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Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004


 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Robert Luchs

Die diffuse Angst vor einem neuen Jahr 1683

Wie europäisch ist die Türkei und wie europäisch kann sie werden?

Es war einer dieser Tage, an dem Politik im Hin-terzimmer gemacht wird. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan trafen sich in einem Brüsseler Hotel, sozusagen auf neutralem Boden, um die letzten Hindernisse auf dem Weg nach Europa zu beseitigen. Erdogan wollte zu Hause den Eindruck vermeiden, er krieche in Brüssel zu Kreuze. Der Streit hatte sich zwei Wochen vor der Empfehlung der EU-Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei an dem so genannten Ehebruch-Paragrafen entzündet, den die Regierung Erdogan in der neuen Strafrechtsreform enthalten wissen wollte. Für außereheliche Seitensprünge sollten bis zu drei Jahren Haft drohen.

Als der türkische Premier versprach, den Paragra-fen aus der Reform auszuklammern, war der Weg frei: Verheugen sicherte der Türkei zu, sie müsse nun keine zusätzlichen Bedingungen erfüllen, um der Brüsseler Behörde ihre Empfehlung zu ermöglichen. Das Parlament in Ankara brachte eine umfassende Strafrechtsreform auf den Weg, mit deren Hilfe die Meinungsfreiheit gestärkt und Folter, Korruption, Menschen- und Drogenhandel bekämpft werden sollen.

Ob der Türkei ein Datum für den Verhandlungsbe-ginn genannt wird, darüber wird der Rat der nun-mehr 25 Staats- und Regierungschefs eine Woche vor Weihnachten entscheiden. Es bestehen kaum mehr Zweifel, dass das Ergebnis positiv für die Türkei ausfällt. Letztlich haben damit diejenigen Recht behalten, die von Anfang an davor gewarnt hatten, den "Ehebruch-Streit" überzubewerten. Die Gegner eines Türkei-Beitritts wiederum sehen ganz andere Probleme auf die Gemeinschaft zukommen. Die rückständige Landwirtschaft beispielsweise erzwinge Milliardenhilfe, egal, welche Transferhilfen letzten Endes ausgehandelt werden. Andere Bedenken reichen von der politischen Überforderung der Gemeinschaft bis hin zur Gefahr einer Völkerwanderung.

Erweiterungskommissar Verheugen, der sich in den vergangenen Monaten außerordentlich stark für die Interessen der Türkei eingebracht hat, ohne dabei deren Schwachstellen zu übersehen, nennt das Szenario eines möglichen "Zusammenpralls der Kulturen" deutlich beim Namen. Schwerer wiegt für ihn die Nagelprobe eines EU-Beitritts für die Beziehungen zwischen den westlichen Demokratien und der islamischen Welt und damit eines gedeihlichen Miteinanders. Eine Ablehnung der Türkei würde, so Verheugen, in der islamischen Welt als Zurückweisung eines muslimisch geprägten Landes interpretiert.

Beitrittsgegner Frits Bolkestein sieht das ganz an-ders und warnt vor einer steigenden Zuwanderung aus islamischen Ländern. Der niederländische EU-Kommissar sagte kürzlich, der Beitritt der 83 Millionen Türken werde die Europäische Union stark verändern. Die EU könne dann ihre bisherige Agrar- und Regionspolitik nicht einfach fortsetzen wie bisher. "Europa würde implodieren." Wer die Türkei akzeptiere, müsse auch die Ukraine und Weißrussland aufnehmen, seien diese Länder doch europäischer als die Türkei. Am Ende dieses Jahrhunderts werde Europa islamisch sein, meinte Bolkestein und erinnerte an die türkische Belagerung Wiens. Sollte die Islamisierung tatsächlich so rasant zunehmen, "wäre die Befreiung Wiens 1683 vergebens gewesen".

Auch der Europa-Experte Werner Weidenfeld warnt vor den Folgen einer "radikalen Modernisierung" für die türkische Gesellschaft. Im Iran habe ein ähnlicher Prozess zur Islamisierung geführt. Als Widerspruch seiner europa- freundlichen Politik sehen denn auch Beobachter Erdogans Vorstöße zur Lockerung des Kopftuchverbots oder den Beschluss des türkischen Parlaments, den Abgängern islamischer Religionsschulen den Zugang zu Hochschulen zu gewähren. Auch nach Ansicht des CDU-Politikers Jürgen Rüttgers gehöre ein islamischer Staat nicht in die Europäische Union, da "unser Kontinent nur als eine Wertegemeinschaft Bestand haben" wird.

Kritikern, wie Agrar-Kommissar Franz Fischler, die durch den Türkei-Beitritt eine finanzielle Überforderung der EU befürchten, entgegnet die Bundesregierung, die Türkei werde prozentual viel weniger Geld erhalten, als jedes frühere Neumitglied. Dies sei eine der Voraussetzungen für die konkreten Verhandlungen. Fischler hatte von 45 Milliarden Euro zusätzlichen Kosten für die Union gesprochen, die noch an den Belastungen durch die kürzlich aufgenommenen Mitglieder stöhne. Demgegenüber verweisen deutsche Wirtschaftsverbände auf die gewaltigen Absatzchancen, die der türkische Markt biete.

Dass die EU wirtschaftlich von einem Beitritt seines Landes profitieren könne, davon ist auch der türkische Botschafter bei der EU, Oguz Demiralp, überzeugt. Agrarbeihilfen werde es bis zu ihrem Beitritt ohnehin nicht mehr in nennenswertem Umfang geben, und die Hilfe aus Brüssel für arme Regionen sei begrenzt. Außerdem rechne Ankara mit Beschränkungen für die Freizügigkeit von Arbeitskräften, wie sie schon beim Beitritt Polens zur Union vereinbart wurden. Die türkische Regierung erwarte sogar eine Zuwanderung aus anderen EU-Ländern in die Türkei, wenn sich dort die Lebensbedingungen verbesserten.

Bei der Frage der politischen Handlungsfähigkeit der EU nach einem Beitritt der Türken gehen die Meinungen ebenfalls weit auseinander. Die EU laufe in Gefahr, sich auf Kleinasien mit all seinen drohenden Randstaatenproblemen zu überdehnen, sagen die einen. Eine gemeinsame Außenpolitik der EU aus einem Guss, an der in Brüssel seit Jahren vergebens gearbeitet wird, werde durch eine Vollmitgliedschaft der Türkei nahezu unmöglich gemacht, warnen CDU und CSU. Befürworter sagen hingegen, gerade die neuen Grenzen der EU bis hin nach Asien eröffneten den Europäern größere Gestaltungsmöglichkeiten und mehr Einfluss. Zudem sei die Vorbildfunktion der Türkei für andere muslimische Staaten ein wichtiger Aspekt für die Aufnahme des Landes in die EU. Mit deren Beitritt wird ohnehin frühestens in zehn Jahren gerechnet.

Mit der äußerst schleppenden Umsetzung beschlossener Reformen verhält sich die Türkei allerdings alles andere als vorbildlich. Den christlichen Kirchen wurden zwar Rechte eingeräumt, doch lasse, so räumte Verheugen bei seinem jüngsten Besuch in der Türkei ein, "in Bezug auf die Religionsfreiheit die gesetzgeberische Aktivität der Regierung zu wünschen übrig". Zwar wurden unter Erdogan die Rechte der Kurden gestärkt, doch ist dies nur ein Anfang in dem immer noch von Gewalt geprägten Verhältnis zu der Minderheit. Erst kürzlich kamen wieder mehrere Kurden bei Gefechten mit Soldaten ums Leben. Westliche Beobachter haben wiederholt gefordert, die kurdische Sprache häufiger im Unterricht und in den Medien zu verwenden.

Auch wenn die Regierung Erdogan angekündigt hat, Folterern das Handwerk zu legen, so zeichnen nicht nur Menschenrechtsorganisationen ein anderes Bild. Das Antifolter-Komitee des Europarats sieht zwar erhebliche Fortschritte bei der Bekämpfung von Folter und Misshandlung, doch komme es in den Gefängnissen der Türkei weiterhin zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Ähnliches hörte Kommissar Verheugen von der türkischen Menschenrechtsstiftung. Amnesty international fordert deshalb mehr staatlichen Schutz für drangsalierte Frauen; weit über ein Drittel aller türkischen Frauen seien weiterhin familiärer Gewalt ausgesetzt. Sie würden zwangsverheiratet, misshandelt und vergewaltigt.

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