Titelthema
Fraktionssitzungen
Der Höhepunkt der Woche
Für viele Abgeordnete ist die Fraktionssitzung der Höhepunkt ihrer Parlamentswoche. Alle Entscheidungen, die im Plenum zu treffen sind, werden hier vorbesprochen, alle wichtigen politischen Fragen hier behandelt. Blickpunkt Bundestag schaute hinter die Kulissen und fragte die Parlamentarischen Geschäftsführer der fünf Fraktionen nach dem Ablauf ihrer letzten Fraktionssitzung.
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Fraktion. Oft gehört, nicht immer verstanden. Wörtlich bedeutet es "Bruchteil". Und zwar im doppelten Sinne. Die Fraktionen sind Teile des Parlamentes, und sie sind Teile der Parteien: Angehörige einer Partei schließen sich, wenn sie zu Abgeordneten gewählt worden sind, im Bundestag jeweils zu einer Fraktion zusammen. Fraktionen sind somit der täglich sichtbar in Wirklichkeit umgesetzte Verfassungsauftrag, wonach Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken sollen. Nirgendwo tun sie dies so wirksam wie innerhalb der Volksvertretung. Dort bringen Fraktionen Initiativen ein, schärfen die Meinungsbildung zu neu aufkommenden Fragen und versuchen, Mehrheiten zu Stande zu bringen, damit Willensbildung zu Entscheidungsfindung wird.
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Sitzungssaal der SPD-Fraktion.
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Wilhelm Schmidt.
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Alles wird zwar im Vorfeld von den Fachgremien intensiv vorbereitet – "aber alles ist nichts, wenn es nicht durch die Fraktion gegangen ist". Deshalb ist für Wilhelm Schmidt (SPD) die Fraktionssitzung der demokratische Resonanzboden für die Entscheidungen des Parlamentes. Ein gewaltiger Resonanzboden. Außer den 293 Abgeordneten noch einmal eine gute Hundertschaft aus Mitarbeitern der Abgeordnetenbüros, Referenten der Fraktion, Vertretern der Bundesministerien und Landesvertretungen mit SPD-Führung und ausdrücklich eingeladenen Gästen. Das können Praktikanten sein. Das sind aber immer wieder auch ehemalige SPD-Abgeordnete, die laut Fraktionsgeschäftsordnung stets Zugang haben und beratend auch das Wort nehmen dürfen.
Die Sitzordnung ist nicht mehr alphabetisch, wie damals unter Fraktionschef Herbert Wehner, sondern längst nach den einzelnen Landesgruppen gestaltet. Das schafft Möglichkeiten zum schnellen Kontakt der Beteiligten, wenn es beispielsweise um länderspezifische Themen geht. Vieles ist in den Arbeitsgruppen und Vorstandsgremien bereits vorstrukturiert worden, und so geht es zu Beginn jeder Sitzung zunächst vor allem um das Grundsätzliche. Den "politischen Bericht" erstattet der Vorsitzende. Häufig aber ist auch der Kanzler da, um "seine" Abgeordneten aus erster Hand zu informieren und ihnen seine Analyse der Lage zu vermitteln. Keine Einbahnstraße: Immer schließt sich an diese Berichte eine Aussprache an. Und in brenzligen Situationen kann die durchaus über viele Stunden reichen. Beispielsweise bei gefährlichen Bundeswehreinsätzen, bei der Steuer- oder der Rentenreform.
Der Geschäftsführer gibt sodann einen Überblick über mögliche Fallstricke der Sitzungswoche: Wo könnte die Präsenz besonders wichtig werden, wo ist mit namentlichen Abstimmungen zu rechnen, wie lange müssen die Abgeordneten am Freitag in Berlin bleiben: "Wir wollen uns ja schließlich zum Abschluss der Woche keine Abstimmungsniederlage einhandeln." Auch hier wird die Tagesordnung Punkt für Punkt durchgegangen, auf Zuruf der Arbeitsgruppen der jeweilige Redner festgehalten und entlang des Ablaufes im gesamten Plenum vorab das Abstimmungsverhalten der Fraktion beschlossen.
Weil das die letzte Gelegenheit ist, noch einmal die Meinungsbildung der Gesamtfraktion zu beeinflussen, lässt sich oft nicht abschätzen, an welchen Themen sich plötzlich dringender Diskussionsbedarf entzündet. Diesmal ist es die Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes, zu dem sich die Fachleute der beiden Regierungsfraktionen und deren Vorstandsgremien auf eine Kompromisslinie verständigt hatten. Die jedoch ist ganz und gar nicht nach dem Geschmack des Bundesinnenministers, der mit großer Vehemenz für eine andere Rechtsauffassung wirbt. Doch am Ende steht auch hier die Abstimmung: eindeutiges Votum zu Gunsten der Vorstandsempfehlung. So ist Politik – Mehrheiten bilden.
Natürlich kennt auch die SPD im Vorfeld die "fraktionsoffenen Abende", an denen Experten die verschiedensten Aspekte beleuchten, "damit wir sicher sind, bei unserer Meinungsbildung auch alles bedacht zu haben". Und nicht immer muss die Mehrheitseinschätzung verbindlich sein. Diesmal geht es zum Beispiel auch um die Einbringung des Antrages zur künftigen historischen Mitte von Berlin – Stoßrichtung und Ergebnis von Anfang an: Am Ende soll jeder frei entscheiden, was er als bestgeeignet für Berlin empfindet.
Wenn die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU tagt, kommen ebenfalls viele Personen zusammen. Es sind gut und gerne 350 – neben den 245 Abgeordneten und einigen ihrer Mitarbeiter und Referenten zum Beispiel auch Vertreter aus verschiedenen, unionsgeführten Landesvertretungen. Denn die Bundespolitik läuft zweigleisig: Bundestag und Bundesrat müssen zusammen agieren. Das Vorgehen der Union im Parlament wie in der Ländervertretung ist deshalb von Anfang an zu koordinieren.
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Sitzungssaal der CDU/CSU-Fraktion.
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Hans-Peter Repnik.
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Für Hans-Peter Repnik (CDU/CSU) ist die Fraktionssitzung die für die Meinungsbildung wichtigste Zusammenkunft in der ganzen Woche. Der Ort, an dem sich jeder mit seiner Meinung einbringen und mitdiskutieren kann, an dem zugleich aber auch die Linie der Fraktion abschließend festgelegt wird. Und das bedeutet, dass alle wichtigen Persönlichkeiten trotz schier unübersehbarer Terminfülle zu diesem Zeitpunkt an einer Stelle anzutreffen sind. "Deshalb ist jede Fraktionssitzung auch ein Informationsbasar", erläutert Repnik. Wer irgendetwas mit irgendwem absprechen muss – zu keinem anderen Zeitpunkt sind alle Entscheidungsführer so dicht beisammen.
Das können auch schon einmal Prominente aus den Bundesländern sein. Regierungschefs aus unionsregierten Bundesländern sind gern gesehene Gäste, etwa wenn Saarlands Ministerpräsident Peter Müller über die Zuwanderung referiert. Und natürlich gehört auch der bayerische Regierungschef Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat immer wieder dazu, wenn die Linie der Union festgelegt wird.
Drei feste Blöcke prägen jede Fraktionssitzung von CDU und CSU: erstens der Bericht des Vorsitzenden mit einer aktuellen politischen Analyse der wichtigsten Entwicklungen und einer Akzentsetzung in der politischen Beurteilung der Vorgänge. Zweitens die Tagesordnung der Plenardebatten in der laufenden Woche mit der Bekanntgabe derjenigen Fraktionsmitglieder, die zu den einzelnen Punkten im Plenum reden sollen. Drittens der Aufruf sämtlicher Initiativen, die im Bundestag zur Beratung und Abstimmung anstehen. Mal zehn, mal zwanzig höchst verschiedene Themen, über die einzeln abgestimmt wird – mal ohne oder mit nur kurzer Diskussion, wenn alles von den Fachleuten der Fraktion zur Zufriedenheit aller Mitglieder vorgeklärt ist, mal mit langem Meinungsaustausch begleitet, wenn die Auffassungen (noch) auseinander gehen.
Zwischen diese Blöcke schieben sich weitere Einzelfragen. Diesmal der Nitrofen-Skandal mit seinen Konsequenzen. Und das Waffenrecht, das über den gemeinsamen Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat erneut zum Thema wird. Oder die Verlängerung des Kfor-Mandates für die Bundeswehr im Kosovo: Sowohl der außen- als auch der verteidigungspolitische Sprecher der Fraktion informieren die Kollegen und liefern gleich eine ausführliche Begründung mit. Mit dem Ende dieser Fraktionssitzung ist jedoch nicht Schluss: Es folgt eine fraktionsoffene weitere Sitzung, bei der zwar keine Beschlüsse zu fassen sind, bei der aber mit Experten das Thema Jugendschutz intensiv diskutiert wird. Anliegen der Runde: nach dem Amoklauf in dem Erfurter Gymnasium eine stärker wertebezogene Diskussion anzustoßen.
Für Katrin Göring-Eckardt vom Bündnis 90/Die Grünen ist die Fraktionssitzung die zentrale Versammlung und das höchste Gremium der Fraktion, wo über alles geredet werden kann und auch soll und wo sowohl aktuelle Vorhaben als auch langfristige Konzepte Gestalt bekommen. Aktuell, das hieß jetzt zum Beispiel die Kontroverse um die Äußerungen des stellvertetenden FDP-Vizevorsitzenden Jürgen Möllemann, die zugleich die Grünen in ihrer langfristigen Aufgabe trafen, "zusammen mit allen demokratischen Kräften dafür zu sorgen, dass Antisemitismus nicht salonfähig gemacht wird".
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Sitzungssaal der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Katrin Göring-Eckardt.
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Nicht minder aktuell und auch hier nicht minder umfassend besprochen: Was bedeutet der Nitrofen-Skandal? Und vor allem: Worum wird es in der spontan auf die Tagesordnung der laufenden Sitzungswoche gesetzten Regierungserklärung mit der Debatte zu den vergifteten Futtermitteln gehen? Konkret gesagt: "Wie machen wir deutlich, was das für die Bio-Landwirtschaft heißt und um welche Zusammenhänge es da geht?" Antworten werden in der internen Diskussion vorab beleuchtet.
Natürlich bilden die Punkte, die im Plenum des Hohen Hauses in der laufenden Woche zur Beratung und Beschlussfassung anstehen, das Grundgerüst jeder Fraktionssitzung. Doch über alle anderen Initiativen, Anträge, Gesetzentwürfe ist bei den Grünen diesmal nicht lange zu reden. Jedes Mal muss zwar noch der Beschluss der Fraktion eingeholt werden, aber das ist diesmal eher Formsache. Immer wieder stehen in der Fraktionssitzung auch Themen an, die über den Tag hinaus für grüne Politik wichtig sind. Beispiel: Wie soll es mit der Energiepolitik nach 2006 weitergehen? Wie kann der Arbeitsmarkt flexibler werden?
Zumeist haben Abgeordnete hierzu im Vorfeld die Initiative ergriffen, die Details in ihrem Fach-Arbeitskreis schon intensiv beraten, einen Vorschlag formuliert und diesen dann mit dem Fraktionsvorstand erörtert. Wenn es sich dann nicht um Einzelfragen handelt, die vor allem für Experten interessant sind, sondern um wichtige Probleme von allgemeinem Interesse, setzt es der Vorstand auf die Tagesordnung der Fraktionssitzung, diskutiert es dort erneut und kommt dann zur Abstimmung.
Großer Kreis, das sind bei den Grünen in der Regel rund 50 bis 60 Personen – neben den Abgeordneten selbst vor allem ein Teil ihrer Mitarbeiter und die Fraktionsreferenten, deren Fachgebiete zur Beratung anstehen. Mitunter hat die Fraktion auch Gäste, jüngst Vertreter der israelischen Opposition oder die Sprecher von "Mehr Demokratie e.V.", mit denen über Volksentscheide gesprochen wurde.
Für Jörg van Essen (FDP) ist die Fraktionssitzung "der Höhepunkt der Woche". Alles mündet in dieses Treffen. Aber die Sitzung dient nicht immer nur zum Festlegen der Fraktionslinie. Oft genug ist es auch ein Ventil, wenn sich die Fraktion über Vorgänge besonders geärgert hat. Diesmal die "Causa Möllemann". Das Thema ist den Parlamentariern so wichtig, dass sie sogar ihre Mitarbeiter aus dem Saal schicken, um völlig frei, unbeobachtet und offen einander die Meinung zu sagen. Nichts soll anschließend nach außen dringen. Und auch van Essen sagt nur so viel: "Eine sehr, sehr, sehr intensive Debatte." Seine Erkenntnis: "Da kann eine Fraktionssitzung auch eine starke soziale Funktion bekommen – etwa wenn durch solche Diskussionen das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt wird und der FDP-Vorsitzende spürt, wie stark die Unterstützung seiner Fraktion ist."
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Sitzungssaal der FDP-Fraktion.
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Jörg van Essen.
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Menschliches auch zu Beginn der Sitzung: Der Vorsitzende beglückwünscht alle Mitglieder, die Geburtstag hatten. Aber dann geht es schnell rein ins Geschäft. Und dazu gibt es die aktuellsten Informationen aus Ältestenrat und Fraktionsvorstand. Diesmal zum Beispiel, dass die Haushaltsdebatte auf den 12. und 13. September festgelegt wurde. Wichtig für alle Abgeordneten, die dann viele Wahlkampfverpflichtungen haben und sich jetzt schon diese Tage für die Präsenz in Berlin freihalten müssen. Dieselben Themen wie in den anderen Fraktionen folgen beim Durchgehen der Plenarabfolge. Und auch hier wird um die Linie gerungen. Volksentscheid auf Bundesebene? Oder besser nur die Volksinitiative? Nach längerer Diskussion verständigt sich die Fraktion, der Initiative den Vorrang zu geben.
Grundsätzlich öffentlich tagt die PDS-Fraktion – es sei denn, es geht um Personalsachen und andere vertrauliche Angelegenheiten. Und deshalb verlässt sie für ihre Sitzungen auch die Fraktionsebene im Reichstagsgebäude, weil für die Abgeordneten, ihre Mitarbeiter und Gäste auf der Präsidialebene mehr Platz ist. Eine wichtige Funktion nach den Worten von Rolf Kutzmutz (PDS): alle auf den gleichen Wissensstand bringen. Was ist im Lande in jüngster Zeit wichtig für die PDS gewesen? Welche Diskussionen, Empfehlungen und Beschlüsse hat es in den Landesverbänden gegeben? Teilnehmende Abgeordnete berichten. Auch mit den Gästen wird dabei ein offener Stil gepflegt. Insbesondere wenn für Fachthemen Experten eingeladen sind, reicht es, wenn ein Abgeordneter das Rederecht für den Gast beantragt – und schon können mit Zustimmung der Fraktion auch "Externe" an der internen Meinungsbildung mitwirken.
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Sitzungssaal der PDS-Fraktion.
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Rolf Kutzmutz.
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Der "aktuellen Verständigung" folgt der Ablauf der Sitzungswoche: Noch unentschiedene Dispute werden vorgebracht und entschieden, und auch die Rednerliste entsteht dabei. Danach geht es um die "Vorlaufanträge". Das sind Themen, die die PDS auf die Tagesordnung setzen will. Weil das aber pro Sitzungswoche nur zwei sein können, wird sorgfältig das konkrete Vorgehen beraten. Wenn zu hören ist, dass andere Fraktionen auch bei einem solchen Anliegen "am Ball" sind, empfiehlt es sich, die eigene Initiative mit anzuhängen und stattdessen einen anderen Punkt voranzutreiben. Diesmal: die einheitliche Bezahlung von Bundeswehrsoldaten in den alten und neuen Bundesländern.
Flexibel geht die PDS mit ihrer Tagesordnung um, wenn besondere Gäste erwartet werden. Sowohl Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wie Arbeitsminister Walter Riester ließ die Runde nicht lange warten. Und ähnlich soll es nun auch beim Vorsitzenden der Bundestagsenquete zur Globalisierung, Prof. Ernst-Ulrich von Weizsäcker (SPD) sein. Schließlich bekommen auch diesmal wieder Organisationsfragen ihren Feinschliff: Wer sagt wo was zum Aktionstag der Arbeitsloseninitiativen? Welche Eckpunkte entwickelt die PDS für eine Konferenz über Entwicklungspolitik im Schatten der Terrorbekämpfung?
Und nächste Woche dasselbe von vorn. Aber mit ganz anderen Themen.
Text: Gregor Mayntz/Fotos: studio kohlmeier