Essay
"Den" Nichtwähler gibt es nicht
von Oskar Niedermayer
Die Nichtwähler waren lange Zeit ein Stiefkind der wissenschaftlichen Forschung. Eine Wahlbeteiligungsrate von 85 bis 90 Prozent in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, die bei der Bundestagswahl von 1972 sogar auf den absoluten Höchststand von 91,1 Prozent kletterte, bot kaum Anlass, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Ab Mitte der Siebzigerjahre ging die Beteiligung an Bundestagswahlen jedoch kontinuierlich zurück und erreichte 1990 mit 77,8 Prozent ihren Tiefpunkt. Die Neunzigerjahre brachten zwar auf der Bundesebene einen Wiederanstieg (1998: 82,8 Prozent), auf der Landesebene sanken die Beteiligungsraten jedoch weiter und bei der Europawahl 1999 ging noch nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten zur Wahl.
|
Oskar Niedermayer.
Der Rückgang der Wahlbeteiligung löste eine Diskussion um deren Ursachen aus, in der sich anfangs zwei Thesen gegenüberstanden: Die "Normalisierungsthese" interpretierte den Rückgang als Anpassung an den demokratischen Standard westlicher Demokratien, für die "Krisenthese" hingegen war er ein Signal für politische Unzufriedenheit. In der Folgezeit zeigte eine ganze Reihe von Studien, dass es eine Vielzahl von Gründen für die Wahlenthaltung gibt, die zu vier Nichtwählertypen zusammengefasst werden können: dem unechten, dem politikfernen, dem protestierenden und dem abwägenden Nichtwähler.
Unechte Nichtwähler sind Personen, die in der Wahlstatistik als Nichtwähler auftauchen, obwohl sie möglicherweise gewählt hätten, wenn sie nicht daran gehindert worden wären. Hierzu gehören zum Beispiel Bürger, denen die Briefwahlunterlagen oder die Wahlbenachrichtigung nicht oder nicht rechtzeitig zugestellt werden konnten, oder solche, die kurz vor dem Wahltag erkrankten, einen Unfall hatten oder verreisen mussten. Diese Gruppe kann bis zu 5 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen.
Die überwiegende Mehrheit der echten Nichtwähler gehört zu den politikfernen Nichtwählern, die sich durch ihr mangelndes Interesse am politischen Geschehen auszeichnen. Sie sind in bestimmten sozialen Gruppen stärker zu finden als in anderen, da das politische Interesse unter anderem von der sozialen Stellung einer Person abhängt. Es gibt jedoch Faktoren, die bei einem Teil der Desinteressierten verhindern, dass sie den Wahlurnen fernbleiben. Hierzu gehören insbesondere die Einbindung in soziale Netzwerke und Milieus, die längerfristige psychologische Bindung an eine politische Partei und das Ansehen des Wählens als staatsbürgerliche Pflicht. Da all diese Bindungen und Normen seit den Siebzigerjahren jedoch immer schwächer werden, lässt ihre Integrationsleistung und damit ihr wahlbeteiligungsfördernder Effekt nach.
Ein kleiner Teil der Nichtwähler gehört dem protestierenden Typ an, der am politischen Geschehen interessiert, gleichzeitig jedoch politiker- und parteienverdrossen oder mit dem Funktionieren des bestehenden demokratischen Systems generell unzufrieden ist und seine Unzufriedenheit durch Nichtwahl – im Sinne einer bewussten Protestbekundung – zum Ausdruck bringt.
Der abwägende Nichtwähler hingegen ist nicht grundsätzlich gegen eine Wahlteilnahme eingestellt, wägt sie aber gegen seine sonstigen Interessen, zum Beispiel seinen Freizeitinteressen, am Wahltag ab und entscheidet sich umso eher für eine Teilnahme, je wichtiger für ihn die jeweilige Wahl ist und je knapper er den Wahlausgang einschätzt. Die Abhängigkeit der Wahlteilnahme von der eingeschätzten Wichtigkeit der Wahl führt dazu, dass die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen immer höher ist als bei Landtagswahlen, von Europawahlen ganz zu schweigen.
Zusammenfassend lässt sich somit feststellen: Es gibt nicht "den" Nichtwähler und eine Veränderung der Wahlbeteiligung kann daher auch nicht – wie es oft geschieht – auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden.
Oskar Niedermayer, am 22. August 1952 in Schönau bei Heidelberg geboren, ist seit 1993 Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Parteien- und Wahlforschung, das politische System Deutschlands, die Europaforschung und die Methoden der Politikwissenschaft. Er ist Sprecher verschiedener Arbeitsgruppen und Gutachter für die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Stiftung Volkswagenwerk und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Oskar Niedermayer ist verheiratet und hat ein Kind.