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Das Parlament
Nr. 33-34 / 09.08.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Tina Heidborn

Familiäre Eigeninitiative steigert den Schulerfolg

Bildungsdefizite behindern die Integration

Abiturientenfeier im Roten Rathaus in Berlin: Aufgeregte Eltern drängen sich zwischen Jugendlichen, die betont cool wirken wollen. Locken glänzen, Röcke werden gezupft, man hat sich fein gemacht. Der Berliner Bildungssenator Klaus Böger und der Türkische Bund Berlin haben an diesem Nachmittag zur ersten Feier speziell für türkische Abiturienten eingeladen. "Ein nett gemeintes Zeichen. Aber schöner wäre es, zusammen mit den deutschen Abiturienten zu feiern", sagt die 19-jährige Nurdan, die mit ihrer Freundin Nilüfer das Treiben abwartend beobachtet.

Der Prozentsatz der türkischen Gymnasiasten liegt in Berlin bei 9,4 Prozent, weit unter den 30 Prozent der deutschen Schüler. Unter den 12.258 erfolgreichen Abiturienten in Berlin sind sogar nur 165 Türken, weniger als 1,5 Prozent. Kinder aus Migrantenfamilien haben im hiesigen dreigliedrigen Schulsystem besonders schlechte Chancen, das hat auch die PISA-Studie gezeigt. Nurdan und Nilüfer gehören zu denen, die es geschafft haben. "Ich habe Lehrer gefragt oder Freunde, wenn es nötig war", sagt Nilüfer. Ihre Eltern, die als Jugendliche nach Deutschland gekommen sind, haben selbst keine Ausbildung - und keine Ahnung vom deutschen Schulsystem. "Ich nehme ihnen das nicht übel. Niemand hat sie aufgeklärt", setzt Nilüfer nach.

Die Diskussion um die "optimale Beschulung ausländischer Schüler", sagt der Werklehrer Ahmet Öztürk, kenne er schon seit Jahrzehnten. Öztürk arbeitet seit 25 Jahren als Grundschullehrer in Berlin, und er kann eine lange Liste von Sonderprojekten aufzählen, bei denen er mitgearbeitet hat: Mal ging es um verstärkte Elternarbeit, mal um Deutsch als Fremdsprache. "Zweisprachige Alphabetisierung, das war eine feine Sache", erinnert er sich. 15 Berliner Schulen hätten das angeboten, als es gerade Trend in der Bildungspolitik war, heute seien es nur noch fünf. "Zweisprachigkeit gehört einfach dazu", sagt Öztürk, wenn man ihn nach Hilfen für nichtdeutsche Schüler fragt. "Sonst wissen die Kinder mit anderer Muttersprache nicht, was das deutsche Wort ‚Abfall' bedeutet, müssen es aber schreiben können".

Die Defizite sind allgemein bekannt: Mit dem "Bärenstark-Test" untersuchte der Berliner Senat die Deutschkenntnisse von rund 26.700 Kindern vor ihrer Einschulung im August 2003. Bei den deutschen Kindern beherrschte nach dieser Studie knapp jedes Dritte die Sprache nicht ausreichend, bei den ausländischen Kindern waren es 80 Prozent. In den türkisch dominierten Vierteln von Neukölln oder Kreuzberg braucht man kein Deutsch. "Viele Eltern wissen, dass das schlecht für ihre Kinder ist, aber ihre Kräfte reichen nicht, um rauszukommen. Sie haben keine Arbeit, sie können sich keine teurere Wohnung woanders leisten", sagt Öztürk. Vor der Schule gilt der Besuch einer Kita (Kindertagesstätte) als entscheidend für die Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kinder: In Berlin gehen immerhin mehr als 90 Prozent der türkischen Kinder in eine Kita, ergab eine Studie der Gesundheitssenatorin im Frühjahr 2003. Doch da die türkischen Kinder in vielen Einrichtungen unter sich bleiben, sind ihre Spracherfolge oft schlechter, als man erwarten könnte.

Kinder, die in der Grundschule erst einmal Deutsch lernen müssen, haben aber eindeutig schlechtere Start-Chancen: 60 Prozent der nichtdeutschen Zweitklässler sind schwach im Lesen, bei den deutschen Kindern sind es lediglich 25 Prozent, ergab ein Berliner Lesetest, an dem im Frühjahr 2004 fast 25.000 Zweitklässler teilnahmen. Hinzukommt, dass der Vormittag in der Schule oft nicht ausreicht, wenn sonst nur Türkisch gesprochen wird. Eine deutlich verbesserte Sprachförderung in Kindergärten und Schulen gehört deshalb zu den Standardforderungen in der Bildungsdiskussion.

Ahmet Öztürk unterrichtet heute an der Aziz-Nesin-Schule in Kreuzberg, einer so genannten Europa-Schule mit interkulturellem Ansatz. Hier läuft der Unterricht auf Deutsch und Türkisch, muslimische und christliche Feste sind gleich wichtig. Das Prinzip der Europa-Schule besagt, dass die Hälfte der Kinder Deutsch als "Hauptsprache" sprechen soll, die andere Türkisch. "Wir haben aber keine 50 Prozent Kinder aus deutschen Familien," sagt Christel Kottmann-Mentz, die Rektorin. Denn Deutsch als Hauptsprache kann bedeuten, dass beide Eltern türkischer Herkunft sind, zu Hause aber Deutsch sprechen. 40 Jahre nach der Anwerbung der ersten Gastarbeiter hat sich in Deutschland längst eine türkische Mittel- und Akademikerschicht entwickelt, die Deutsch mindestens so gut wie Türkisch beherrscht. "Auch diese türkischen Eltern möchten gerne möglichst viele deutsche Eltern an der Schule. Sie fühlen sich dadurch aufgewertet", sagt Kottmann-Mentz. Andere Grundschulen in typischen Migrantenbezirken wie Kreuzberg und Neukölln klagen darüber, dass bildungsbewusste Familien wegziehen, wenn ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen.

Muttersprache gut beherrschen

Schüler aus so genannten "bildungsfernen" Familien werden beim Lernen oft nicht unterstützt - egal, ob die Eltern Türken sind oder Deutsche. "Es reicht einfach nicht, wenn Eltern sagen: Lies ein Buch!, selbst aber nie ein Buch zur Hand nehmen", sagt die türkischstämmige Lehrerin Selma Rohrwasser von der Nesin-Schule, "Kinder brauchen Vorbilder".

Wenn türkische Kinder ihre Muttersprache beim Schuleintritt gut beherrschen, dann lernen sie auch parallel gut Deutsch hinzu, ist die Erfahrung ihres Kollegen Ahmet Öztürk. "Aber viele Kinder sind auch in ihrer Muttersprache nicht auf der Höhe. Sie sprechen zu Hause nur einfaches Umgangstürkisch". Dabei sei die Bildung ihrer Kinder für die allermeisten Migranten ganz wichtig: "Fast alle wollen ihre Kinder aufs Gymnasium schicken. Sie denken nach dem Muster: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen als uns." Doch der Anteil der Türken unter den Gymnasiasten in Berlin ist in den vergangenen zehn Jahren lediglich um 0,6 Prozent gestiegen. In den Statistiken tauchen allerdings jene Türken, die inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben, nicht mehr auf. Wie viele der 12.258 deutschen Abiturienten türkischer Abstammung sind, ist deshalb nicht ermittelbar.

"Integration durch Bildung", heißt das Förderprogramm, das der Berliner Schulsenator Böger auf der Feier für türkische Abiturienten ankündigt. Im nächsten Schuljahr will er speziell 15 Lehrer mit Migrationshintergrund einstellen. "Mehr türkischstämmige Lehrer wären gut, um zu zeigen, dass auch Türken in Deutschland angesehene Berufe haben", findet der Abiturient Cihan, der selbst in seiner Schullaufbahn nur deutschen Lehrer begegnet ist. "Wenn wir einen neuen Lehrer bekamen, hatte ich im ersten Halbjahr immer eine schlechtere Note als im zweiten", sagt der Einser-Abiturient. Er führt dies auch auf Vorurteile zurück: Die Lehrer mussten erst merken, wie gut er wirklich war.

Ähnliche Erfahrungen hat der kurdische Abiturient Roj Al-Yousef gemacht. "Manche Lehrer haben gedacht: Der Junge ist Ausländer, der hat keine Ahnung. Dann haben sie mir Worte erklärt. So klischeehaft", sagt er und grinst. Er darf auf der Feier eine Rede halten. "Diese Veranstaltung setzt ein Zeichen," sagt Roj Al-Yousef. Eine gute Ausbildung sei für seine Generation nicht mehr so unerschlossen wie noch am Anfang für die ersten Gastarbeiter. "Mein Abi kann mir keiner mehr nehmen," sagt er, sein Stolz ist hörbar. "Wir ziehen die voll durch, die Integration!" Tina Heidborn

Tina Heidborn ist freie Journalistin in Berlin.

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