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Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004


 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Ursula Homann

Vom Leben und Sterben im Getto

Die Lodzer Chronik - aussagekräftig und erschütternd

Vor 60 Jahren wurde das Getto Lodz/Litzmannstadt aufgelöst. Die Menschen, die im August 1944 noch dort waren - es waren knapp 70.000 -, wurden in die Vernichtungslager Chelmno und Auschwitz verschleppt. Nur wenige überlebten diese letzte Etappe der Vernichtungsmaschinerie. Doch im Gegensatz zum Getto von Warschau, dessen Geschichte schon früh erforscht worden ist, wurde die Geschichte des Gettos von Lodz lange sträflich vernachlässigt. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, nicht zuletzt durch eine Universitätspartnerschaft zwischen Gießen und Lodz.

Als wichtiges Hilfsmittel erwies sich bei der Erforschung der Geschichte des Lodzer Gettos neben Essays, Reportagen und Tagebuchaufzeichnungen die sogenannte Getto-Chronik, ein etwa 2000seitiger Text. 15 Mitarbeiter, überwiegend Journalisten und Schriftsteller, hatten seit Januar 1941 täglich alle relevanten Ereignisse im Lodzer Getto auf polnisch und deutsch akribisch festgehalten - aus der Perspektive der Verwaltung des "Judenältesten", was sie aber nicht daran hinderte, ihre Notizen mit kurzen aufschlussreichen Kommentaren zu versehen.

Auf Initiative von Mordechaj Chaim Rumkowski (er stand an der Spitze der scheinbaren jüdischen Selbstverwaltung und gilt als eine der umstrittensten Figuren in der Geschichte des Holocaust) war in der Verwaltung des "Ältesten der Juden" eine Abteilung gegründet worden, die Leben und Sterben im Getto für zukünftige Generationen dokumentieren sollte, wie aus einer Karte der sogenannten "Enzyklopädie des Gettos" hervorgeht, die 1944 als letztes großes Unternehmen des Archivs zur Ergänzung der Chronik entstanden war. Daneben gab es dort noch ein Grafikbüro und ein "photographisches Referat" mit einem gut ausgestatteten Labor, in dem heimlich aufgenommene Fotos entwickelt wurden.

Chronik-Autoren

Nachzulesen sind die Eintragungen der Lodzer Chronik aus den letzten beiden Monaten Juni und Juli 1944 in der kürzlich herausgegebenen Edition "Letzte Tage". In der Einleitung beleuchtet Sascha Feuchert die Geschichte von Getto und Archiv und stellt die drei wichtigsten Chronik-Autoren vor: Oskar Singer, Oskar Rosenfeld und Peter Wertheimer, von denen keiner die Schreckenszeit überlebt hat. In einem weiteren Beitrag untersucht Jörg Riecke die Sprache von Opfern im Angesicht des Todes.

Am eindrucksvollsten und erschütterndsten ist die Chronik selbst, die tiefe Einblicke in eine abgeschlossene Welt jenseits aller humanen Lebensbedingungen gewährt. Jeder Tageseintrag beginnt mit allgemeinen Nachrichten und statistischen Angaben, über Sterbefälle, zu denen auch Selbstmorde gehören, über Geburten, ansteckende Krankheiten, Verhaftungen. Aber es kommen auch Trauungen und Raubmorde vor.

Besonders aussagekräftig ist der oft angefügte "Kleine Getto-Spiegel". Durch ihn erfährt man über Schwierigkeiten im Zusammenleben auf engstem Raum, von Tragödien, die sich insgeheim abspielen, von "Nachrichten, die durch die Drähte des Gettos dringen" und eine allgemeine Nervosität hervorrufen. Angst "schnürt allen die Kehle ab", vor allem dann, wenn Freiwillige zur Arbeit außerhalb des Gettos gesucht werden. Weiß doch keiner, was draußen mit den Menschen geschieht.

"Wer nur die kleinsten 'Plejzes' (Beziehungen) haben wird, der wird versuchen, sich der Ausreise zu entziehen" heißt es an einer Stelle. Kaum einer will "heraus aus der Hölle, weil man sich an sie gewöhnt hat", schreibt Oskar Singer, und Oskar Rosenfeld fügt hinzu: "Gott allein weiß, für wen es besser sein wird; für den, der hier bleibt oder für den, der weggeht." Aber man liest auch, dass manche Menschen "verstockt" seien und dass durch Not und Angst der ein oder andere "egoistisch" und "rücksichtslos" geworden sei.

Alarmierende Gerüchte machen häufig die Runde machen und nicht wenige werden dann vonPanik ergriffen. Niederdrückend und allgegenwärtig sind Hunger, Not, Einsamkeit, Misstrauen und Bangigkeit, die man oft deutlich zwischen den Zeilen spürt. "Und doch - der jüdische Glaube an eine Gerechtigkeit, die irgendwann siegen wird, lässt den äußersten Pessimismus nicht zu. Man versucht, sich selbst zu trösten, sich irgendwie selbst zu täuschen", heißt es an einer Stelle. "Keine Ausreise-Aufforderung, eine Ration, ein Laib Brot - diese drei Fakten an einem Tag hatten die Kraft, das Getto glücklich zu machen" merkt Oskar Singer einmal an. "Der Tag verlief ruhig... Die Stimmung im Getto ist rosig. Alles ist voller Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges", so ein Eintrag am 23.Juli 1944. Manchmal klingt auch leiser Humor an, wie etwa in der Geschichte von der Bepflanzung eines Kinderwagens mit Gemüse, den der Besitzer aus Furcht vor Diebstahl unablässig im Getto herumfuhr.

Der Band - Auftakt für eine komplette Ausgabe der Chronik, die für das Jahr 2006 vorgesehen ist - schließt mit der Chronologie zur Geschichte des Gettos. Diese wiederum endet mit dem Vermerk, dass Lodz am 19. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde und dass 600 Menschen, die im Getto als Aufräumkommando zurückgelassen worden waren, das Getto überlebt haben sowie etwa 270 Menschen, denen es gelungen war, sich vor den Deportationen in Sicherheit zu bringen.

Sascha Feuchert und andere (Hrsg.)

Letzte Tage.

Die Lodzer Getto-Chronik Juni/Juli 1944.

Wallstein Verlag, Göttingen 2004; 256 S., 19,- Euro

Ursula Homann arbeitet als freie Journalistin im sauerländischen Arnstadt.

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