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Marco Finetti
Bronxford in Deutschland
Die Hochschulen zwischen Glanz und
Elend
Was er von den Hochschulen seines Landes halte,
wurde der Mailänder Rechtsphilosoph Mario Losano einmal
gefragt. Seine Antwort, niedergeschrieben in dem 1993 erschienenen
Essay "L'università di Bronxford un instante prima del crollo"
war ebenso einfach wie kompliziert, philosophisch eben: Sie, die
Hochschulen, schrieb Losano, erschienen ihm "wie eine Mischung aus
dem Elend der Bronx und dem Glanz von Oxford".
Gerade so verhält es sich auch mit den
deutschen Hochschulen zu Beginn des Jahres 2006. Elend und Glanz
liegen dicht beieinander. Unzumutbare Studien-, Lehr- und
Forschungsbedingungen sind hier ebenso anzutreffen wie
paradiesische. Zwischen baufälligen Instituten und wahren
Hightech-Tempeln der Wissenschaft liegen manchmal nur wenige
Kilometer. Unbedarfte Professoren und akademische Alleskönner
lehren oft Tür an Tür, unbegabte und hochtalentierte
Studenten sitzen im Hörsaal Knie an Knie,
mittelmäßige Forschung und solche von Weltruf finden
mitunter am selben Lehrstuhl statt. Die Reihe ließe sich
fortsetzen, bei den Rektoren und Präsidenten der Hochschulen
ebenso wie bei den Bildungspolitikern in den Parteien, in den
Ländern und im Bund.
Was von beidem überwiegt, das Elend oder
der Glanz, lässt sich mitunter nur schwer ausmachen. Derzeit
zumindest scheint es an den Universitäten und Fachhochschulen
durchaus stärker zu glänzen als in vielen Jahren zuvor.
Die Aufholjagd auf dem Bildungsmarkt hat begonnen, das deutsche
Hochschul- und Wissenschaftssystem hat erkannt, dass es
konkurrenzfähiger werden muss. Und erste Erfolge sind, im
Innern wie nach außen, zu erkennen. Doch der Glanz ist
trügerisch. Das alte Elend wirkt nach. Und schon droht
neues.
Sichtbare Reformfreude
Das Elend: Das Elend der deutschen
Hochschulen ist zunächst das Resultat von beinahe drei
Jahrzehnten verfehlter Hochschulpolitik, vor allem in den
Ländern, aber auch im Bund. Die deutschen Hochschulen sind
2006 noch immer vor allem das, was sie 1996 und 1986 und im Grunde
auch 1976 schon waren: überfüllt und unterfinanziert. In
beidem zeigt sich die Ignoranz der Politik, die in den 70er-Jahren
des vorigen Jahrhunderts die Hochschulen öffnete, sie dann
aber mit den Folgen allein ließ. Der Versuch, den immer
höheren Studentenberg zu "untertunneln" - sprich: mangels Geld
oder guten Willens die Unis die Überlast selber tragen zu
lassen - ist grandios gescheitert. Die Zahl der Studenten hat sich
seit 1977 auf knapp zwei Millionen fast verdoppelt. Die Zahl der
"ausfinanzierten Studienplätze", für die genügend
Professoren, Gebäude und Geräte vorhanden sind, stieg
dagegen um nicht einmal 15 Prozent.
Überall fehlt es an Geld. Wie viel,
weiß niemand genau. "Um nur dieselben Lehr- und
Forschungsbedingungen wie Mitte der 70er-Jahre zu
gewährleisten, müssten sofort 6 Milliarden Mark in die
Hochschulen fließen", errechnete die
Hochschulrektorenkonferenz (HRK) schon vor einem Jahrzehnt.
Inzwischen dürfte das Loch noch weitaus größer
sein.
Der Glanz: Dass es unter diesen
Umständen an den hiesigen Hochschulen überhaupt noch
glänzt - ja, derzeit sogar stärker als ehedem -, das ist
schon an sich eine Leistung. "Wir sind besser als wir jammern",
sagt denn auch Detlef Müller-Böling, als Leiter des von
der Bertelsmann-Stiftung und der Rektorenkonferenz getragenen
Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), einer der
wesentlichen Ideengeber für die Hochschulreform. "Ungemein
viel ist in Bewegung geraten", konstatiert Müller-Böling
- und weiß sich mit dem bis Ende 2005 amtierenden
HRK-Präsidenten Peter Gaehtgens einig in dem Urteil: "Wenn
andere Teile von Staat und Gesellschaft genauso reformfreudig
wären wie die Hochschulen, gäbe es in diesem Land das
Wort vom Reformstau nicht."
Der Glanz kam zunächst von innen. Mitte
der 90er-Jahre waren es ideenreiche und mutige Rektoren und
Professoren in Heidelberg, Hamburg und anderswo, die erstmals
Haushaltsgelder nach Leistung verteilten, modernere
Leitungsstrukturen erprobten und neue Geldquellen, etwa in der
Wirtschaft, erschlossen. Zur selben Zeit begannen Politiker,
zunächst in einigen Ländern, später auch im Bund,
die Hochschulgesetze zu entschlacken und den bürokratischen
Würgegriff zu lockern.
"Der Staat hat sich weit zurückgezogen",
resümiert CHE-Mann Müller-Böling: "Er ist vom Vater
Staat zum Partner Staat geworden." Für die Hochschulen
bedeutet das "mehr Freiheit und zugleich erheblich mehr
Verantwortung", sagt Johann-Dietrich Wörner, der seit Anfang
2005 als "erster voll-autonomer deutscher Uni-Präsident" in
Darmstadt von der Berufung neuer Professoren über die
Verwendung des Etats bis hin zur Vermietung von Hörsälen
alles in eigener Regie entscheiden kann.
Bereitschaft für neue Wege
Selbst die Gretchenfrage der deutschen
Hochschulpolitik ist seit neuestem beantwortet: die nach den
Studiengebühren. Der zunächst von einigen, in wenigen
Jahren vermutlich aber von allen Ländern gewagte Schritt, die
Hochschüler an den Kosten ihrer akademischen Ausbildung zu
beteiligen, mag unter dem Gesichtspunkt von Bildungs- und sozialer
Gerechtigkeit zu Recht weiter umstritten sein - hochschulpolitisch
ist er ein überdeutliches Signal für die Bereitschaft,
neue Wege zu gehen.
Stärker noch als von diesen Neuerungen
im Innern rührt der Glanz aber vielleicht von zwei
Initiativen, mit denen die deutschen Hochschulen nach außen
und im weltweiten Wettbewerb bestehen wollen. Mit den international
kompatiblen gestuften Bachelor- und Master-Studiengängen und
-abschlüssen, die immer mehr von ihnen einführen, wollen
sie Teil des gemeinsamen "europäischen Hochschulraums" werden
- und teilhaben an dem Traum vom "Studium ohne Grenzen". Und mit
der 2005 von Bund und Ländern gemeinsam gestarteten
"Exzellenzinitiative", besser bekannt als Programm zur
Förderung von "Elite-Unis", soll die Spitzenforschung an den
Universitäten wieder dorthin gelangen, wo sie einst stand: in
die weltweite Spitzenklasse. Das Interesse daran ist groß. Um
die stolze Fördersumme von 1,9 Milliarden Euro bewerben sich
die Hochschulen mit mehr als 300 neuen Projekten - und auch daraus
dürfte in den kommenden Jahren manch neuer Glanz
erwachsen.
Selbst bei diesen glänzenden Neuerungen
aber war und ist das Elend nicht weit. Beispiel eins: Die
Exzellenzinitiative war zwischen Bund und Ländern heftig
umstritten und wurde von letzteren im Streit um die
Föderalismusreform und die Machtverteilung in der
Bildungspolitik ein Jahr lang blockiert - ein Jahr, das den
Forschern an den Hochschulen im weltweiten Wettbewerb so verloren
ging. Beispiel zwei: Die Bachelor- und Master-Studiengänge
werden von manchen Fakultäten, Fachverbänden und auch
Arbeitgebern vehement abgelehnt - nicht vor allem aus sachlichen,
sondern aus ideologischen Gründen. Und Beispiel drei: Bei den
Studiengebühren machen sich die Hochschulpolitiker vollends
unglaubwürdig, weil sie es nicht fertig bringen, die
Gebühren durch Stipendien so sozialverträglich
abzufedern, damit sie niemandem vom Studium abhalten.
Massenansturm steht bevor
Und während so der eine oder andere
Glanz bereits wieder verblasst, zieht bereits neues Elend herauf.
Die deutschen Hochschulen stehen vor einem wahren Massenansturm.
Nach einer aktuellen Prognose der Kultusminister dürften sich
2014, also schon in wenigen Jahren, bis zu 2,7 Millionen Studenten
in den Hörsälen, Instituten, Bibliotheken und Mensen
drängen, mehr als 700.000 mehr als jetzt. Wie sie diesen neuen
gewaltigen Studentenberg bewältigen sollen, der durch die
demografische Entwicklung und die Schulzeitverkürzungen in den
Ländern auf sie zukommt, wissen die Hochschulen nicht. Ihre
Rektoren forderten unlängst einen "nationalen Hochschulpakt",
mit dem die Länder und der Bund sofort mehrere Milliarden Euro
bereitstellen sollen. Die Forderung ist berechtigt, doch ebenso
hilflos - und vor allem unrealistisch.
Selbst finanzstarke Bundesländer wie
Bayern und Baden-Württemberg können nicht annähernd
so viel Geld in die Hochschulen pumpen, wie notwendig ist. Und auch
der Bund, der seine Hochschulmittel unter der rot-grünen
Koalition immerhin um fast ein Drittel erhöht hatte, kann
nicht mehr. Oder vielmehr: Er darf nicht mehr, selbst wenn er es
noch könnte. Denn Ende 2005 hat die neue Bundesregierung als
eines ihrer ersten Projekte endlich die Föderalismusreform auf
den Weg gebracht - und die gibt den Ländern in der
Hochschulpolitik praktisch die alleinige Macht. Vom Hochschulbau
über die Professorenbesoldung bis hin zu finanziellen Hilfen
in Form von Sonderprogrammen sollen sie künftig alles in
eigener Regie regeln können.
Die Hochschulen und
Wissenschaftsorganisationen laufen dagegen Sturm, sie
befürchten dann auch in der Hochschulpolitik jene
"Kleinstaaterei", die in der Schulpolitik jahrzehntelang herrschte
und geradewegs ins "Pisa-Debakel" führte. Und auch die neue
Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), die zuvor
Kultusministerin in Baden-Württemberg war, will nicht auf alle
Mitsprachemöglichkeiten verzichten. "Der Bund wird nicht
bloßer Zuschauer sein", kündigte sie bei ihrem
Amtsantritt an. Doch angesichts der Pläne der
Föderalismusreformer dürfte das ein frommer Wunsch
sein.
So könnte bei allem neuen und oft auch
unvermuteten Glanz an den deutschen Hochschulen am Ende das Elend
wieder obsiegen. Und damit wiederum könnte auch eine zweite
Feststellung von Mario Losano hierzulande Wirklichkeit werden.
Losano entwarf seinerzeit nicht nur das Bild der Universität
von Bronxford, er stellte auch fest: Diese Universität ist nur
einen winzigen Schritt vom totalen Kollaps entfernt.
Der Autor arbeitet als Bildungs- und Wissenschaftskorrespondent der
"Süddeutschen Zeitung" in Bonn.
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