiedlicher Meinung darüber, dass der 1-Euro-Job eine Möglichkeit sein kann. Aber der 1-Euro-Job ist nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt. Deshalb ist die alles überspannende Frage: Wie schaffen wir es, mehr Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen? Über die Rolle der Lohnkostenzuschüsse sind wir unterschiedlicher Meinung. Das kann man auch ganz freimütig sagen.

   Herr Bütikofer hat neulich auf Frankreich hingewiesen. In Frankreich müssen die Betriebe bei den unteren Lohngruppen keine Sozialversicherungsbeiträge abführen. Ich halte das ordnungspolitisch für keinen guten Weg. Wir haben das Problem erkannt und gesagt, wir brauchen die Lohnkostenzuschüsse, um nicht Arbeitsplätze nach Polen, Tschechien und inzwischen auch nach Dänemark und Holland abwandern zu lassen. Wir brauchen eine Lösung, damit auch die einfachen Arbeiten in Deutschland bleiben. Dieses Thema wird auf der Tagesordnung bleiben. Das ist doch schon jetzt klar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Eigenschaft als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland die Richtlinien dieses Landes zu bestimmen. Statt Ihre Richtlinienkompetenz wahrzunehmen, fahren Sie oft Schlangenlinien und das macht die Sache so unsicher. Die Deutschen lieben ihr Land, sie sind auch prima drauf. Das ist überhaupt keine Frage; keiner von uns redet das schlecht.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glauben Sie selber nicht!)

– Wir regieren in vielen Ländern. Schauen Sie sich die Bilanzen der unionsregierten Länder an. Da geht es allemal besser zu als in den sozialdemokratisch regierten Ländern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Die Menschen erwarten, dass ihnen die Politik eine klare Vorstellung davon vermittelt, was kommt. Ich kann nur sagen: Wer sein Land liebt und ein wirklicher Patriot ist, der muss verstehen, dass Patriotismus auch bedeutet – so sehen wir das –, Vorsorge für die Zukunft zu treffen. Weder dieser Haushalt noch anderes von Ihnen ist Vorsorge für die Zukunft; deshalb müssen wir heute darüber sprechen, welche nächsten Schritte wir tun müssen. Wir können doch nicht bei Hartz IV stehen bleiben. Wir können Hartz IV doch nicht einfach umsetzen und hoffen, dass uns der Wind der Weltkonjunktur hilft.

   Mir haben Ihre nächsten Schritte gefehlt und deshalb will ich sie aus meiner Sicht ansprechen:

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir brauchen trotz der Schritte, die wir bereits gegangen sind, eine Weiterentwicklung des Arbeitsrechts. Wir sind der Meinung, dass das, was Siemens gemacht hat, richtig und mit Blick auf die Arbeitszeit gut ist. Dort war viel Vernunft bei den Betriebsräten und letztlich auch bei den zuständigen Gewerkschaften vorhanden.

   Deutschland lebt aber auch ganz stark vom Mittelstand. Die mittelständischen Unternehmen haben jedoch nicht die Möglichkeit, im Ringen mit den Gewerkschaften für sich solche flexiblen Lösungen herauszuarbeiten. Wir brauchen daher Rechtssicherheit. Wir brauchen weiterhin die betrieblichen Bündnisse für Arbeit gerade für kleine und mittlere Betriebe, damit auch sie die Chance haben, flexibel auf unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen zu reagieren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir wissen, dass die Gesundheitsreform, die wir gemeinsam beschlossen haben, erfreulicherweise wirkt. Ob sie nun so gut wirkt, wie das jetzt jeden Tag beschrieben wird, werden wir uns am Jahresende in Ruhe anschauen. Aber sie wirkt. Wir wissen aber auch, dass das Gesundheitssystem mit dieser Reform noch nicht dauerhaft zukunftssicher gemacht ist. Nun hätte ich mir gewünscht, dass Sie ein Wort zu Ihrer Zukunftsperspektive, zu der Bürgerversicherung, der Sie sich wohl auch angeschlossen haben, sagen.

   Tatsache ist, dass der Sachverständigenrat der Bundesregierung zwei Dinge in den Vordergrund gestellt hat:

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was sagt Herr Stoiber zu den Kopfpauschalen?)

Er hat erstens gesagt: Wir müssen auf den demographischen Wandel reagieren. Das ist völlig richtig. Das haben sie richtig beschrieben. Zweitens hat er gesagt: Wegen der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbes müssen wir eine Entkoppelung der Sozialleistungen von den Lohnkosten bekommen. Das wird die große deutsche Aufgabe der Zukunft sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Man müsste sich wenigstens mit der Tatsache auseinander setzen, dass der Sachverständigenrat sagt: Die Bürgerversicherung kostet Arbeitsplätze, weil sie genau diese Koppelung an den Lohn für noch mehr Menschen vorsieht, während die Gesundheitsprämie Arbeitsplätze schafft.

(Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt doch gar nicht!)

Sie brauchen es ja nicht zu glauben, sollten sich aber wenigstens einmal intellektuell damit auseinander setzen. Genau deshalb entscheiden wir uns anders und sehen die Zukunft in einem Prämienmodell. Diesen Wettstreit werden wir auch weiterhin mit Ihnen führen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sieht Herr Stoiber aber völlig anders! – Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dafür werden die Steuern erhöht!)

   Frau Göring-Eckardt, Sie haben Aussagen zu einem vereinfachten Steuersystem vermisst. Friedrich Merz hat zusammen mit dem bayerischen Finanzminister Kurt Faltlhauser am 7. März dieses Jahres einen ganz konkreten Vorschlag für eine erste und eine zweite Stufe eines zukünftigen vereinfachten Steuersystems vorgelegt.

(Waltraud Lehn (SPD): Zulasten der kleinen Einkommen! Na, bravo! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich habe dann im Frühjahr dem Bundeskanzler und dem Bundesfinanzminister angeboten, dass wir uns in einer gemeinsamen Aktion – meinetwegen auch außerhalb des parlamentarischen Verfahrens – genau diesen Vorschlag vornehmen und noch in dieser Legislaturperiode etwas auf den Weg bringen. Herr Eichel, es geht dabei nicht vorrangig um Entlastung, sondern um Transparenz und Vereinfachung. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger und wir sind dazu bereit, genau dies in Angriff zu nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Was wird den Wohlstand in Deutschland langfristig sichern? Sicherlich nicht die Minijobs, sicherlich nicht die Hinzuverdienstmöglichkeiten und sicherlich nicht die Lohnkostenzuschüsse. Unseren Wohlstand können wir nur sichern – darum muss alles kreisen –, wenn wir mehr Dinge können, die andere auf der Welt nicht können. Wir können einige Dinge, die andere nicht können. Ich rede hier nichts schlecht. Wenn man aber trotz des demographischen Wandels und des höheren Wettbewerbs den Wohlstand für 80 Millionen Einwohner erhalten möchte, muss man massiv in die neuen Forschungsbereiche einsteigen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

   Sie haben – wie so oft – die richtigen Worte und Überschriften gefunden: Jahr der Innovation! Das ist prima, aber man fragt sich: Was ist daraus geworden? Das ist die große Preisfrage. Wo sind die Richtungsentscheidungen? Ist der Haushalt dieses Jahres in seinen Strukturen entsprechend umgeschichtet? Ich kann nichts sehen. Sind die Institutionen wirklich auf Dynamik umgestellt? Das ist mir verborgen geblieben. Was ist mit messbaren Zielen? Sie reden von Mitteln für Forschungsinnovationen in Höhe von 3 Prozent. Der Haushalt der Bundesforschungsministerin in diesem Jahr ist jedoch wieder auf das Niveau des Jahres 2002 zurückgefallen. Sie rechnen zwar die Kosten für die Ganztagsbetreuung hinein, kürzen bei der Hochschulbauförderung und arbeiten mit lauter Tricks, aber der reine Forschungshaushalt ist auf das Niveau des Jahres 2002 zurückgefallen.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Richtig!)

   Wo haben Sie im Hochschulrecht denn für ein Stück Freiheit gesorgt? Wir warten darauf, dass die ZVS aufgelöst wird. Die brauchen wir nach unserer Auffassung nicht. Was ist mit dem Verbot von Studiengebühren? Es gibt, Herr Bundeskanzler, keine Richtungsentscheidung, die im Lande den Eindruck verbreitet: Jetzt geht es los! Jetzt geht es ran! Jetzt müssen alle Forscher in Deutschland bleiben! Dieses Signal vermissen wir.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Ich glaube, Sie haben eines nicht verstanden: Innovationen haben einen ganz besonderen Charakter. Sie kommen nicht, wenn man einfach nur ihren Namen laut ruft. Innovationen brauchen ein bestimmtes Klima. Dieses Klima hat nicht etwas mit politischer Vorbestimmung, sondern mit Freiheit zu tun.

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Nicht immer dieses Negative! Dieses Herunterreden brauchen wir nicht!)

Deshalb sage ich Ihnen: Sie müssen Chancen eröffnen und nicht Risiken betrachten. Aber Rot-Grün betrachtet an viel zu vielen Stellen zuerst das Risiko und vergeudet damit Chancen. Genau das ist der Unterschied zwischen uns und Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Natürlich können Sie alles ignorieren, sich alles schönreden und sehr allgemein über Patente sprechen. Aber man kann auch ganz konkret werden: Im OECD-Bericht zur Informations- und Kommunikationstechnologie belegen wir zum Beispiel bei den Patenten Platz 14,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das Wachstum muss her!)

bei der Biotechnologie Platz 19. Sie können auch die Stellungnahmen der Wissenschaft ignorieren. So sagt zum Beispiel der Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Hacker, zum Gentechnikgesetz der Bundesregierung:

Sollte diese Haftungsregelung in Kraft treten, würde die faktische „Innovation“ auf dem Gebiet der grünen Gentechnik darin bestehen, dass diese Arbeiten künftig außerhalb Deutschlands stattfinden.
(Michael Glos (CDU/CSU): So ist es! Genau!)

   Auch diese Aussage können wir ignorieren oder ernst nehmen. Wir bieten Ihnen an, noch einmal genau über diese Dinge zu sprechen. Denn es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass die Grüne Gentechnik einer der Bereiche ist, in denen in Zukunft Arbeitsplätze entstehen und in denen Deutschland eine gute Tradition hat.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Ja! Genau!)

Übrigens brächten sie der Frau Entwicklungshilfeministerin gleichzeitig einen prima Ruf in der Welt ein, weil wir etwas gegen die Welternährungsprobleme tun würden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeskanzler, ich empfehle Ihnen einen Blick in den Verkehrshaushalt. Denn es könnte ja doch sein, dass Verkehrsinfrastruktur auch etwas mit Zukunft zu tun hat. Aus unserer Sicht jedenfalls ist das so. Wie sieht es dort aus? Selbst wenn die Mauteinnahmen kommen sollten,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Konjunktiv!)

woran man ja gewisse Zweifel haben könnte – aber wir wollen ja nichts schlecht reden; deshalb nehmen wir einmal an, dass die Einnahmen kommen –,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wie bei der Tabaksteuer!)

reicht der Verkehrshaushalt nicht aus, um die im Straßenbau begonnenen Projekte nächstes Jahr mit gleichem Tempo fortzusetzen. Ihre Aussage dazu ist: kein neues Projekt im Jahre 2005! Jedenfalls ist bis jetzt kein Geld dafür vorgesehen. Ist das Ihre Zukunftsvorsorge für ein Land, das mitten in Europa liegt und gute Verkehrsstrukturen braucht, Herr Bundeskanzler?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carsten Schneider (SPD): Wo würden Sie denn kürzen? – Joachim Poß (SPD): 10 Prozent Kürzung?)

   Deshalb werden wir uns in den nächsten zehn Jahren vorrangig – alles muss daraufhin überprüft werden – mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir zu mehr Arbeitsplätzen und zu mehr Beschäftigung kommen. Das wird ohne Wachstum nicht möglich sein. Natürlich gehört hierzu auch das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir wissen sehr wohl, dass wir zwei Probleme in diesem Bereich haben: Erstens scheiden die Menschen zu früh aus dem Berufsleben aus. Zweitens sind noch immer zu wenige Frauen erwerbstätig.

   Deshalb werden wir mit Ihnen um die Ideen ringen, die in der Diskussion stehen. Wir dürfen nur nicht jeden Tag einen Paradigmenwechsel vollziehen; denn dann werden die Leute verrückt. Aber wir sind gern bereit, mit Ihnen über das Elterngeld zu sprechen und zu fragen: Können wir es uns leisten? Ist es richtig? Setzt es die richtigen Anreize? Ich glaube im Übrigen, wie auch andere, dass Kinderbetreuung und Ganztagsschulen – ich meine nicht die Gesamtschule, sondern die Ganztagsschule – zentrale Themen sind, denen wir uns widmen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der SPD: Was? – Schön! – Ach nein!)

Vor allen Dingen aber müssen wir den Wiedereinstieg in das Berufsleben erleichtern: Wie reagieren wir in unserem Land, wenn eine Frau drei bis vier Jahre nicht berufstätig war, aber noch Karriere machen möchte? Auch dieses Thema müssen wir angehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   In den nächsten zehn Jahren wird sich in unserem Land auch vieles andere ändern müssen, was nicht unbedingt etwas mit der Politik zu tun hat. Ich will nur einige Stichworte nennen. So wird sich zum Beispiel die Rolle der Gewerkschaften massiv verändern. Wenn die Gewerkschaften überleben wollen, dann müssen sie die Chancen der Globalisierung im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Arbeitslosen auf ganz andere Weise betrachten. Wir brauchen Gewerkschaften; aber bislang haben sie den Schritt in die neue Zeit an vielen Stellen nicht geschafft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   An die global agierenden Unternehmen gerichtet sage ich:

Wenn es einen Kodex wie den für Corporate Governance gibt, dann tun die Unternehmen in diesem Lande gut daran, sich freiwillig daran zu halten. Denn soziale Marktwirtschaft beruht auch immer darauf, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstehen, was vor sich geht. Die Globalisierung hat es mit sich gebracht, dass eine Grunderfahrung deutschen Vertrauens, nämlich „Wenn es meinem Betrieb gut geht, geht es auch mir als Arbeitnehmer gut“, so einfach nicht mehr gilt. Aber das bedeutet auch, dass mehr Transparenz zwischen Unternehmensführung und Beschäftigten sein muss. Dazu ist Corporate Governance ein richtiger Schritt und ich kann nur empfehlen, dass jedes große Unternehmen sich an diesen Kodex hält.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Politik der Vereinfachung, der Entbürokratisierung, der neuen Wege. Ich stimme Ihnen übrigens zu: Wir brauchen auch eine Politik, die auch überprüft, ob wir das Richtige getan haben. Vor allen Dingen aber brauchen wir eine Politik aus einem Guss, die in den Parteien, die sie machen, auch von oben bis unten vertreten wird. Genau daran arbeitet die Union: Wir wollen nicht nur punktuell, hier und dort, etwas machen, sondern eine Politik aus einem Guss bekommen.

(Joachim Poß (SPD): Das haben wir ja heute Morgen gehört!)

Diese neue Union wollen Sie noch nicht akzeptieren.

(Unruhe bei der SPD)

– Sie nuscheln und maulen schon wieder. Sie können diese neue Union des 21. Jahrhunderts überhaupt nicht wahrnehmen, weil Ihre Regierung und Ihre Partei in den alten Feindbildern denken; damit kommen Sie nicht klar.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Waltraud Lehn (SPD): Bei Ihnen weiß doch die rechte Hand nicht, was die linke tut! – Weitere Zurufe von der SPD)

Das ist im Übrigen der wahre Grund dafür, dass Leute wie Sie, die mit der PDS in der Koalition sind, immer wieder von „Volksfronten“ oder in sonstigen vergammelten Begriffen reden. Das ist das alte Denken; das hilft uns nicht weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Unser Angebot steht: Wann immer es um dieses Land geht, wann immer die Vorteile die Nachteile überwiegen, werden wir die richtigen Schritte mit Ihnen mitgehen. Ernüchternd ist, dass der Haushalt von Herrn Eichel alles ist, bloß keine gute Grundlage, um dieses Land wirklich in die Zukunft zu führen.

   Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Franz Müntefering.

Franz Müntefering (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel, Sie haben Politik aus einem Guss verlangt. Das ist Ihnen gelungen: Das war ein Guss, allerdings ein Aufguss.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das hatten wir schon einmal.

Das war keine Oppositionsrede, das war eine hochmütige Rechtfertigungsrede. Hochmut kommt ja bekanntlich vor dem Fall. Frau Merkel, falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Die schönen Tage der Union sind vorbei.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)

Einige von Ihnen scheinen noch ahnungslos zu sein.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Ein Männlein pfeift im Walde!)

Vielleicht sind Sie nachher ein bisschen nachdenklicher.

   Ihr Versuch, die SPD und die Koalition die Arbeit machen zu lassen und sich selbst auf die faule Haut zu legen, ist gescheitert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Jetzt arbeiten Sie gar nicht mehr? Hurra!)

Es ist richtig, dass uns die Wahlergebnisse im Saarland wehtun, aber die CDU hat auch nur von jedem vierten Wahlberechtigten im Saarland das Kreuz erhalten.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Und Sie? – Dr. Guido Westerwelle (FDP): Sie von jedem Zehnten!)

25 Prozent der Saarländerinnen und Saarländer haben die CDU gewählt.

(Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Dann sind Sie ja bald unter der 5-Prozent-Hürde!)

Verehrte Frau Merkel, dass Sie zu so wenigen Stimmen – 25 Prozent Zustimmung – sagen, das sei ein sensationell gutes Ergebnis, hat mich dazu gebracht, zu sagen: Dass Sie so viel Selbstironie haben, hätte ich mir nicht vorstellen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Dann sind Sie ja bald unter 10 Prozent!)

   Wohl wahr: Dieser von mir angesprochene Punkt geht uns alle in diesem Haus an. Ich habe Ihnen ja gesagt: Der Hochmut, mit dem Sie hier auftreten, wird sich schnell verflüchtigen.

   Zu einigen der Punkte, die Sie angesprochen haben, will ich vorweg etwas sagen:

   Erster Punkt. Ziemlich zum Schluss haben Sie reklamiert, es müsse bei uns im Land mehr Geld für Verkehrsmaßnahmen und für Investitionen überhaupt ausgegeben werden. Wenn wir das Geld hätten, dann ja. Ich wüsste viele gute Dinge, die nicht nur in Ostdeutschland, sondern in der gesamten Bundesrepublik getan werden könnten.

(Michael Glos (CDU/CSU): Toll Collect!)

Sagen Sie mir doch aber bitte einmal, wie sich das zu der Forderung von Herrn Stoiber verhält, der den ganzen Haushalt um 5 Prozent kürzen will.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Stoiber fordert: 5 Prozent weniger! 5 Prozent von 258 Milliarden Euro sind 12,9 Milliarden Euro.

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Das ist Irrsinn!)

   Herr Stoiber weiß, dass wir 41 Milliarden Euro an Zinsen zahlen. Wenn wir hier um 5 Prozent kürzen könnten, wäre das schön; aber das geht bei Schulden leider nicht. Er weiß auch, dass wir 80 Milliarden Euro im Bereich der Rentenversicherung auszugeben haben. Was schlägt er vor? Die Renten zu kürzen? Das wären 1 oder 2 Prozent weniger.

(Michael Glos (CDU/CSU): Die Platte ist doch gestern schon mal gelaufen!)

– Das wurde aber noch nicht beantwortet. Wir werden es Ihnen nicht ersparen, dass Sie diese Fragen an dieser Stelle beantworten müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Carsten Schneider (SPD): Sagen Sie von der CDU/CSU mal was dazu! – Michael Glos (CDU/CSU): Die gleiche Platte haben Sie doch gestern hier schon gespielt!)

– Ich merke, dass der Puls an dieser Stelle ein bisschen unruhig wird. Vielleicht sagen Sie mal etwas dazu. Will die CSU vorschlagen, dass die Renten im nächsten Jahr gekürzt werden oder nicht?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie Nein sagen, dann beziehen sich die 5 Prozent auf die verbleibenden rund 140 Milliarden Euro des Haushaltes. Hieran haben der Verkehrshaushalt wie der gesamte Investitionshaushalt einen massiven Anteil. Was bleibt denn sonst?

   Frau Merkel, deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle: Es ist ja nett, dass Sie mal eben sagen, dass wir ein bisschen mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur ausgeben sollten. Es ist aber nicht finanzierbar. Dass Sie sich als Chefin der Opposition hier hinstellen und das fordern, ist blanke Heuchelei. Sie haben das Geld dafür auch nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich komme zum zweiten Punkt, der Sache mit der Freiheit. Als Sozialdemokrat ist man natürlich immer bewegt, wenn jemand von den Konservativen anfängt, sich über die Freiheit auszulassen. Frau Merkel, so, wie Sie das eingeführt haben, ist das besonders schick. Sie und Herr Glos vorneweg haben heute Morgen über dieses Land wie über ein Jammerland gesprochen, ein Land also, dem es schlecht geht. Auch ein Teil der Unternehmerschaft in diesem Lande verfährt so. Ich will das hier ganz ausdrücklich in Richtung von Herrn Hundt sagen. In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass er jeden Stein, den es bei uns im Land gibt, umdreht, um zu schauen, ob nicht vielleicht doch noch ein Wurm darunter sein könnte. Frau Merkel, bei dem, was Sie über dieses Land sagen, dürfte ruhig mal ein bisschen mehr Zuversicht zu spüren sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nach einer solchen Rede wie der von Ihnen oder der von Herr Glos hat man das Gefühl, dass Sie das ganze Land schlecht- bzw. herunterreden und es mies machen.

(Michael Glos (CDU/CSU): Fakt ist Fakt!)

Wenn Sie das nun auch noch damit verbinden, für sich zu reklamieren, dass Sie besonders freiheitlich sind, dann finde ich das völlig unangemessen. Das weise ich ausdrücklich zurück.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos (CDU/CSU): Sie können die Wahrheit nicht hören!)

   Ein dritter Punkt. Es klang bei Ihnen, Frau Merkel, nur ganz leicht an, aber in den letzten Tagen drang es eindeutig nach draußen: Sie haben die SPD – einige von uns in besonderer Weise – dafür verantwortlich gemacht, dass die NPD im Saarland am Sonntag derart viele Stimmen bekommen hat.

(Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Lafontaine!)

– Nein, Sie haben die SPD angesprochen. Jetzt reden Sie das nicht klein.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Ist er nicht mehr in der SPD?)

Ich sage Ihnen ganz klar, Frau Merkel – darüber sollte in diesem Hause Einvernehmen herrschen –: Die CDU/CSU ist für den Stimmenzuwachs der NPD nicht verantwortlich; die Sozialdemokraten allerdings auch nicht. Verantwortlich für die Stimmen der NPD sind diejenigen, die die Neonazis wählen. Wenn wir in diesem Haus den Verstand einigermaßen beieinander haben, dann passen wir auf, dass wir uns da nicht auseinander dividieren lassen. Die braune Soße darf in Deutschland nie wieder eine Chance haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig unterstellen, für deren Stimmenzuwachs verantwortlich zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun noch ein paar Anmerkungen zu Ihren Hinweisen auf die Situation in Ostdeutschland. Ja, die SPD ist eine gesamtdeutsche Partei. Wir machen gesamtdeutsche Politik. Ost- und Westdeutschland sind keine zwei lose assoziierten Staaten, zwischen denen irgendetwas ausgeglichen werden muss. Alles, was in Deutschland an guter Politik gemacht wird, ist gut für ganz Deutschland. Darauf bestehen wir.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich warne sehr davor, uns an dieser Stelle auseinander zu dividieren. Wir alle wissen, dass wir in diesem Land in West und Ost leicht gegeneinander agitieren könnten. Wir sind alle erfahren genug, um das in vielen Gesprächen zu merken. Ich bitte sehr darum, dass wir der Verantwortung, die wir in diesem Lande miteinander tragen, gerecht werden. Noch einmal: Wenn es in Deutschland Wachstum gibt und wenn wir Arbeitsmarktreformen beschließen, die für bestimmte Regionen und Städte besonders gut sind, dann ist das für ganz Deutschland gut. Wir sorgen in ganz Deutschland dafür, dass der Solidarpakt II, den diese Koalition vereinbart hat, bis zum Jahre 2019 sicher bleibt. Wir sollten uns an dieser Stelle nicht auseinander dividieren lassen. Das ist meine ganz dringende Bitte an Sie alle.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Haben wir das nicht erlebt?)

   Ich mahne da, weil die Lockerheit, mit der auch eben versucht wurde, sich ein bisschen lieb Kind auf der einen Seite zu machen, ohne der anderen wehzutun, die falsche Methode ist. Ein Teil unseres Problems in diesem Lande hängt damit zusammen, dass Sie dies bisher nicht ehrlich ausgesprochen haben. Wir sind ein Deutschland. Wir müssen Politik für ganz Deutschland machen. Wir müssen aufhören, Ost- und Westdeutschland gegeneinander zu stellen. Die beiden Teile sind keine selbstständigen oder assoziierten Staaten, die einfach so nebeneinander stehen. Das müssen Sie endlich begreifen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Merkel, Sie haben auch etwas zu den Lohnkostenzuschüssen gesagt. Im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit für das Jahre 2005 sind 6,35 Milliarden Euro für Lohnkostenzuschüsse und Eingliederungshilfen eingestellt. Das sind rund 25 Prozent mehr als in diesem Jahr. Rund 42 Prozent davon sind für die Aufgaben in den neuen Ländern vorgesehen. Die Möglichkeiten, diese Gelder sehr gezielt einzusetzen, liegen bei denen, die vor Ort die Entscheidungen zu treffen haben. Weil das so ist, sollten wir nicht den Eindruck erwecken, als ob wir die Möglichkeiten der Hilfe an dieser Stelle reduzieren.

   Frau Merkel, das, was Sie ansprechen, hört sich aber ein bisschen anders an. Ich möchte gerne wissen, ob Sie es wirklich so meinen. Sie sprechen – so empfinde ich es – über ein Modell, das darauf hinausläuft, dass für die Löhne im unteren Bereich dauerhaft Lohnkostenzuschüsse gezahlt werden sollen.

(Joachim Poß (SPD): So ist es!)

Diese Methode, Frau Merkel, die sich auf eine seltsame Vorstellung von Ordnungspolitik gründet, hatten wir schon einmal. Ich sage für uns ganz klar: Ein solches Modell kann die Antwort auf unsere Probleme nicht sein, weil es letztlich auf eine Finanzierung der Löhne aus der Kasse des Staates, aus dem Steuersäckel, hinausläuft. Das wird – so viel sage ich Ihnen für die Sozialdemokraten – keine Lösung für ganz Deutschland sein können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Agenda 2010 beginnt zu wirken. Das GKV-Modernisierungsgesetz zeigt die Erfolge und Konsequenzen, die wir uns alle miteinander erhofft haben.

Im ersten Halbjahr dieses Jahres haben wir ein Plus von 2,5 Milliarden, das heißt, die Beiträge können sinken.

   Wenn wir dieses Gesetz nicht gemacht hätten – weshalb sagen wir das eigentlich den Menschen draußen nicht ein bisschen deutlicher? –, lägen die Krankenversicherungsbeiträge heute nicht bei 14 oder 14,5 Prozent, sondern bei 16 oder 16,5 Prozent. Und ohne unsere Rentengesetzgebung läge der Rentenversicherungsbeitrag heute nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei 22 oder 25 Prozent. Das sage ich all denen, die fragen: Gibt es denn keine Alternative? – Ja, es gibt eine Alternative zur Agenda 2010, aber die heißt: höhere Krankenversicherungsbeiträge, höhere Rentenversicherungsbeiträge und mehr Schulden. Das wäre die Konsequenz gewesen.

   Weil das so ist, müssen wir uns alle miteinander nicht verstecken. Wir sollten zu unseren Beschlüssen stehen. Es ist schließlich nicht so, dass nur die Privaten belastet werden. Die Entwicklung speist sich aus drei Faktoren:

   Erstens. Die Effizienz im Gesundheitswesen wurde leicht verbessert. Wir haben immerhin ansatzweise erreicht, dass die Krankenkassen Verträge mit Ärzten und mit medizinischen Einrichtungen abschließen können. Diese verbesserte Effizienz müssen wir weiter vorantreiben – der Bundeskanzler hat es angesprochen –; das ist bisher an Ihnen gescheitert. Wir wollten weiter und wir wissen, dass wir die weiteren Schritte noch zu tun haben. Ob nun Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, eines steht fest: Die Effizienz im System muss weiter gestärkt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Gesundheitssystem birgt eine große Dynamik in sich und wir sind gut beraten, wenn wir die richtigen Wege finden, diese Dynamik einzugrenzen.

   Zweitens. Die medizinischen Angebote werden weniger intensiv in Anspruch genommen, als das vorher der Fall gewesen ist. Auf Deutsch und knapp gesagt: Die Zahl der Versicherten, die zum Arzt gehen, ist um 8 bis 10 Prozent gesunken. Ich hoffe, das sind nur die Versicherten, die nicht unbedingt auf den Arzt angewiesen sind. Die sollen allerdings auch nicht hingehen, auch darüber muss man offen sprechen.

   Drittens. Die Menschen zahlen hinzu.

   Dieses GKV-Modernisierungsgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung und das müssen alle, die es beschlossen haben, auch nach draußen deutlich machen.

   Nun kommen wir allerdings an den Punkt, den Sie, Frau Merkel, angesprochen haben und der Sie offensichtlich besonders berührt: die Zahnersatzpauschale. Die Zahnersatzpauschale war Ihre Idee, sie ist ein Stück Ideologie. Das haben wir immer so gesehen und das haben wir auch so gesagt. Sie haben eine andere Vorstellung als wir davon, wie es beim Gesundheitswesen weitergehen muss. Diese Zahnersatzpauschale war gewissermaßen der Feldversuch für die Kopfpauschale, die folgen soll.

   Bei der Umsetzung stellt sich nun heraus, dass der Einzelne nicht eine Pauschale von monatlich 4,60  Euro wird zahlen müssen, wie es damals angekündigt war. Vielmehr werden es 2 oder 3 Euro mehr sein, weil sich mit dieser komplizierten Pauschale erhöhte Verwaltungskosten verbinden. Das bedeutet, dass jeder Versicherte 10 bis 20 Euro im Jahr zusätzlich für Verwaltungskosten zahlen müsste. Bei allem Respekt vor Ihren Ideen, Frau Merkel: Das ist es uns nicht wert und deshalb wollen wir diese Pauschale nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Für Sie wäre es das Einfachste, schlichtweg zuzugeben, dass das ein Irrtum war, dass man solche Pauschalen so nicht organisieren kann, weil das so teuer wird, wie es sich jetzt herausstellt. Wir wollen eine vernünftige neue Regelung haben. Das Gesetz ist eingebracht und meine dringende Empfehlung an Sie ist, mit uns zu stimmen, damit wir für den Zahnersatz eine vernünftige Lösung finden. Wir würden auf der Arbeitgeberseite eine Senkung der Lohnnebenkosten um 0,2 Prozent erreichen, wenn weiter ein normaler prozentualer Beitrag kassiert würde.

   Die Agenda 2010 beginnt auch an anderen Stellen zu wirken. Das gefällt nicht allen und einiges hat sich in diesem Sommer dazu zugetragen. Sie haben bereits einige Punkte angesprochen, Frau Merkel, aber auch ich will noch ein paar Anmerkungen zu den Hartz-Gesetzen machen, vor allem zum Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt.

   Wenn eine Opposition die Bundesregierung heftig angreift, gehört das zum Geschäft. Wir sind nicht wachsweich und auch alt genug, um das zu wissen, und können damit umgehen. Wenn die Opposition aber, so wie diese Opposition, gänzlich anders redet, als sie handelt, wenn sie intern im Vermittlungsausschuss den puren Kapitalismus fordert und draußen die katholische Soziallehre auf den Lippen hat,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

wenn sie Mitverantwortung leugnet, dann zeigt dies eines, Frau Merkel: Ihnen fehlt Mut, Ihnen fehlt Ausdauer, Sie haben kein Rückgrat in dieser Opposition.

Das Land ist froh, dass das Paar an der Spitze nicht Merkel/Westerwelle heißt. Da bin ich ganz sicher.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Das hat selbst Stoiber erkannt! – Weiterer Zuruf von der SPD: Andere auch!)

   Ich will – weil das im Sommer so gelaufen ist, wie es gelaufen ist – noch einen Punkt nacharbeiten, Frau Merkel, den ich bisher immer sanft behandelt habe, nämlich betreffend Ihre Politik in den 80er- und 90er-Jahren. Damals schon war das Ausmaß der Globalisierung und der demographischen Entwicklung bekannt. Dennoch haben Sie, wie bei der Rentengesetzgebung, nur kleine Akzentuierungen versucht.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Aber das hat der heutige Bundeskanzler nicht zum Ausdruck gebracht!)

Es ist damals von Ihnen nichts getan worden. Sie haben schön geredet, aber für das Land nichts getan. Obwohl in den 80er- und 90er-Jahren schon etliches absehbar war, hat das bei Ihnen nicht zu durchgreifenden Vorschlägen und entsprechenden politischen Aktivitäten geführt. Im Gegenteil, Sie haben Illusionen verbreitet.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das haben Sie!)

Sie haben die Arbeit liegen lassen, die eigentlich hätte getan werden müssen, Sie haben die Probleme in den 80er- und 90er-Jahren ungelöst gelassen, Sie haben Schuldenberge aufgebaut, Sie haben dieses Land an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht, Sie haben die Einheit unverantwortlich finanziert, Sie haben auf „Weiter so!“ gesetzt, Sie haben die Investitionen in Innovationen gekürzt, Sie haben im Ohrensessel gesessen und abgewartet, was denn werden würde. Das ist die Wahrheit der 80er- und 90er-Jahre, mit deren Folgen wir es noch heute zu tun haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben – da versuche ich ehrlich zu sein –

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sind Sie aber nicht!)

in den 90er-Jahren nicht besonders gedrängelt. Das bestreite ich nicht.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie haben in den Ohrensesseln gesessen!)

Aber wenn ich mir ansehe, mit welcher Arroganz Sie und Frau Merkel hier versuchen, nach sechs Jahren ein Urteil über diese Koalition zu sprechen, ein Vorurteil zu verbreiten, muss ich sagen: Dann müssen wir genauer auf den Vorlauf dieser Koalition schauen. Wir werden über einiges noch etwas nachdrücklicher sprechen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Auch über Ihre Position! – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Kurzzeitgedächtnis!)

   Das Gesetz zur Arbeitsmarktreform haben wir gemeinsam beschlossen; beteiligt waren der Bundestag, der Bundesrat und der Vermittlungsausschuss. Das Optionsgesetz, das sich mit der Frage auseinander setzte, wie das vor Ort organisiert werden soll, hat im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss zu großen Auseinandersetzungen geführt. Weil Frau Merkel eben aus dem Vermittlungsausschuss berichtet hat und gesagt hat, man habe heftig darum kämpfen müssen, ob es solche Optionen gebe oder nicht, will ich noch einmal an folgende Situation erinnern: Als der hessische Ministerpräsident dafür gefightet hat, dass das Optionsmodell überall gelten solle, haben wir ihm – wie auch Herrn Milbradt – angeboten: In ganz Hessen und für ganz Sachsen kann das gerne so gelten. Dazu aber haben sie Nein gesagt.

(Friedrich Merz (CDU/CSU): Ist doch nicht wahr!)

An dem Abend ist mir klar geworden, dass Sie die Sache nicht wirklich vernünftig regeln wollten, sondern dass Sie taktiert haben. Das beherrscht Ihre Politik zu Hartz IV immer noch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun will ich Ihnen, Frau Merkel, einige Personen aus Ihren Reihen vorhalten, die sich in den letzten Tagen und Wochen zu der Arbeitsmarktreform und dem, was zu tun ist, geäußert haben. Sie haben Karl Nolle zitiert. Ich schicke ihm das gerne zu. Er hat es verdient. Ich will Ihnen aber die Äußerungen einiger anderer Personen vorhalten und Sie damit konfrontieren. Dann können Sie denen das ebenfalls zuschicken.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Hinterher zählen wir durch!)

Ich nenne erstens Herrn Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen. Herr Rüttgers stellt sich in den Landtag von Nordrhein-Westfalen und sagt in populistischer Weise, er wolle eine Gesamtrevision dieser Arbeitsmarktreform.

(Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Aber nicht im Landtag!)

Ich will Herrn Merz nicht ansehen. Ihm muss bei dem, was Rüttgers da veranstaltet hat, ganz schlecht geworden sein. Das kann er natürlich gar nicht einhalten, aber die Botschaft an das Land Nordrhein-Westfalen vor der Kommunalwahl und vor der Landtagswahl ist doch eindeutig: Ihr Stellvertreter Herr Rüttgers fordert eine Generalrevision dieser Arbeitsmarktreform. Es ist kein Zufall, dass eine Zeitung in Nordrhein-Westfalen, und zwar eine konservative, getitelt hat: „Rückzieher, dein Name ist Rüttgers“. Das, so finde ich, ist eine ordentliche Überschrift für den Vorgang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Dann kommt Herr Arentz, CDA, aus Köln und fordert Schonvermögen für die Altersvorsorge in Höhe von 1 000 Euro je Lebensjahr.

Das habe ich übrigens bei der PDS in Sachsen auch schon einmal gehört. Ich will aber keine Verbindung herstellen. Sprechen Sie mit Herrn Arentz darüber!

   1 000 Euro pro Jahr bedeuten bei einem Ehepaar – beide 60 Jahre alt, 120 000 Euro Altersvorsorge und je 12 000 Euro für den allgemeinen Verbrauch – 144 000 Euro. Hinzu kommen Wohnung, Auto und Riester-Rente. Wer so etwas fordert, Frau Merkel, verhöhnt diejenigen, die mit ihren Steuergeldern zu den Einnahmen beitragen, aus denen wir das Arbeitslosengeld II bezahlen. Was Sie da betreiben, ist unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Nun komme ich zu Herrn Milbradt,

(Zuruf von der SPD: Oberheuchler!)

der in einer seltsamen Art von Selbstkasteiung angekündigt hat, zu einer Demo zu gehen. Will er eine eigene Demo veranstalten oder wie muss man sich das vorstellen? Lassen Sie mich dazu ein paar Wahrheiten in Erinnerung rufen.

   Im Vermittlungsausschuss, Frau Merkel, ging es um die Frage, ob die unterschiedliche Struktur hinsichtlich der Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger in Ost- und Westdeutschland nicht besondere Reaktionen erfordere. Also wurde beschlossen, vorweg den neuen Bundesländern 1 Milliarde Euro zu gewähren. Der Freistaat Sachsen sollte 319 Millionen Euro erhalten. Meine dringende Bitte an Sie ist, Herrn Milbradt deutlich zu machen, dass diese 319 Millionen Euro nicht für die sächsische Landeskasse, sondern für die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit in den Städten und Gemeinden bestimmt sind. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben mit der Gemeindefinanzreform und durch das, was wir durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe den Städten und Gemeinden zukommen lassen, dazu beigetragen, dass diese zusätzlich zu der eben genannten 1 Milliarde Euro etwa 2,5 Milliarden in diesem Jahr und etwa 6 bis 6,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr erhalten werden. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, was aus diesen 6 bis 6,5 Milliarden Euro wird. Kommen sie der Konjunktur, dem Handwerk und den kleinen und mittleren Unternehmen zugute oder kommt es nur zu einer Umverteilung bei den Schuldenständen der Kommunen und des Bundes? Meine Erwartung an die CDU/CSU-Ministerpräsidenten und auch an Sie ist, dass Sie das aufgreifen und Ihren Leuten deutlich machen, dass wir in diesem und im nächsten Jahr erreichen müssen, dass die zusätzlich in die Städte und Gemeinden fließenden Mittel so eingesetzt werden, dass das Handwerk vor Ort und die kleinen Betriebe in der Region etwas davon haben und Arbeitsplätze entstehen. Das muss jetzt passieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich entnehme Ihrer Reaktion, Frau Merkel, dass wir einer Meinung sind. Dann ist meine herzliche Bitte, dass Sie dies Ihren Ministerpräsidenten und Oberbürgermeistern in aller Deutlichkeit sagen.

   An dieser Stelle möchte ich Klartext reden. Ich habe in dem gesamten Gesetzgebungsverfahren und insbesondere nach einigen Äußerungen von Herrn Koch und anderen den Eindruck gehabt, dass manche darauf warten, dass das Arbeitsmarktreformgesetz scheitern möge und man jemanden dafür verantwortlich machen kann. Ich will das nicht Ihnen persönlich unterstellen, aber rufen Sie sich einmal diesen Sommer in Erinnerung!

   Im Interesse der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit muss klar sein, dass in diesem Jahr – und zwar ab sofort – in allen Ländern, Städten und Gemeinden alle, die mithelfen können, dafür sorgen, dass diese wichtige Operation gelingt. In dem Gesetz geht es nicht primär um die Veränderungen der Transfers; vielmehr hat das Gesetz zum Ziel, die Langzeitarbeitslosigkeit zu reduzieren. Entsprechende Ansätze sind vorhanden. Das Gesetz wird das Problem zwar nicht vollständig lösen, aber wenn wir es im nächsten Jahr schaffen, einige Zehntausend oder Hunderttausend aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszuholen, dann ist das, was wir gemeinsam beschlossen haben, gelungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Sie müssen aber dafür sorgen, dass niemand von Ihnen das Gesetz boykottiert oder hängen lässt und darauf wartet, was wohl daraus werden könnte. Wir werden schon aktiv werden müssen. Das gilt auch für alle vor Ort.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Müller im Saarland fordert auch nach der Wahl noch, die Zahldauer für das Arbeitslosengeld zu ändern. Das hat nichts mit Hartz IV zu tun, sondern ist ein ganz anderes Thema, aber er spricht darüber. Auch dazu, Frau Merkel, wäre eine klare Botschaft nach draußen sehr hilfreich.

   Sie, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben am 18. Juli 2003 beschlossen, dass das Arbeitslosengeld I im ersten Monat der Zahlung um 25 Prozent reduziert werden soll. Das haben wir abgelehnt. Dann haben Sie auf Ihrem anschließenden Bundesparteitag beschlossen, dass nur diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, Anspruch auf eine 18-monatige Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I haben sollen, während für alle anderen eine zwölfmonatige Bezugsdauer gelten soll. Das setzen wir im Augenblick um. Nun sagt aber Herr Müller, es müsse länger Arbeitslosengeld gezahlt werden. Das ist auch für uns Sozialdemokraten keine leichte Entscheidung. Aber es gibt eine Entwicklung in diesem Land, mit der wir uns nicht abfinden können. Dadurch, dass Mitte der 80er-Jahre unter Norbert Blüm die Zahldauer für das Arbeitslosengeld auf bis zu 32 Monate verlängert wurde – bis dahin galt für alle eine zwölfmonatige Zahldauer; wir haben damals Beifall geklatscht; ich will uns gar nicht außen vor lassen –, haben wir eine Mentalität in diesem Lande erzeugt, die inzwischen dazu führt, dass beispielsweise 53-, 54- und 55-jährige Arbeitnehmer schräg angeschaut werden, wenn sie nicht freiwillig in den Vorruhestand gehen. Das ist keine gesunde Entwicklung. Deshalb ist die Reduzierung der Zahldauer für das Arbeitslosengeld eine vernünftige Entscheidung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Den Kritikern – dazu zähle ich auch Herrn Müller; denn anders kann ich das, was er sagt, nicht verstehen; vielleicht erläutern Sie mir das einmal – sage ich, dass es lange Übergangsfristen gibt. Wer bis zum 31. Januar 2006 Arbeitslosengeld I bezieht, erhält das volle Arbeitslosengeld, und zwar bei gleicher Zahldauer wie bisher. Ein Beispiel: Ein 58-Jähriger bekommt bis Ende August 2008 Arbeitslosengeld I, also 32 Monate, wenn er es am 31. Januar 2006 erstmalig bezieht. Wenn er anspruchsberechtigt ist – das gilt natürlich auf für Frauen –, dann bekommt er danach zwei Jahre lang Arbeitslosengeld II, das im ersten Jahr um monatlich160 Euro und im zweiten Jahr um 80 Euro erhöht ist. Er bekommt das Arbeitslosengeld II also bis Ende August 2010. Ich bitte Sie! Wer will denn noch längere Übergangsfristen? Wir müssen erreichen, dass die bisherige Mentalität gebrochen wird. Diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, dürfen nicht nach Hause geschickt werden. Sie müssen in Arbeit bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte noch etwas zu Herrn Böhr sagen. Ich glaube, er ist Philosoph. Frau Merkel, Herrn Böhr kennen Sie? – Er hat in der vergangenen Woche in einer ostdeutschen Zeitung geschrieben, das Ganze sei ein Abkassiermodell. Da diejenigen aus Ihren Reihen, die Kritik üben, nicht am Rand Ihrer Partei stehen, appelliere ich an Sie: Sorgen Sie für Ordnung in Ihren eigenen Reihen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie dürfen nicht zulassen, dass das, was man an der einen oder anderen Stelle vermuten kann, wahr wird, nämlich dass die CDU/CSU durch ihren hinhaltenden Umgang mit dieser Thematik dafür sorgt, dass die Arbeitsmarktreform nicht ihre volle Wirkung entfaltet; denn das wäre zum Schaden der Langzeitarbeitslosen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das ist doch Quatsch! – Volker Kauder (CDU/CSU): Zuerst den Gesundheitskompromiss aufkündigen und dann solche Sprüche!)

Meine dringende Bitte: Sorgen Sie dafür, dass das Ihren Leuten klar wird! Heute haben Sie dazu jedenfalls kein Wort gesagt. Wenn Sie mit dieser Sache anständig umgehen wollten, dann hätten Sie heute hier gesagt: Jawohl, das haben wir gemeinsam beschlossen und das stehen wir auch gemeinsam durch. Wir sagen den Menschen, weshalb das richtig ist. – Aber das hat bisher niemand von Ihnen getan.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Quatschkopf! – Volker Kauder (CDU/CSU): Das gilt für den Gesundheitskompromiss nicht?)

Sie versuchen, sich an dieser Stelle einen schlanken Fuß zu machen, und hoffen, dass Sie sich hier durchmogeln können. Das ist die schlichte Wahrheit.

   Die Spitzenleistung hat aber Herr Schönbohm erbracht. Er hat gesagt, Herr Schröder solle sich zurückhalten, wenn er in die neuen Bundesländer komme, weil die Stimmung so angeheizt sei. Das hat wirklich ein Geschmäckle. Wenn ein Innenminister eines Bundeslandes, der auch für die innere Sicherheit zuständig ist, den Bundeskanzler bittet, er solle nicht sein Land besuchen, dann kann das natürlich ein Spaß sein. Das kann aber auch Zynismus sein. Die Art und Weise von Herrn Schönbohm finde ich jedenfalls ungeheuerlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben – begleitend zum Haushalt – eine Menge in Bewegung gesetzt. Es wird noch mehr hinzukommen. Ganz vorne steht die große Herausforderung – diese ist noch nicht perfekt beantwortet; an einer entsprechenden Antwort müssen wir alle noch arbeiten –, wie wir es schaffen, dass die in Deutschland vorhandene Arbeit von denjenigen Menschen getan wird, die legal in Deutschland sind. Das ist eine große Herausforderung. An dieser Stelle gibt es große Spannungen, manchmal auch zwischen uns und den Gewerkschaften. Aber dies ist eine entscheidende Herausforderung, vor der wir stehen.

Wie bringen wir es zustande, dass die in Deutschland zu leistende Arbeit von denjenigen Menschen getan wird, die legal hier leben?

   Wir können uns keine registrierten 4 Millionen oder 4,3 Millionen Arbeitslose – hinzu kommen stille Reserven im oberen Bereich und bei den Frauen – leisten. Die Erwerbsquote ist nämlich zu gering. Auch können wir es uns nicht leisten, dass es in diesem Lande massenhaft Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung gibt oder dass Menschen in dieses Land geholt werden, die bestimmte Arbeiten für uns machen sollen.

   In Deutschland fehlen 20 000 bis 30 000 Pflegerinnen und Pfleger. Wenn dieses Problem größer wird, werden wir dann in Deutschland die Kraft haben, es mit Arbeitskräften aus unserer Bevölkerung zu lösen, oder werden wir uns 50 000 Koreanerinnen oder Polinnen holen müssen, damit diese Arbeit getan wird? Es kann nicht sein, dass das so läuft. Weil das so ist, müssen wir uns miteinander darüber klar sein: Wir müssen erreichen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind. Aber wir müssen miteinander auch erreichen, dass sie nicht die Gunst oder Ungunst der Stunde nutzen, ein Lohndumping in Bewegung zu setzen, das man so nicht wollen kann.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Da ist in Ostdeutschland, auch an manchen anderen Stellen vieles in Bewegung, worüber wir miteinander sprechen müssen. Auch deshalb dreht sich die Debatte um die Frage, ob ein Mindestlohn sinnvoll ist oder nicht. Als Anhänger der Tarifautonomie bin ich da immer sehr skeptisch gewesen. Aber die Debatte darüber, was man eigentlich tun kann, müssen wir führen.

   Das, was Frau Merkel angesprochen hat – die Zahlung von Lohnkostenzuschüssen aus der Staatskasse; wenn ein Unternehmer nur 3 Euro zahlt, dann soll der Rest des Lohns aus der Staatskasse finanziert werden –, kann es doch nicht sein. Wenn das so aber nicht gemeint ist, dann frage ich: Welche andere Methode haben wir, um zu erreichen, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind, ohne die Menschen zu missbrauchen, indem sie sie mit Lohndumping überziehen? Mit diesem Problem haben wir in Deutschland im Augenblick zu kämpfen. Darüber haben wir mit den Gewerkschaften, aber auch mit den Arbeitgeberverbänden zu sprechen.

   Es wäre sehr hilfreich, wenn bei den Unternehmen in Deutschland zwei Dinge, die, wie ich denke, sehr hinderlich sind, klarer würden:

   Unternehmen müssen nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Europa und weltweit vertreten sein. Dass das gut ist, bezweifelt keiner von uns. Die Tatsache, dass Unternehmen weltweit vertreten sind, stärkt unsere Wirtschaft ganz zweifellos und trägt zu unserem Wohlstand bei. Bei manchen Unternehmen hat man freilich den Eindruck, dass sie um eines kleinen Vorteils willen die eigenen Mitarbeiter drängen und pressen oder ins Ausland gehen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Verdi!)

– Herr Kauder, passen Sie auf! – Es gehört zur Unternehmensethik dazu, dass die Unternehmen in Deutschland wissen: Sie sind den Menschen verantwortlich, durch die sie reich geworden sind und die bei ihnen beschäftigt sind. Ich wiederhole meinen Appell an die Unternehmen an dieser Stelle: Man soll versuchen, wettbewerbsfähig zu sein und dabei bis an die Grenze dessen gehen, was möglich ist. Man soll sich aber auch bewusst sein, dass Unternehmen für die Menschen, die bei ihnen einen Arbeitsplatz haben, verantwortlich sind. Die Unternehmen dürfen mit den existenziellen Sorgen der Menschen nicht spielen; sie dürfen mit ihnen kein Schindluder treiben. Leider kommt auch das vor.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es wäre schon ganz gut, wenn die Bezieher großer Einkommen in diesem Lande im Umgang mit ihrem Verdienst mehr Transparenz zeigten. Mit anderen Worten: Es wäre gar nicht so schlecht, wenn die Bereitschaft größer wäre, offen zu legen, wie viel man verdient oder bekommt, was ja nicht immer dasselbe ist. Man sollte wenigstens sagen, was so in die Tüte fließt. Das gilt nicht nur für die großen Unternehmen, für die Vorstände und für die Aufsichtsräte, sondern auch für die großen Medien in diesem Land. Es wäre auch einmal ganz gut, zu wissen, wie deren Einkommen eigentlich so aussieht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das darf man vielleicht einmal ein bisschen kess sagen; schließlich konzentrieren sie sich meistens auf uns.

   Ich will noch kurz ein paar Punkte ansprechen, die für das nächste Jahr ebenfalls wichtig sind. Stichworte: Investitionen und Innovationen. Wir haben uns vorgenommen, für diesen Bereich zusätzliches Geld zu mobilisieren. Frau Merkel, Herr Merz, meine Erwartung an Sie ist, dass Sie uns schnell sagen, wo man Subventionen abbauen kann. Ich weiß, dass die Abschaffung der Eigenheimzulage nicht allen leicht fällt; auch bei uns ist das so. Die Eigenheimzulage war ein Instrument, das über Jahre und Jahrzehnte größte Bedeutung gehabt hat und auch sinnvoll war. Aber wir müssen in Deutschland eine Wohnungs- und Städtebaupolitik machen, die sich auf das einrichtet, was heute und für die Zukunft wichtig ist. Das werden wir nicht beiseite schieben. Die Tatsache, dass wir hier die Eigenheimzulage infrage stellen, signalisiert nicht: Man muss sich nicht mehr um Wohnungs- und Städtebau kümmern. Dafür wird man da sein müssen, zwar nicht in dem bisherigen Umfang, aber doch zumindest teilweise.

   Trotzdem müssen wir sehr bald wissen: Werden wir das Geld für Innovationen in diesem Lande haben oder nicht? Sie müssen wissen, dass derjenige, der sich an dieser Stelle verweigert, dazu beiträgt, dass im Bereich der Innovationen nicht das getan werden kann, was getan werden muss.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Zur Bürgerversicherung will ich heute nur ein paar Worte sagen. Sie wissen, wir haben dazu Eckpunkte beschlossen. Ich freue mich auf die offene Debatte, die es dazu hoffentlich geben wird. Für uns ist dabei klar: Es wird im Kern ein solidarisch finanziertes System bleiben. Die Finanzierung wird durch Verbeitragung oder entsprechende Besteuerung hoher Einkünfte ergänzt. Es bleibt bei der bisherigen Qualität. Die Bürgerversicherung ist keine Versicherung zweiter Klasse. Es wird PKV und GKV wie bisher geben. Die GKV hat die Chance, sich zu stabilisieren, nicht zuletzt dadurch, dass wir die Versicherungspflichtgrenze aufgeben und auch junge, günstige Risiken die Bürgerversicherung bei der GKV nutzen können. Es bleibt dabei, dass wir im System insgesamt die Effizienz deutlich verbessern müssen.

   Frau Merkel, schauen Sie sich anhand der Zahnersatzpauschale an, wie das so mit Kopfpauschalen ist, was das kostet und wie groß die Sinnhaftigkeit solcher Unternehmen ist! Herr Seehofer hat es schon sauber vorgerechnet. Es war einmal von 24 Milliarden Euro und einmal von über 30 Milliarden Euro die Rede, die aus der Steuerkasse sozusagen quer gezahlt werden müssen, damit die unteren Einkommen das alles noch bezahlen können.

   Stichwort: direkte Demokratie. Ich finde die Debatte hochinteressant. Wir haben in dieser Koalition in der letzten Legislaturperiode vorgeschlagen, Methoden der direkten Demokratie mit vernünftigen Quoren auch bei uns in Deutschland einzuführen. Wir wollen keine Verrücktheiten, aber unter bestimmten Bedingungen, unter bestimmten Voraussetzungen müssen Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide möglich sein. Das haben Sie damals abgelehnt.

   Nun haben wir vereinbart, das wieder einzubringen. Jetzt sagen einige von Ihnen: auch Referenden, nicht nur direkte Demokratie sozusagen von unten, sondern auch Befragung von oben durch den Deutschen Bundestag oder die Bundesregierung mit entsprechendem Quorum, mit entsprechender Qualität. – Deshalb werden wir den Gesetzentwurf gemeinsam einbringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   In Teil 1 wird es um die direkte Demokratie gehen – Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid – und in Teil 2 wird stehen, unter welchen Bedingungen Volksbefragungen stattfinden können.

   Wichtig ist, dass das schnell geschieht; denn in einem sind wir uns ganz einig: Im Grundgesetz wird es keine Lex „europäische Verfassung“ geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir uns hier mit der nötigen Mehrheit darauf verständigen können, das, was ich eben angesprochen habe, ins Grundgesetz zu schreiben, können wir das miteinander machen. Herr Westerwelle, ich schaue Sie einmal an; Sie haben sich ja weit aus dem Fenster gehängt. Die Zweidrittelmehrheit bekommen wir hin. Wenn die Sozialdemokraten und die Grünen und die FDP und die CSU, die das ja auch will, miteinander stimmen, haben wir 409 Stimmen. Also lassen Sie uns das miteinander machen und dafür sorgen, dass vielleicht auch die CDU das irgendwie mitmacht.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Und was machen Sie dann mit der Verfassungsentscheidung? Heißt das, dass auch über die Türkeifrage abgestimmt wird?)

– Bitte?

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wird über die Türkeifrage dann auch abgestimmt? – Michael Glos (CDU/CSU): Wird dann auch über die Türkei abgestimmt?)

– Im Moment

(Unruhe bei der CDU/CSU)

– hören Sie zu! – reden wir über die generelle Frage der Regelung. Wenn das so kommt, dann wird im Grundgesetz stehen, dass es im Prinzip eine Möglichkeit der Befragung gibt. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten miteinander darüber diskutieren, unter welchen Bedingungen das dann möglich sein soll. Laufen Sie an der Stelle nicht gleich wieder weg!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ich bin noch hier! Ich höre ja zu! – Michael Glos (CDU/CSU): Ärgern Sie bitte nicht den Bundeskanzler! – Volker Kauder (CDU/CSU): Der Bundeskanzler ist hoch frustriert und der Außenminister auch!)

   Ich will Sie noch über etwas informieren. Wir werden in dieser Koalition in diesem Herbst – das haben wir uns vorgenommen – das Thema der Antidiskriminierung neu auf die Tagesordnung setzen. Das ist auch kein einfaches Thema. Das wird uns in diesem und im nächsten Jahr ganz sicher begleiten. Sie wissen, dass es dazu Richtlinien in Europa gibt. Wir werden dafür sorgen, dass wir in Deutschland entsprechend dem, was in Europa aufgeschrieben ist, handeln. Wir werden zu prüfen haben, ob und, wenn ja, in welcher Weise wir das Antidiskriminierungsgesetz auch noch darüber hinaus ausgestalten.

   Wir haben uns in dieser Koalition in dieser Legislaturperiode noch mehr als in der vergangenen auf einen schwierigen Weg gemacht. Fortschritt erfordert Anstrengung. Aber wir kommen voran. Ich bin ganz sicher, dass die starken Unternehmen, die qualifizierten Arbeitnehmer, die Infrastruktur, das leistungsfähige Bildungssystem und die Wohlstandsbasis, die wir in diesem Land haben, gute Voraussetzungen dafür sind, dass wir gemeinsam diesen guten Weg weitergehen können – in diesem und im nächsten Jahr und weit darüber hinaus.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir, diese rot-grüne Koalition, werden Deutschland in eine gute Zukunft führen.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Davon wird uns auch nicht eine lahme und opportunistische Opposition abhalten können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber Besserung ist Ihnen ja möglich.

   Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Kampeter von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Steffen Kampeter (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Müntefering hat am Anfang seiner Rede einen Rückblick in die 80er- und 90er-Jahre gegeben. Wir Christlichen Demokraten scheuen den Blick in die 80er- und 90er-Jahre überhaupt nicht. Gerade die 16 Jahre, die wir regiert haben, waren gute Jahre für Deutschland.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)

Nur, am Anfang des 21. Jahrhunderts helfen für die Lösung der jetzt anstehenden Fragen nostalgische Betrachtungen überhaupt nicht weiter. Sie dienen vielleicht der emotionalen Befriedigung einer Fraktion, die mehr leidend als leidenschaftlich dem Kurs dieser Bundesregierung folgt. Sie beinhalten aber keinen Hinweis darauf, wie die rot-grüne Bundesregierung die in diesem Land anstehenden Haushalts- und Zukunftsfragen beantworten möchte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ein weiterer Hinweis, Herr Kollege Müntefering: Sie haben am Anfang Ihrer Rede auch das Erstarken der rechtsradikalen Kräfte bei der Saarland-Wahl angesprochen. Sie haben die Union ermahnt, nicht die Sozialdemokraten dafür verantwortlich zu machen. Ich bin der Debatte heute Vormittag sehr interessiert gefolgt. Ich habe nicht gehört, dass irgendein Redner der Union die Sozialdemokratie für das Erstarken der NPD im Saarland verantwortlich gemacht hätte.

(Joachim Poß (SPD): Was? Frau Merkel!)

Ich bin sicher, dass auch alle anderen Redner der Union und nicht nur die von heute Morgen Oskar Lafontaine dafür verantwortlich machen, dass die radikalen Kräfte am linken und am rechten Rand wieder erstarken.

(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen, Herr Müntefering, bedarf es auch keiner Ermahnung der Union,

(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

sondern es liegt an der deutschen Sozialdemokratie, das Verhältnis zu Oskar Lafontaine abschließend zu klären, liebe Freunde, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   In den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen, Herr Müntefering, haben Sie die Arbeitsmarktpolitik gestellt.

(Petra-Evelyne Merkel (SPD): Nicht wegducken, sondern etwas dazu sagen!)

Auf dem Arbeitsmarkt sind die Reformen, die Sie ja jetzt nicht mehr mit dem Schlagwort „Hartz“ bezeichnen, allenfalls ein Einstieg in eine Politik, die wir von der Union für notwendig erachten. In ihrer Wirkung sind sie in Teilen allerdings völlig überschätzt worden. Von den vollmundigen Ankündigungen einer Halbierung der Arbeitslosenzahl, Herr Müntefering, ist heute nichts mehr übrig. Die Union hat all denjenigen Teilen der Hartz-Reformen, die auf mehr Flexibilität und Öffnung des Arbeitsmarktes zielen, im Deutschen Bundestag zugestimmt.

   Wenn Sie sich fragen, wie sich die Christlich Demokratische Union bezüglich der Umsetzung von Hartz IV verhält, dann empfehle ich Ihnen, doch einmal nach Nordrhein-Westfalen zu schauen. Wir haben im Vermittlungsausschuss von Deutschem Bundestag und Bundesrat deutlich gemacht, dass wir den Kommunen mehr zutrauen als der Arbeitsverwaltung und haben uns für ein umfassendes Optionsmodell ausgesprochen. Das, was dabei herausgekommen ist, entspricht nicht ganz unseren Wünschen, denn in Nordrhein-Westfalen gibt es mehr Kommunen und Kreise, die gemäß dem Optionsmodell optieren wollen, als Sie zuzugeben bereit sind. Wir arbeiten überall da, wo die Möglichkeiten gegeben sind, Arbeitslosen zu helfen und Brücken in die Beschäftigung zu bauen, aktiv mit, meine sehr verehrten Damen und Herren. Keiner aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt sich hier in irgendeinen Busch,

(Jörg Tauss (SPD): Ihr seid der Busch!)

sondern wir sind auf der Seite derjenigen, die sich für mehr Beschäftigung in diesem Land einsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß (SPD): Alter Buschkrieger!)

   Wir kritisieren allerdings die dilettantischen Elemente, insbesondere in der Kommunikationsarbeit der Bundesregierung, bei der Umsetzung und Erläuterung dieses Reformvorhabens. Wir haben in den vergangenen Wochen erlebt, dass die Bundesregierung zum ersten Mal Hartz IV nicht nur durch Überschriften darstellt, sondern auch mit Texten erläutert. Gerade das lange Schweigen der Bundesregierung über das gemeinsam getragene Reformwerk Hartz IV hat zu den Verwirrungen, Verirrungen und Täuschungen bezüglich des Wesensinhaltes dieses für den Arbeitsmarkt notwendigen Reformwerks geführt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nach wie vor fehlt es aber an ergänzenden Elementen zu dieser Arbeitsmarktreform. Eine durchgreifende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, wie wir sie in unserem Arbeitsmarktreformgesetz bereits vor einigen Monaten vorgeschlagen haben, ist erforderlich, damit die notwendigen und angesichts der Kürzungen der aktiven Leistungen von allen Seiten eingeforderten Arbeitsplätze von der Wirtschaft geschaffen werden können. Wenn Sie vor dem Hintergrund, dass wir über Hartz IV und die 1-Euro-Jobs die Tarifstruktur öffnen und einen Niedriglohnsektor schaffen wollen, jetzt eine Diskussion über Mindestlöhne in Deutschland beginnen, dann erweisen Sie den bisherigen Reformen einen Bärendienst und schrecken investitionsbereite Unternehmen eher ab, als mehr Beschäftigung in Deutschland zu schaffen.

   Dies gilt auch für die Abschaffung des demographischen Faktors in der Rentenversicherung. Das Thema wurde von Ihnen, Herr Müntefering, hier kurz angesprochen. Bisher hat Rot-Grün nur Notoperationen vorgenommen, um den Beitragssatz stabil zu halten. Deshalb besteht in diesem Jahr erstmals die Gefahr, dass die Rentenversicherung einer Liquiditätsspritze aus dem Bundeshaushalt bedarf. Das von Rot-Grün angesichts der explodierenden Bundeszuschüsse beschlossene Nachhaltigkeitsgesetz ist völlig unzureichend, um den demographischen Herausforderungen gerecht zu werden. Was wir brauchen, ist eine deutliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine Entscheidung, um die sich die rot-grüne Bundesregierung bis zum heutigen Tag gedrückt hat.

   Vom Bundeskanzler und auch vom Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion ist die Gesundheitsreform angesprochen worden. Die Gesundheitsreform scheint sich, zumindest unter finanziellen Gesichtspunkten, nach den ersten Monaten dieses Jahres als Erfolg herauszustellen. Aber ich will auf eines hinweisen, Herr Müntefering, damit das nicht in Vergessenheit gerät: Der Gesetzentwurf, den Ihre dafür zuständige Gesundheitsministerin Anfang des vergangenen Jahres eingebracht hatte, hätte zu diesen Einsparungen im Gesundheitswesen nicht geführt. Er war ein dirigistischer Angriff zur Zerschlagung eines freien und selbst verwalteten Gesundheitswesens,

(Beifall bei der CDU/CSU)

das wichtige Reformelemente noch nicht enthalten hatte. Das Maß an Eigenbeteiligung und Eigenverantwortung, das jetzt zu den Einsparungen im Gesundheitswesen führt, haben Sie überhaupt nur mithilfe der Union im Vermittlungsausschuss gegen Ihre Fraktionslinke durchsetzen können. Deswegen können Sie sich nicht hier hinstellen und sagen, die Opposition beteilige sich nicht an den für die Bevölkerung notwendigen und auch schmerzlichen Entscheidungen. Vielmehr sind wir es, die Ihre schrumpeligen Reformansätze in eine Fassung bringen, in der sie zumindest ein Minimum an Erfolg und Wirkung für die Bevölkerung unseres Landes erzielen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Dies gilt im Übrigen auch für die Steuerpolitik. Wir haben im vergangenen Jahr im Vermittlungsausschuss mit Ihnen einen Kompromiss zur Steuerpolitik geschlossen, der verschiedene Einsparungen umfasste, die uns schwer gefallen sind; dafür sind Sie uns in anderen Punkten entgegengekommen. Mit dem Haushaltsentwurf 2005 kündigen Sie diesen Kompromiss des Vermittlungsausschusses auf. Wenn sich hier jemand in die Büsche schlägt, dann sind Sie das, indem Sie die getroffenen steuerpolitischen Kompromisse infrage stellen.

   Sie stellen ja nicht nur das Vermittlungsausschussergebnis infrage. Im Zusammenhang mit der Vermögensteuer lese ich in den Zeitungen, dass die von Sozialdemokraten und Grünen erwogene Wiedereinführung der Vermögensteuer zu 50 Prozent ein Angriff auf die Kapitalanlagen von Rentnerinnen und Rentnern in der Bundesrepublik Deutschland sei. Ist das sozialdemokratische Reformpolitik? Ich kann das nicht erkennen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dies gilt auch für die Tabaksteuererhöhung. Im Rahmen der Gesundheitsreform haben wir schweren Herzens dieser für uns schwierigen Lösung zugestimmt. Wir haben aber unsere Auffassung deutlich gemacht, dass hohe Steuersätze die Gefahr bergen, dass weniger Geld in die Kassen kommt. Ihre Steuerpolitiker haben eine Erhöhung der Tabaksteuer trotzdem durchgesetzt. Aber anstatt dass mehr Geld zur Finanzierung der Gesundheitsreform in die Kassen fließt, führt diese Erhöhung wahrscheinlich dazu, dass wir am Ende dieses Jahres im öffentlichen Haushalt ein zusätzliches Loch in Höhe von 1 Milliarde Euro vorfinden werden.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

   Wir müssen auf diese Fragen jetzt Antworten finden. Da helfen uns nostalgische Betrachtungen der 80er-Jahre in keiner Weise.

(Beifall der Abg. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU))

Im Übrigen glaube ich, dass Sie, Herr Eichel, eine Party feiern und in Jubel ausbrechen würden, wenn Sie heute nur die Finanzprobleme hätten, die Herr Stoltenberg zu seiner Zeit gelöst hat.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wandel braucht Wahrheit. Nur Wahrheit schafft Vertrauen. Dieser Regierung mangelt es an der Fähigkeit, die Wahrheit vor dem Parlament auszusprechen. Sie verschweigt die Wahrheit über die Staatsfinanzen und die Wahrheit über die notwendigen Anpassungsmaßnahmen. Wir brauchen eine Regierung, die Vertrauen schafft und die den Menschen sagt, wie es in der Zukunft weitergehen soll. Sie muss eine verlässliche Politik machen, die länger als zwei oder drei Monate Bestand hat. Eine solche Regierung kann nur von der Union und der FDP gebildet werden.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das wäre das Letzte für Deutschland!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.

(Jörg Tauss (SPD): Jetzt wird es seriöser!)

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man die bisherige Debatte Revue passieren lässt, dann erkennt man, dass die Opposition versucht, damit durchzukommen, Reden von gestern zu halten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Zu der Kritik von Frau Merkel, die Regierung verunsichere die Menschen, weil sie nicht klarmache, wohin die Reise gehe, muss ich sagen, dass es sich um eine höchst unehrliche Analyse handelt. Dieses Vorgehen bezeichne ich sogar als ein bisschen frech.

(Jörg Tauss (SPD): Ganz frech!)

Der Widerstand und die Verunsicherung der Menschen, zum Beispiel über Hartz IV, rühren nämlich daher, dass sich viele erst jetzt klar machen, dass der Staat bestimmte Leistungen nicht mehr so finanzieren kann, wie sie es gewohnt waren. Das hat aber nichts damit zu tun, dass nicht klar ist, wohin die Reise geht. Es hat vielmehr damit zu tun - das müssen wir uns ehrlich eingestehen -, dass manche Dinge nicht mehr wie gewohnt auf Pump finanziert werden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Diese Ehrlichkeit und Konsequenz, die die rot-grüne Regierung mit ihren Reformen an den Tag legt, haben Sie nicht gezeigt. Herr Müntefering hat das wunderbar deutlich gemacht. Nein, Sie haben sich in ganz vielen Fällen versteckt. Früher haben Sie gerufen, Hartz IV gehe nicht weit genug. Jetzt ist von Ihnen dazu gar nichts mehr zu vernehmen. Das ist peinlich. Aber die Öffentlichkeit erkennt das.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Es besteht bei Ihnen außerdem ein Mangel an Vorschlägen, wie die schwierige Haushaltslage in den Griff zu bekommen ist. Herr Stoiber schlägt vor, überall 5 Prozent zu kürzen. Er schlägt damit vor, 4 Milliarden Euro bei der Rente zu kürzen. Ich bin einmal gespannt, ob Sie diese Forderung aufrechterhalten wollen.

(Jörg Tauss (SPD): Wir sind sehr gespannt!)

   Für Sie wird die Situation noch schwieriger dadurch – diese Unsicherheit hat man nach meiner Ansicht in der Rede der Oppositionsführerin gespürt –, dass die Union noch nicht neu aufgestellt ist. Es besteht bei Ihnen noch ein ganz großer Konflikt hinsichtlich des Konzepts zur Veränderung der sozialen Sicherungssysteme. Die Gesundheitsprämie mit der Abkopplung von den Lohnkosten ist zwar ein sehr ambitioniertes Projekt

(Volker Kauder (CDU/CSU): Richtig!)

– dafür hat Angela Merkel hier geworben – und Ihre Argumente muss man ernst nehmen. Aber Sie haben ein völlig illusionistisches Steuerkonzept daneben gestellt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Nein!)

Das passt nicht zusammen. Deswegen kann man Ihren Vorschlägen wirklich nicht trauen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Neben dem Fehlen von Vorschlägen ist zu kritisieren, wie Sie sich gegenüber unseren Vorschlägen und Lösungsangeboten verhalten. Mit einem besonderen Ausmaß an opportunistischer Neigung lassen Sie sich beim Subventionsabbau von Lobbygruppen beraten. Diese Art von Sperre ist unverantwortlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, wie wichtig im Bereich Bildung, Forschung und Innovationen das Dreiprozentziel ist. Sie werden verantworten müssen, dass wir nicht in dem notwendigen Maße Mittel für den Forschungsbereich zur Verfügung haben. Sie werden auch verantworten müssen, wenn wir bei der Schulentwicklung und insbesondere bei der Kinderbetreuung nicht so vorankommen, wie es gerade angesichts unserer demographischen Entwicklung eigentlich nötig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass Steuermittel auch allgemeine Deckungsmittel sind?)

- Ja, Steuermittel sind allgemeine Deckungsmittel. Sie meinen das jetzt auf die Eigenheimzulage bezogen. Ich finde unseren Vorschlag sehr sinnvoll. Sie müssen sich dazu verhalten, ob Sie ihn wirklich nicht unterstützen wollen. Ich glaube Ihnen das noch nicht einmal.

   Zum Abschluss möchte ich festhalten: Wenn Sie keine Kraft zum Subventionsabbau haben und stattdessen illusionistische Steuerkonzepte vorlegen, dann ist damit Ihre mangelnde Nachdenklichkeit – der Bundeskanzler hat heute zu Recht darauf verwiesen – offenkundig geworden. Ich kann Sie nur auffordern: Denken Sie nach! Bringen Sie Ihre Konzepte zusammen! Sperren Sie sich nicht gegen den heute notwendigen Subventionsabbau! Nehmen Sie die Empfehlungen Ihrer Experten, die Sie selber auswählen – das Kieler Wirtschaftsinstitut ist oft dabei –, ernst und bremsen Sie die Regierung nicht bei richtigen Reformen! Denken Sie nach! Ich glaube, dann kommen Sie zu größerer Ehrlichkeit in der Politik. Das steht auch der Opposition gut. Damit gewinnt man dann auch wieder das Vertrauen der Bevölkerung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das macht die Sache nicht besser!)

   Uns als PDS wurden in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV vom Kanzler und seinen Verbündeten, aber auch von einigen Medien viele unbegründete Vorwürfe gemacht.

(Lachen der Abg. Waltraud Lehn (SPD))

Ich will mich sachlich mit diesen Vorwürfen auseinander setzen.

(Carsten Schneider (SPD): Das wäre etwas Neues!)

   Der erste Vorwurf ist, die PDS spalte unser Land und argumentiere gegen den Westen. Das Gegenteil ist richtig. Hartz IV ist ein Gesetz der großen Koalition aus SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP. Mit diesem Gesetz ist die Spaltung festgeschrieben: Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Osten bekommt 331 Euro, einer im Westen 345 Euro. Dieser Unterschied ist durch nichts zu rechtfertigen. Wenn man die Lebenshaltungskosten in Deutschland vergleicht, kann man eher ein Gefälle zwischen Nord und Süd oder zwischen Stadt und Land erkennen als eines zwischen Ost und West. Aber es kommt keiner auf die Idee, zum Beispiel unterschiedliche Sätze für München und Fürstenau zu zahlen.

   Es ist auch falsch, dass wir Stimmung gegen den Westen machen. So etwas werden Sie in keiner Rede und in keinem Beschluss von uns finden. Schauen Sie sich einmal die Wahlergebnisse im Saarland an: Die SPD hat im Vergleich zu den Wahlen von 1999 absolut 45 Prozent der Stimmen verloren. Die PDS dagegen hat im Saarland 128 Prozent dazugewonnen.

(Lachen der Parl. Staatssekretärin Ute Voigt)

   Was will ich damit sagen? Das zeigt, dass viele Menschen im Westen erkannt haben, dass es nicht um die Ost-West-Verteilung geht, sondern um die Verteilung zwischen oben und unten.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Die rot-grüne Regierung hat wie eine seelenlose Umverteilungsmaschine die Politik der alten kohlschen Regierung fortgesetzt und weiter von unten nach oben umverteilt. Ich erinnere nur an die Senkung des Höchststeuersatzes ab dem 1. Januar 2005. Ein besonderes Geschmäckle an dieser Sache ist, dass am gleichen Tag das Arbeitslosengeld II in Höhe von 331 bzw. 345 Euro eingeführt wird.

   Der zweite Vorwurf an uns als PDS lautet, wir seien populistisch. Auch dieser Vorwurf ist falsch. Wir haben von Anfang an hier im Bundestag und auch im Bundesrat klar gegen die Hartz-Gesetze votiert. Es ist nur konsequent, dass wir jetzt zusammen mit den Betroffenen auf der Straße gegen dieses Gesetz demonstrieren.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Die Leiterin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach sagt zu diesem Vorwurf – ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren –:

Die PDS ist mit ihrem Protest bei sich selbst, ist authentisch. Sie war immer gegen Einschnitte in das soziale Netz …

   Der dritte Vorwurf lautet, wir als PDS würden wider besseres Wissen die notwendigen Reformen ablehnen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Stimmt!)

Dazu möchte ich einen unverdächtigen Zeugen anführen. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist der letzte Keynesianer!)

traf den Nagel auf den Kopf, als er auf die Frage, ob Hartz IV so etwas wie ein Bypass für den deutschen Herzpatienten sei, antwortete:

Nein, sie kommt mir eher vor wie eine Bypass-Operation für einen Asthmakranken. Dem Patienten wird viel zugemutet, doch er profitiert nicht davon.

Bofinger weiter:

Das Arbeitslosengeld II bleibt ein erhebliches Risiko für die Konjunktur. Bedroht sind nicht nur die 3 Millionen Langzeitarbeitslosen, von denen viele erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, es werden auch mehr als 34 Millionen Beschäftigte verunsichert.

   Das ist ein vernichtendes Urteil für die Bundesregierung. Ihr Programm ist ökonomisch unvernünftig, weil Sie die Arbeitslosen finanziell unter Druck setzen, ohne ihnen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Im Gegenteil: Die Chancen werden noch geringer werden, weil Sie den Menschen mit Ihrem Programm das Geld aus der Tasche ziehen und damit die Binnennachfrage schwächen. Die Schwächung der Binnennachfrage wird die Konjunktur nicht ankurbeln, sondern bremsen und damit den Arbeitsplatzabbau beschleunigen.

   Ich möchte ein weiteres Zitat ausführen. Jim O’Neill, Chefvolkswirt von Goldman Sachs – er ist kein Freund der PDS, schätze ich –, sagt zum Problem der sinkenden Binnennachfrage: Die Bundesregierung sollte an alle Haushalte Schecks verteilen, die sofort eingelöst werden können. Sie aber machen natürlich das Gegenteil, Sie nehmen den Menschen Geld weg und wundern sich anschließend über die sinkende Binnennachfrage.

   Ich finde, es ist nicht mehr von dieser Welt, wenn eine Abgeordnete der Grünen dazu aufruft, Produkte made in Germany zu kaufen, um Arbeitsplätze in unserem Land zu sichern. Die Kollegin hat offensichtlich noch nichts von der Globalisierung mitbekommen und klagt Patriotismus von den Konsumenten ein,

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Gut, dass die PDS viel weiter ist!)

während gleichzeitig die vaterlandslosen Gesellen, wie der Kanzler gern zu sagen pflegt, die Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagern.

   Der vierte Vorwurf, der uns gern gemacht wird, lautet, dass die PDS den Menschen Angst mache

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): So ist das!)

und es nicht zutreffe, dass Hartz IV Armut per Gesetz sei.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Stimmt!)

Dieser Vorwurf zeigt, wie weit Sie sich schon von den Menschen entfernt haben. Die Menschen haben begründete Angst und diese Angst wird ihnen nicht von uns, der PDS, eingejagt – damit würde man uns als PDS auch überschätzen –, sondern die Gesetze selbst machen den Menschen Angst.

   Frau Göring-Eckardt von den Grünen erklärt immer wieder, dass es vielen Menschen durch Hartz IV besser gehen würde. Das stimmt genau für 16 Prozent der Betroffenen. Sie werden mehr Geld haben als vor Hartz IV; aber 48 Prozent, also fast die Hälfte, werden weniger bekommen und ein Drittel der bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger wird gar keine Leistungen mehr erhalten.

   In Deutschland ist die Armutsrisikoquote nach Ihren eigenen Berechnungen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, im Laufe Ihrer Regierungszeit um etliche Prozent angestiegen. Für das Jahr 2005 sind für einen Alleinstehenden monatlich 613 Euro als steuerfrei zu stellendes Existenzminimum angegeben. Es ist also so sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Mehrheit der Arbeitslosenhilfeempfänger in Armut fallen wird. In Anbetracht dieser Zahlen frage ich mich wirklich, wie Sie über die Demonstrationen verwundert sein können. Ich würde mich wundern, wenn es keine gäbe.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Ein letzter Vorwurf, der besonders boshaft ist und den Sie uns besonders gern entgegenschleudern, besteht in der Gleichsetzung der PDS mit Neonazis, wie ihn beispielsweise auch der Kanzler in vielen Interviews gebraucht hat. Dazu will ich Ihnen eines sagen: Meine Kollegin Petra Pau und ich waren bei der letzten Montagsdemonstration in Berlin, auf der 10.000 Menschen gegen Hartz IV demonstriert haben. Nazis versuchten, sich in den Demonstrationszug einzuschleichen, sie wurden mit wütenden Pfiffen von den Demonstranten vertrieben und das war richtig so.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) – Waltraud Lehn (SPD): Ich kenne aber leider auch andere Bilder!)

   Bei der Wahl des Bundspräsidenten ging man mit den Nazis allerdings anders um. Ich darf nur daran erinnern, dass Hitlers Marinerichter, der in den letzten Kriegstagen Todesurteile gegen junge kriegsunwillige Soldaten unterschrieb, von der CDU, der SPD und den Grünen im Landtag von Baden-Württemberg einstimmig als Mitglied der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten nominiert wurde und sich kein Politiker der etablierten Parteien daran störte. Ich darf also diese absurde Gleichsetzung entschieden zurückweisen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Meine Damen und Herren, Sie machen nicht nur der PDS Vorwürfe, sondern Sie werfen pauschal allen Ostdeutschen Undankbarkeit vor.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das ist völlig unsinnig, was Sie da behaupten!)

Wie sollen Ihrer Meinung nach die Ostdeutschen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen? Die Ostdeutschen sehen die Transferzahlungen sowie die Verbesserung der Infrastruktur. Aber das eigentliche Problem, nämlich fehlende Arbeitsplätze, ist nicht gelöst. Die Ostdeutschen möchten eben nicht auf Dauer auf Transferzahlungen angewiesen sein.

(Waltraud Lehn (SPD): Das ist Stimmungsmache!)

Im Gegenteil. Sie wollen selbstbestimmt leben und das ist mit Transferleistungen nicht möglich und jetzt mit Hartz IV noch weniger als vorher.

(Carsten Schneider (SPD): Also sind Sie gegen Transferleistungen?)

   Ich werde das Thema Dankbarkeit einmal von einer anderen Seite beleuchten. Wo fordern Sie eigentlich die Dankbarkeit derjenigen ein, denen nach der Wende der ostdeutsche Markt in den Schoß gefallen ist und die dadurch saftige Extragewinne erzielen konnten, so zum Beispiel die Aldi-Brüder?

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Sie haben eine sehr verschobene Wahrnehmung!)

   Sie erwarten auch keine Dankbarkeit von Unternehmen, die durch die Politik von Rot-Grün keine Kapitalsteuer zahlen müssen. Sie nehmen es einfach hin, dass der weltgrößte Mobilfunkkonzern Vodafone 50 Milliarden Euro außerplanmäßig abschreiben will, um 20 Milliarden Euro an Steuern zu sparen. Warum klagen Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, nicht bei denen Dankbarkeit ein, die im Kalten Krieg ihren Schnitt gemacht oder sich durch üppige Abschreibungen die deutsche Einheit persönlich vergoldet haben?

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin, es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass ich relativ großzügig mit Ihrer Redezeit umgehe.

(Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Das war schon viel zu viel, Herr Präsident!)

Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):

Ja, ich bin gleich fertig. – Ich sage noch zwei, drei Sätze zum Thema Populismus.

(Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ausgerechnet Sie! – Waltraud Lehn (SPD): Na, na!)

Es ist Populismus, wenn die SPD den Wählern vor der Wahl soziale Gerechtigkeit und die Wiedereinführung der Vermögensteuer verspricht und dann nach der Wahl bei den Arbeitslosenhilfeempfängern abkassiert.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

   Der Vorwurf des Populismus trifft auch die Grünen, die auf ihrem Bundesparteitag die Einführung der Vermögensteuer beschlossen haben, aber nichts, aber auch gar nichts tun, um diesen Beschluss in Regierungshandeln umzusetzen.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos) – Volker Kauder (CDU/CSU): Weil sie jetzt die Partei der Besserverdienenden ist!)

   Abschließend sage ich Ihnen etwas zu den Demonstrationen und Ihren Reaktionen darauf, und zwar in Form eines Zitates aus der „taz“, das Sie sich vielleicht merken sollten. Ich zitiere letztmalig mit Erlaubnis des Präsidenten:

Jeden Montag Zehntausende auf die Straße zu bringen – das haben die Grünen, heute Adressat des Protestes, nicht einmal zu ihren besten Anti-AKW-Zeiten geschafft ... Dies zu ignorieren, dazu gehört schon eine gewisse Unverfrorenheit.

   Ich denke, der Protest gegen Hartz IV wird anhalten und stärker werden. Sie wären schlecht beraten, nicht darauf zu hören.

   Vielen Dank.

(Beifall der Abg. Petra Pau (fraktionslos))

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Frau Kollegin, ein bisschen Redezeit lässt sich dadurch einsparen, dass die Genehmigung für Zitate gar nicht mehr eingeholt werden muss. Das haben wir längst in der Geschäftsordnung geregelt.

   Im Übrigen nutze ich gerne die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass das Präsidium bei den zugegebenermaßen knappen Redezeiten, die für Nichtfraktionsmitglieder zur Verfügung stehen, entgegen einer oft verbreiteten Vermutung eher besonders großzügig verfährt.

   Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Joachim Poß für die SPD-Fraktion.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ja muss das auch noch sein? – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Der Stiegler-Ersatz! – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Der hat heute schon so unflätig rumgeschrien!)

Joachim Poß (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Lötzsch, mit Ihren Aussagen haben Sie eigentlich bewiesen, dass alle Vorwürfe an die Adresse der PDS voll berechtigt sind.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Warum habt ihr denn eine Koalition mit denen?)

Sie nutzen die Ängste der betroffenen Menschen schamlos aus.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das sind doch Ihre politischen Freunde in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern!)

Wer das macht, der ist populistisch, der hilft den Menschen nicht. Er verwirkt jeden Anspruch, für irgendeine Art von sozialer Gerechtigkeit zu stehen.

(Beifall bei der SPD)

Sie nehmen soziale Verantwortung nicht wahr. Was Sie machen, können wir nicht hinnehmen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Oh! – Volker Kauder (CDU/CSU): Berliner Regierungswechsel!)

   Ich bin auch ganz sicher: Trotz Ihres jetzt in einigen Ländern aktuellen Umfragehochs

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das PDS-Ergebnis hätten Sie gern!)

werden die Menschen erkennen, wie schamlos Sie mit ihren Interessen umgehen. Was Sie sich hier erlaubt haben, ist unter aller Kanone.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Dann müssen Sie die Regierung in Berlin auflösen! – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Dann solltet ihr einmal die Bündnisse auf kommunaler Ebene auflösen! Die gibt es nämlich auch!)

   Jeder Vorwurf von Ihnen kann widerlegt werden. Das gilt für das gesamte Leistungsspektrum im Zusammenhang mit Hartz IV und dafür, dass wir uns nun zum ersten Mal um Hunderttausende von Menschen, die bisher auf dem Arbeitsmarkt keine Chance hatten, kümmern. Wir kümmern uns konkret um die Frauen und Männer, um die jungen Menschen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Das unterscheidet uns: Wir kümmern uns um die Menschen und nehmen unsere Verantwortung wahr, Frau Lötzsch.

(Beifall bei der SPD)

   Nach der schwachen Vorstellung von Frau Merkel wird hier durch Hinweise auf Koalitionen, die bestehen, abgelenkt.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Deren Bestehen ist nicht zu leugnen. Man muss sogar konstatieren, dass es tüchtige PDS-Stadträte gibt,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Der Oberbürgermeister auf Schalke bleibt schwarz!)

die dabei helfen, die Menschen über Hartz IV und andere Themen aufzuklären und die die Langzeitarbeitslosigkeit wirklich bekämpfen wollen. Ich äußere mich hier zu dem Beitrag von Frau Lötzsch und sage Ihnen: Das ist unter aller Kanone. Das kann nicht hingenommen werden. Das ist Demagogie pur und Linkspopulismus, der keinem Menschen hilft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie haben die PDS doch erst groß gemacht!)

   Frau Merkel hat heute wirklich eine große Chance vertan.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben es nicht verstanden! Das kann man ja auch nicht erwarten!)

Einige von Ihnen werden, wie auch ich, die Sendung „ARD Morgenmagazin“ gesehen haben, in der vielen Kollegen aus Ihren Reihen, zum Beispiel Herrn Rauen, Fragen gestellt wurden. Dort wurden der Vorsitzende der Jungen Gruppe und andere interviewt und nach dem Zustand der Union gefragt. Herr Rauen – er ist ja kein Unbekannter, sondern der Chef der Mittelstandsvereinigung in der Union –

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie wissen doch gar nicht, was Mittelstand ist!)

wurde gefragt, wie die Situation der CDU sei und ob er mit ihr zufrieden sei. Darauf hat Herr Rauen wörtlich gesagt: „Überhaupt nicht!“

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Das ist doch eine zutreffende Umschreibung der Situation der CDU. Hier können wir dem Kollegen Rauen ausnahmsweise einmal Recht geben.

(Beifall bei der SPD)

   Der Vorsitzende der Jungen Gruppe hat sinngemäß gesagt:

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Wie heißt der denn eigentlich? – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie sind doch ein unerträglicher Mann, Herr Poß!)

Wenn es uns nicht gelingt, die konzeptionellen Defizite und die Streitpunkte, die wir mit der CSU über das 100-Milliarden-Euro-Missverständnis haben – Frau Merkel wird ja immer mehr zu einem 100-Milliarden-Euro-Missverständnis –,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Oh Gott! Wie platt!)

in diesem Herbst auszuräumen, dann sind wir nicht regierungsfähig. Im Anschluss an diese Debatte, in der Frau Merkel alle konkreten Antworten schuldig geblieben ist, würde ich sagen:

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Warum redet der Stiegler denn nicht? Der Stiegler war doch dran!)

Sie sind nicht nur nicht regierungsfähig, sondern noch nicht einmal oppositionsfähig.

(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie sind heute unerträglich! – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Sie zweimal innerhalb von zwei Tagen ertragen zu müssen, das ist unerträglich!)

– Herr Kampeter, auch Sie haben keine Frage beantwortet.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): So viel Poß ist unerträglich!)

Zum Beispiel haben Sie nicht die Frage beantwortet, die wir gestern schon gestellt haben und deren Beantwortung wir uns von Frau Merkel gewünscht hätten,

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Poß kommt von Posse!)

wie die Vorschläge von Herrn Stoiber umgesetzt werden sollen. – Jetzt seien Sie doch mal ein bisschen still! –

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das sagt gerade der Richtige!)

Frau Merkel hat mehr Investitionen im Bundeshaushalt gefordert – so war sie jedenfalls zu verstehen – und Herr Stoiber schlägt eine Kürzung um 5 Prozent vor. Beantworten Sie diese Frage doch ganz einfach!

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Das habe ich Ihnen doch gestern beantwortet! Wären Sie da gewesen, hätten Sie es gehört!)

- Nein, auch Sie haben keine Frage beantwortet.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sie sind unerträglich! Das kann so nicht weitergehen!)

Deswegen sind jetzt Sie an der Reihe, in der Öffentlichkeit erst einmal für Klarheit über Ihre Konzepte zu sorgen. Sie sollten sich aber nicht immer dann, wenn es unangenehm wird, mit rechtspopulistischem Getue in die Büsche schlagen und konkreten Fragen ausweichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Zuerst hat er sich gestern benommen wie ein Giftzwerg und jetzt führt er sich hier noch auf! – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Mangelhaft!)

Daher meine herzliche Bitte an Sie: Nutzen Sie dazu die Chance, die Ihnen der weitere Verlauf der Haushaltsdebatte bietet!

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Setzen! Fünf!)

- Sie, Herr Kollege Kauder, bitte ich: Kläffen Sie nicht ständig dazwischen! Denn das, was Sie machen, ist unerträglich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Unerträglich, dieser Kauder!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bernhard Kaster (CDU/CSU):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Haushälter, der für das Bundeskanzler- und das Bundespresseamt zuständig ist, habe ich mich schon ein wenig gewundert – nach der letzten Rede tue ich das nicht mehr –, als quer durch alle Medien zu lesen, zu hören und zu sehen war – diese Kritik wurde sogar in Ihren eigenen Reihen geäußert –, dass die Bundesregierung mangelhafte Informationspolitik betreibe. Es war die Rede von einem Kommunikationsdesaster und einem Kommunikationschaos, wie wir es eben auch hier erlebt haben. Manch einer im Land wird sich natürlich die Frage gestellt haben: Fehlt vielleicht einfach das nötige Geld für eine ordentliche Informationspolitik, um Hartz IV zu vermitteln?

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Dieses Thema ist das einzige, wofür sie zu viel Geld haben!)

   Dazu möchte ich Ihnen die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist, dass allein Minister Clement das zweite Jahr in Folge nur für die Kommunikation der Hartz-Reformen zusätzliche Mittel in Höhe von jährlich 15 Millionen Euro angesetzt hat.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Die sind aber schlecht ausgegeben! - Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Sie wollen doch, dass wir informieren!)

Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg hat sich für ihre Öffentlichkeitsarbeit einen Rekordetat in Höhe von 40 Millionen Euro geleistet. Gleichzeitig haben die PR-Mittel von Bundespresseamt und Bundesregierung noch nie da gewesene Höhen erreicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Trotzdem bleibt die Politik schlecht!)

Die Wahrheit ist auch, um das zu komplettieren: Die Bundesregierung hat alleine in den letzten zwölf Monaten – und das nach eigenen Angaben! – über 30 Millionen Euro für alle möglichen und unmöglichen Zeitungsanzeigen und Plakatkampagnen zur Agenda 2010 ausgegeben.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Deshalb hat Stiegler nicht gesprochen!)

   Wir haben es in unserer Fraktion in diesem Sommer einmal genau nachgerechnet: Die Bundesregierung verprasst zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit jährlich eine viertel Milliarde Euro für Öffentlichkeitsarbeit.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Unglaublich!)

– Das ist unglaublich; diese Höhe gab es noch nie. – Und dann, man glaubt es nicht, muss in den letzten Wochen mit einer mit heißer Nadel gestrickten Anzeigenkampagne „Betrifft: Hartz IV“ und einem so genannten Lagezentrum auf das offenkundige Informationsdefizit mehr schlecht als recht, ja hilflos reagiert werden. Es folgt sogar ein Schwarze-Peter-Spiel zwischen Presseamt, Wirtschaftsminister und Bundesagentur, wer denn da eigentlich was machen soll. Das sind Strategen, kann ich dazu nur sagen!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wieso schafft es diese Bundesregierung nicht, mit solchen Rekordetats die Bevölkerung zu informieren, Vertrauen zu erwecken,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die können es nicht!)

die eigentlichen Botschaften der Hartz-IV-Reform zu transportieren? Die Erklärung ist recht einfach: Immer und immer wieder haben wir hier in diesem Hause gefordert, dass Informationspolitik nicht auf platte, stimmungsmachende Werbung wie im Wahlkampf reduziert werden darf. Jeder kennt noch die Sprüche, die auf den Plakatwänden überall standen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Jetzt kam es zur Nagelprobe für die Informationspolitik und da wurde das Debakel einer vollkommen falsch konzipierten Informationspolitik offenbar.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie sprechen zwar schon selbst öffentlich vom Kommunikationsdesaster bzw. Kommunikationschaos; Konsequenzen werden aber erstaunlicherweise nicht gezogen. Konsequenzen haben dagegen Ihre Ressortminister gezogen: Mittlerweile wird Regierungssprecher Béla Anda so wenig zugetraut, dass jedes Ministerium auf eigene Faust versucht, in der eigenen Pressestelle ein eigenes Kommunikationskonzept zu entwickeln und damit die Lücken zu füllen.

(Waltraud Lehn (SPD): Das ist ja eine nette Analyse, aber das ist falsch!)

   Ich komme jetzt auch zu den Zahlen; das kostet uns ja alle viel Geld. Die Ressortminister haben seit dem Antritt von Herrn Anda im Jahre 2002 ihre Einzeletats von 28,5 Millionen Euro in 2002 auf jetzt 65,98 Millionen Euro im Haushaltsentwurf für 2005 erhöht. Das sind die reinen Ausgaben, nur für die einzelnen Ministerien,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Unglaublich! – Zuruf von der CDU/CSU: Geldverbrenner sind das!)

ohne Bundespresseamt. Damit wird dieser Regierungssprecher zum teuersten Regierungssprecher aller Zeiten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Bundesregierung muss endlich dafür sorgen, dass wieder sachliche und seriöse Information erfolgt. Fangen Sie hier endlich mit dem Sparen an! Kündigen Sie diese unsäglichen Werbeverträge! Hier können Sie ein Zeichen setzen, dass gespart werden kann.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sparen darf bei dem Haushalt 2005 nicht eine allgemeine Floskel bleiben.

   Um es vorweg zu sagen: Der große Verlierer der gigantischen Schuldenpolitik, die wir erleben, ist eindeutig die junge Generation: Verlierer sind hier unsere Kinder.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Seit der Regierungsübernahme durch Rot-Grün ist die Verschuldung des Bundes von 743 Milliarden Euro auf jetzt 847 Milliarden Euro gestiegen. Schon heute steht fest: Die Schulden des Bundes werden bis Ende 2005 auf 890 Milliarden Euro angestiegen sein. Unser Schuldenberg ist unter Rot-Grün in nur sieben Jahren um 150 Milliarden Euro angestiegen. Hinzurechnen muss man das Verscherbeln von Bundesvermögen in einer Größenordnung von nachweisbar 100 Milliarden Euro. In der Addition ergibt das einen Betrag von einer viertel Billion Euro. Das muss man sich einmal vorstellen! Es ist unglaublich, was für eine Last der jungen Generation hier aufgebürdet wurde. Die großen Verlierer Ihrer Haushaltspolitik sind damit die jungen Menschen in unserem Land. Die letzten Reserven unserer Kinder werden durch Ihre Politik aufgezehrt. Kein verantwortlicher Familienvater, weder in Berlin noch in Hannover oder sonstwo, würde das wohl seinen Kindern antun.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Da sind Sie mit den Zahlen nicht so ganz zurechtgekommen, Herr Kaster!)
[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 122. Sitzung – wird morgen,
Donnerstag, den 9. September 2004,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15122
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion