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15. Wahlperiode
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   14. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Die Sitzung ist eröffnet.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Tag und gute, konstruktive Beratungen.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen mitteilen, dass interfraktionell vereinbart worden ist, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion der LINKEN.

Vorschlag des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, bei einer entsprechenden Entwicklung der Steuereinnahmen 2006 auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verzichten

(bereits erledigt)

ZP 2 Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Warnungen vor einer Militarisierung der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm

ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD

Für die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten und Grundfreiheiten beim Umgang mit Gefangenen

- Drucksache 16/431 -

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Für die Schließung von Guantanamo Bay und die Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Verfahren

- Drucksache 16/454 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Rechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay

- Drucksache 16/443 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss

ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 16)

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

- Drucksache 16/27 -

(Erste Beratung 8. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

(10. Ausschuss)

- Drucksache 16/425 -

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

   Die Tagesordnungspunkte 8 - Vorratsdatenspeicherung - und 15 b - Entschädigungsrecht - sollen abgesetzt werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 11 - Abfallrecht - unmittelbar nach dem Tagesordnungspunkt 9 - Änderung des Gentechnikgesetzes - aufzurufen. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.

   Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahreswirtschaftsbericht 2006 der Bundesregierung

Reformieren, investieren, Zukunft gestalten -

Politik für mehr Arbeit in Deutschland

- Drucksache 16/450 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahresgutachten 2005/06 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

- Drucksache 16/65 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache insgesamt zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Bundesminister für Wirtschaft, Michael Glos.

Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, wo Deutschlands Zukunft liegt: im Bereich Bildung und Innovation. Das sind nach meiner festen Überzeugung die Grundlagen für zukünftiges Wachstum und damit auch für wieder mehr Beschäftigung in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Die Überschrift des vorliegenden Jahreswirtschaftsberichts lautet: „Reformieren, investieren, Zukunft gestalten - Politik für mehr Arbeit in Deutschland“. Die konjunkturelle Erholung Deutschlands hat sich, wie ich meine, gefestigt und wird in diesem Jahr nach Überzeugung aller Institute an Breite gewinnen; darauf deuten die aktuellen Indikatoren hin wie auch die Auftragseingänge, die Produktionsdaten und die Stimmungsindikatoren. Wie in unserem Jahreswirtschaftsbericht steht, erwarten wir für das Jahr 2006 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um real 1,5 Prozent. Nun kann man streiten, wie Prognosen von Fachleuten zu werten sind. Die offizielle Prognose, nach den statistischen Daten, die zugrunde gelegt sind, lautet: 1,4 Prozent. Es gibt aber auch Stimmen, nach denen der Anstieg bis 1,6 Prozent betragen kann. Ich bleibe bei 1,5 Prozent. Ich meine, dass das eine bewusst vorsichtige Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Eckdaten ist. Es ist nämlich besser, vorsichtiger zu schätzen und es kommt dann günstiger, als den Weg zu gehen, der in der Vergangenheit beschritten worden ist. Ich meine, wir haben diesmal die Chance, von der tatsächlichen Entwicklung positiv übertroffen zu werden.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das fängt ja gut an! - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das fängt ja gut an mit euch! - Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD): Wir haben nur eine gemeinsame Zukunft, keine gemeinsame Vergangenheit! - Heiterkeit im ganzen Hause)

- Ich will die Gespräche im Plenum nicht stören, Herr Präsident.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Als Bundestagspräsident muss ich darauf auch größten Wert legen, Herr Minister.

Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:

Mein Respekt als Bundestagsabgeordneter vor dem Parlament ist viel zu groß.

Die außenwirtschaftlichen Impulse dürften angesichts der robusten Weltwirtschaft erhalten bleiben. Bei einem geschätzten Exportanstieg von 6,5 Prozent werden die deutschen Exporteure erneut Marktanteile hinzugewinnen.

   Lassen Sie mich an dieser Stelle allen Menschen danken, die mit dazu beitragen, dass wir Exportweltmeister sind und es bleiben werden. Dazu zählen auch diejenigen, die bereit sind, ins Ausland zu gehen, um dort deutsche Anlagen zu montieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Sie sichern damit Arbeitsplätze in Deutschland und tragen in anderen Ländern der Welt zu einer wirtschaftlichen Entwicklung bei, was wiederum eine friedliche Entwicklung unterstützt. Deswegen appelliere ich an die Entführer der beiden deutschen Ingenieure im Irak, diese freizulassen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

   Auch die Binnenkonjunktur könnte allmählich - das wünschen wir uns alle - wieder an Zugkraft gewinnen. Darauf deuten sehr viele Umfrageergebnisse hin. Vor allem ist die Stimmung der Deutschen wieder zuversichtlicher geworden. Wir wissen natürlich, dass das wirtschaftliche Handeln der augenblicklichen Stimmung hinterherhinkt. Wenn aber viele Menschen der Meinung sind, es gehe aufwärts und diese Entwicklung sei stabil, dann wird sich auch deren Kaufverhalten verbessern. Allein die Aktivitäten bei Ausrüstungsinvestitionen in unserem Land sprechen schon Bände. Das zeigt, dass der Impuls von außen auf die Bereitschaft zu Investitionen im Inland durchgeschlagen hat. Ich hoffe, dass das auch für die Konsumbereitschaft gelten wird.

   Es gibt viele Zahlen, die dafür sprechen, dass der Aufschwung breit angelegt ist. Als Beispiele nenne ich nur: die kräftige Gewinnentwicklung in den vergangenen Jahren, insbesondere bei exportorientierten Unternehmen, die fortgeschrittene Bilanzbereinigung bei vielen Unternehmen, die lange Zeit viel Faules mitgeschleppt haben, bis man es in der Bilanz entsprechend bereinigen konnte, und die zuletzt wieder gestiegene Kapazitätsauslastung. Auch der letzte Punkt ist wichtig; denn erst wenn die Kapazitäten ausgelastet sind, kommt es zu Erweiterungsinvestitionen. Ich meine, dass das günstige Anzeichen sind.

   Die Zahl der Arbeitslosen wird dieser Prognose nach im Jahresdurchschnitt um rund 350 000 auf 4,5 Millionen Personen zurückgehen.

   Wie jede Vorhersage ist auch die Jahresprojektion der Bundesregierung mit Risiken und damit mit Unsicherheiten behaftet. Niemand vermag zum Beispiel exakt vorauszusagen, ob es erneut zu einem weltweiten Anstieg bei den Rohstoffpreisen kommen wird, vor allem beim Rohöl. Wir haben bei unserer Prognose schon einen hohen Rohölpreis zugrunde gelegt. Aber dieser kann natürlich noch übertroffen werden; schließlich wird Rohöl zum großen Teil in unsicheren Gegenden der Welt gefördert. Das zeigt letztlich unsere Abhängigkeit von solchen Entwicklungen.

   Niemand kann heute vorhersagen, welche Auswirkungen die globalen Ungleichgewichte haben werden. Das gilt insbesondere für die Entwicklung des Haushalts- und Leistungsbilanzdefizits der USA. Niemand weiß, wie das auf die Weltfinanzmärkte durchschlagen wird.

   Auf der anderen Seite bestehen durchaus Chancen für eine günstigere Entwicklung als vorausgesagt. Es kommt vor allem darauf an, das Vertrauen der Menschen zu stärken. Wir werden mit unserer wirtschaftspolitischen Strategie zu einer Stärkung des Vertrauens beitragen. Das ist das Ziel der Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Der Dreiklang, den wir setzen, besteht aus Sanieren, Reformieren, Investieren. Zum ersten Punkt: Gesunde und tragfähige Staatsfinanzen sind eine wesentliche Grundlage für Vertrauen in die Politik. Es kann mittel- und längerfristig nur dann einen Aufschwung geben, wenn wir uns an die Sanierung der öffentlichen Finanzen heranwagen. Um die Solidität dauerhaft zu sichern, muss es uns gelingen, die öffentlichen Haushalte strukturell zu konsolidieren und die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu stellen. Wir werden deshalb die Konsolidierung des Bundeshaushaltes und der sozialen Sicherungssysteme mit großer Entschlossenheit angehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Darauf bin ich aber gespannt!)

Ich bitte Sie von allen Seiten des Hauses ganz herzlich um Ihre Mitwirkung.

Ich bin mir der Problematik der Erhöhung der Mehrwertsteuer natürlich sehr bewusst. Wenn wir aber von einer Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte reden, dann müssen wir immer wieder hinzufügen, dass 1 Prozentpunkt davon direkt in die Senkung der Lohnnebenkosten fließt.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und der Rest?)

Die zu hohen Lohnzusatzkosten - so sagt man inzwischen vielleicht besser, weil es in Teilen nicht mehr nur Nebenkosten, sondern Hauptkosten sind - sind noch schädlicher für die Volkswirtschaft als die Steuerbelastung. Wenn wir zumindest unsere Steuerquote mit dem Schnitt in anderen Ländern vergleichen, dann stellen wir fest, dass wir gar nicht so schlecht liegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und bei der Rente und der Gesundheit treiben Sie es hoch! Blanker Unsinn!)

   Wie gesagt: Es läuft alles nur gut, wenn es auch Wachstum gibt. Deshalb ist es zweitens notwendig, dass wir mit einem wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Jahr die notwendige Breite schaffen, damit der Zug des Aufschwungs auch im nächsten Jahr, wenn die Mehrwertsteuererhöhung greift, so rasch auf den Gleisen fährt, dass er nicht ohne weiteres gestoppt werden kann.

   Wir wollen, dass die Sozialversicherungsbeiträge dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden. Das ist eine der Aufgaben der großen Koalition. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent zum 1. Januar 2007. Handlungsbedarf besteht auch am Arbeitsmarkt, um möglichst vielen Menschen eine Chance auf Arbeit zu geben. So bedarf es des so genannten - -

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und in der Rentenversicherung gehen Sie hoch! Das wissen Sie doch! Erzählen Sie doch keinen Mist! Um 0,4 Prozentpunkte gehen Sie bei der Rente hoch!)

- Ich kann Sie schlecht verstehen. Ich empfehle Ihnen, aufzustehen und sich zu melden, Herr Kuhn. Ihre Beiträge sind im Allgemeinen ja so intelligent, dass Sie sie auch laut und ohne dass Störungen damit verbunden sind, vorbringen können.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um 0,4 Prozentpunkte gehen Sie bei der Rente hoch!)

- Ich lasse mich von Ihnen trotzdem nicht aus dem Konzept bringen.

   Ich sage es noch einmal: Wir bedürfen auch des so genannten Niedriglohnsektors und einer Neuregelung am Arbeitsmarkt dergestalt, dass auch die Menschen, die weniger qualifiziert und leistungsfähig sind und die sich in der komplizierten Arbeitswelt oft nicht mehr gebraucht fühlen, Arbeit und Brot finden. Das ist eine der wesentlichen Aufgaben für die Zukunft. Dafür wird eine Kommission eingesetzt und wir werden unvoreingenommen prüfen, was man sinnvollerweise tun kann.

   Neben der Haushaltssanierung und weiteren strukturellen Reformen geht es der Bundesregierung drittens um mehr Investitionen und Innovationen. Auf unserer Regierungsklausur in Genshagen haben wir in fünf Bereichen konkrete Impulse mit einem Volumen von insgesamt 25 Milliarden Euro bezogen auf die Legislaturperiode beschlossen.

   Dazu gehört die Förderung von Forschung und Entwicklung. Dabei geht mein Appell auch an die Wirtschaft, mitzumachen und nicht infolge sich erhöhender staatlicher Mittel möglicherweise die eigenen Forschungsmittel zu kürzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das Gegenteil muss der Fall sein. Wir wollen mit dem öffentlichen Geld, das wir einsetzen, zusätzliche Impulse auslösen.

   Zu unserem Programm gehören auch die Belebung von Mittelstand und Wirtschaft sowie die Erhöhung der Verkehrsinvestitionen, was nicht nur der Bauwirtschaft direkt zugute kommt; vielmehr wirkt sich die dann vorhandene Infrastruktur natürlich auch günstig auf unsere Wirtschaft und die Investitionen an den verkehrsmäßig günstigen Standorten aus.

   Zu unserem Programm gehört aber auch die Förderung der Familien. Das ist eine der Sorgen unseres Landes. Ich bin vom amerikanischen Handelsminister Gutierrez, der mich gestern besucht hat, gefragt worden, warum wir in Deutschland schon stolz sind, wenn wir Wachstumsraten von vielleicht 2 Prozent, wenn wir sehr optimistisch sind, erreichen können.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, genau!)

Ich habe gesagt: Das hat auch etwas mit unserer Bevölkerungsentwicklung zu tun. Schauen Sie sich die Bevölkerungsentwicklung Ihres Landes an und schauen Sie sich die Bevölkerungsentwicklung unseres Landes an.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann müssen Sie mal bei der Einwanderung neu nachdenken!)

Dann sehen Sie, wo im Grunde ein großes Stück unserer Probleme liegt.

   Ich darf die Maßnahmen, die wir konkret vereinbart haben, weiter aufzählen: Es geht auch um die steuerliche Abzugsfähigkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen. Auch hier sind die Weichen entsprechend gestellt worden.

All diese Maßnahmen sollen zur Stärkung der Wachstumskräfte beitragen und sind in unsere Projektion eingearbeitet. Natürlich ist in diese Projektion auch die Tatsache eingearbeitet, dass die Mehrwertsteuererhöhung, die für nächstes Jahr geplant ist, in diesem Jahr zusätzliche Käufe auslöst. Es gibt selbstverständlich einen Vorzieheffekt; dieser ist gewollt.

   Bereits kurzfristig erhoffe ich mir Anstöße von der Revitalisierung der degressiven Abschreibung für bewegliche Anlagegüter auf dem alten Stand. Aber das muss dann von einer Reform der Unternehmensbesteuerung zum 1. Januar 2008 abgelöst werden. Die nominalen sowie die effektiven Steuersätze auf unternehmerische Tätigkeit sind bei uns in Deutschland im internationalen und auch im europäischen Vergleich zu hoch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz-Peter Haustein (FDP))

Effektiv liegen sie bei 36 Prozent. Im europäischen Durchschnitt sind es 30 Prozent, in Osteuropa unter 20 Prozent.

   Unter Federführung des Finanzministers wird unter Einbeziehung von Experten noch in diesem Jahr ein Vorschlag vorgelegt werden. Wir haben die Chance, uns zuerst mehrere Vorschläge anzusehen. Diese müssen dann vom Finanzminister zusammen mit dem Wirtschaftsminister bewertet und möglichst bald dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zugeleitet werden. Die Menschen wollen schließlich wissen, was 2008 auf sie zukommt.

   Wachstumspolitisch besonders wichtig ist mir das Ziel, die Ausgaben für Forschung und Technologie bis 2010 auf insgesamt 3 Prozent des Bruttosozialproduktes zu steigern; denn in der Fähigkeit, innovativ zu sein und zu bleiben, liegt Deutschlands Zukunft. Nur dadurch kann unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem hohen Niveau von Wohlstand und Sozialleistungen aufrechterhalten werden. Mit Billiglöhnen in anderen Ländern können wir nicht konkurrieren.

   Für die Jahre 2006 bis 2009 werden aus Haushaltsmitteln 6 Milliarden Euro für Forschung und Innovation bereitgestellt. Ich werde insbesondere bei den Forschungsmitteln, die dem BMWi zugute kommen, dafür sorgen, dass der Schwerpunkt auf der Stärkung des innovativen Mittelstandes und der technologieorientierten Gründer liegen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir werden aber selbstverständlich innovative Leuchtturmprojekte fördern, zum Beispiel das so genannte emissionsfreie Kraftwerk, um auf dem Energiesektor neue Lösungen voranzutreiben.

(Beifall des Abg. Ortwin Runde (SPD))

   Alle Maßnahmen werden wir im Aktionsplan „Hightech Strategie Deutschland“ bündeln. Wir versprechen uns von diesen Maßnahmen eine doppelte Dividende. Mit den kurzfristigen Impulsen tragen wir dazu bei, die aktuelle konjunkturelle Belebung zu festigen. Ich glaube, das wollen alle. Diese kurzfristigen Impulse sind natürlich temporär angelegt und laufen nach einer Weile aus. Ein Beispiel: Die Verbesserung der Abschreibungsbedingungen wird in eine echte Unternehmensteuerreform münden.

   Mit den eher längerfristig wirksamen Maßnahmen schaffen wir darüber hinaus die Voraussetzung für ein dauerhaft höheres Wachstum. Hierzu zählen die Förderung von Forschung und Entwicklung, die ich bereits erwähnt habe, aber natürlich auch die Maßnahmen, die strukturell und längerfristig zu einer Entlastung des Haushaltes führen. Sie sind ebenfalls auf Dauer angelegt und werden zur strukturellen Haushaltskonsolidierung beitragen. Dazu gehören zum Beispiel die Ausgabenkürzungen, der Abbau von Steuervergünstigungen sowie die Maßnahmen zur Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme.

   Wir werden mit einer Mittelstandsinitiative starten, in deren Mittelpunkt weniger Bürokratie und mehr Flexibilität steht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das kostet den Staat und die öffentliche Hand kein Geld; aber es hilft den Betrieben, die investieren und Arbeitsplätze schaffen wollen.

Beim Bundeskanzleramt wird ein Normenkontrollrat eingerichtet. Unabhängige Fachleute sollen künftig alle Gesetzesinitiativen auf Erforderlichkeit und bürokratische Kosten überprüfen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass nicht jede Abschaffung von Regelungen unbedingt Beifall auslöst. Sehr viele haben sich an diese Regelungen gewöhnt.

   Lassen Sie mich ein aktuelles Beispiel anführen: Die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder hat Vereinfachungen im Gaststättengesetz - beispielsweise durch die Abschaffung der Bundeskompetenz - gefordert. Sobald solche Maßnahmen jedoch im Jahreswirtschaftsbericht aufgeführt werden und ihre Umsetzung Gestalt annimmt, werden Stimmen laut, die sich dagegen aussprechen.

   Aber zurück zu den von uns geplanten Maßnahmen: Wir müssen - das halte ich für ganz entscheidend - auch die Selbstständigenquote in unserem Land steigern.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ein immer noch sehr stark industriell geprägtes Land mit einer hoch komplizierten Volkswirtschaft wie Deutschland ist in besonderem Maße in Sorge um den Energiepreis. Der Energiepreis in Deutschland ist sehr vielen staatlichen Belastungen ausgesetzt. Das ist bekannt und unstrittig. Wir müssen aber dafür sorgen, dass der Wettbewerb auf dem Energiemarkt funktioniert und die Versorgungssicherheit - auch über entsprechend gute Leitungsnetze - erhalten wird. Darüber hinaus müssen ausreichend Kapazitäten vorhanden sein, um einen echten Wettbewerb zu ermöglichen. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz verfügen wir über ein Instrument, das den dafür zuständigen nachgeordneten Behörden erlaubt, über den Wettbewerb zu wachen.

   Als Maßnahme zur Steigerung der Energieeffizienz erhöhen wir das Fördervolumen für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf 1,4 Milliarden Euro jährlich. Dadurch werden auch Arbeitsplätze im Handwerk geschaffen, worum es mir in besonderem Maße geht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Wir wollen den Energiemix ausweiten. Auf dem geplanten Gipfeltreffen mit der Bundeskanzlerin werden wir die künftigen Leitlinien ziehen.

   Wir setzen in unserer Politik auf unsere Stärken in Deutschland: auf qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitsnehmerinnen bzw. wettbewerbsfähige Unternehmen und vor allen Dingen auf den sozialen Frieden, der ein hohes Gut ist. Ich kann nur hoffen, dass sich die Tarifpartner in den anstehenden Verhandlungen so einigen, dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht gefährdet wird und dass vorhandene Spielräume zugunsten unseres Landes mit hoher Flexibilität genutzt werden. Daran arbeiten wir.

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Rainer Brüderle (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat vor wenigen Wochen an dieser Stelle ihre Politik unter das Motto „Mehr Freiheit wagen“ gestellt. Sie hat es gestern in Davos erneut als Strategie der Bundesregierung betont. In der Realität sieht die Politik aber leider ganz anders aus. Die Bundesregierung hat sich allenfalls die Freiheit genommen, ihre Prognose im Jahreswirtschaftsbericht sehr vorsichtig anzulegen.

   Das prognostizierte Wachstum um 1,4 Prozent liegt am unteren Rande dessen, was die Ökonomen vorhersagen. Auch bei den Investitionen und dem Konsum liegen die Prognosen am unteren Rande der Expertenmeinungen. Ich kritisiere das nicht; besser wäre es aber, wenn die Regierung bei den steuerlichen Belastungen der Bürger Zurückhaltung üben und ihnen weniger abverlangen würde.

(Beifall bei der FDP)

   Herr Glos hat persönlich eine deutlich optimistischere Prognose öffentlich geäußert. Finanzminister Steinbrück will aber offenbar den Druck aufrechterhalten, um die Debatte über die Mehrwertsteuererhöhung keinesfalls weiter anzuheizen. Deshalb ist die Prognose so moderat ausgefallen.

Die Erstellung des Jahreswirtschaftsberichts ist die Aufgabe des Wirtschaftsministers. Man muss sich aber ohnehin fragen, wofür Herr Glos eigentlich zuständig ist. Wenn ich Energie höre, sehe ich Herrn Gabriel. Wenn ich Konjunkturprognose höre, sehe ich Herrn Steinbrück. Wenn ich Ministererlaubnis höre, sehe ich die Herren Koch und Stoiber. Aus dem ERP-Sondervermögen sollen offenbar 2 Milliarden Euro zum Stopfen von Haushaltslöchern herausgebrochen werden. Das steht übrigens im Gegensatz zum Koalitionsvertrag und auch zum Jahreswirtschaftsbericht. Herr Glos, vielleicht nehmen Sie im Laufe der Debatte die Gelegenheit wahr, richtig zu stellen, dass die Mittel für den Mittelstand nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern missbraucht werden dürfen.

(Beifall bei der FDP)

   Die Union hat jedenfalls, als sie noch in der Opposition war, den Ausverkauf der Marshallplanmittel vehement kritisiert. Meine Bitte: Fallen Sie hier nicht um! Lassen Sie die Sozialdemokratisierung der Union nicht so weit gehen, dass Sie alle Ihre Vorstellungen, die Sie vor der Wahl geäußert haben, wieder einsammeln.

(Beifall bei der FDP)

   Wo sich der Wirtschaftsminister selber äußert, geht es hott und hü. Vor dem Jahreswechsel fordert er noch höhere Löhne, damit die Konjunktur in Gang kommt.

(Beifall des Abg. Ortwin Runde (SPD))

Nach dem Jahreswechsel fordert er Lohnzurückhaltung. Er fordert nun - das ist die neueste Variante - differenzierte Lösungen. Im Klartext heißt das betriebliche Bündnisse für Arbeit. Aber er hat nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen, nämlich den Mitarbeitern im Betrieb tatsächlich zu ermöglichen, mit 75 Prozent Mehrheit eigenständig Regelungen zu treffen, und zwar jenseits des Diktats der beiden Kartellbrüder Gewerkschaften und Arbeitgeber. Das wäre die Konsequenz einer differenzierten Lösung.

(Beifall bei der FDP)

   Eigentlich ist der Bundeswirtschaftsminister das ordnungspolitische Gewissen einer Regierung. Es wäre geradezu seine Pflicht, solche Öffnungsklauseln zu fordern. Ich schätze Herrn Glos persönlich als fähigen Politiker. Aber ich muss zitieren, was zum Beispiel „Bild am Sonntag“, eine der Regierung durchaus nicht feindlich gesonnene Zeitung, über ihn wörtlich schreibt:

Glos blamiert sich nicht nur als Fachminister, sondern lässt erste Zweifel an der Qualität und Kompetenz der neuen Bundesregierung aufkommen.
(Zuruf von der SPD: Wenn Sie die „Bild am Sonntag“ hier zitieren, ist das natürlich ein hohes Niveau!)

Der Minister versucht, uns den Heimaturlaub schmackhaft zu machen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wenn man aber nicht über den deutschen Tellerrand hinausblickt, dann hat man es schwer, Konzepte für eine Reform des Welthandels oder für die WTO-Verhandlungsposition zu erarbeiten.

   Auch das Ministerium ist noch immer nicht richtig geordnet. Die Diskussion über Luft- und Raumfahrtkoordination offenbart, dass hier vieles noch nicht klar ist. Ein ordnungspolitisches Gewissen ist jedenfalls in keiner Weise erkennbar.

(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine (DIE LINKE))

   Wenn man die Vorgaben der Bundeskanzlerin ernst genommen hätte, dann hätte der Jahreswirtschaftsbericht geradezu ein ökonomisches Freiheitsprogramm sein müssen. In ihm hätten die Fundamente für mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze gelegt werden müssen. Der Jahreswirtschaftsbericht ist das Schicksalsbuch der deutschen Wirtschaftspolitik. Doch statt das Schicksal der deutschen Wirtschaft zum Besseren zu wenden, wird in dem Bericht noch einmal der Inhalt des Koalitionsvertrages aufgelistet: reformieren, investieren, Zukunft gestalten. Das alles hört sich zwar ganz gut an.

(Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Das ist auch gut!)

Aber die Realität von Schwarz-Rot ist bisher: kaschieren, blockieren und Angst verwalten.

(Beifall bei der FDP)

   Wer mehr als die Überschriften des Jahreswirtschaftsberichts liest, merkt, dass viel zu wenig Substanz und Freiheit drin sind. Es ist richtig, was Herr Glos sagt: Wir brauchen ein starkes Wachstum, um den Haushalt zu sanieren und in Ordnung zu bringen, und müssen dabei über die Ausgabeseite gehen. Aber diese wichtige Erkenntnis wird nicht umgesetzt. Die erste Maßnahme der Regierung ist, die Ausgaben mit einem Minikonjunkturprogramm zu erhöhen. So werden die Ausgaben nicht gesenkt und so wird der Haushalt nicht in Ordnung gebracht. Das Dutzend zusätzlicher Staatssekretäre hätten Sie sich sparen können. Sie stören nur in der Verwaltung und kosten Geld. Das ist kein Beitrag zum Sparen.

(Beifall bei der FDP)

   Statt das Wachstum durch weniger Bürokratie und niedrigere Steuersätze zu entfesseln, wird die Mehrwertsteuer deutlich angehoben und der Spitzensteuersatz erhöht. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit wagen. Bei Ihnen geht es nach dem Motto „Gib mir meine Mehrwertsteuer, ich gebe dir deine Reichensteuer“.

(Beifall bei der FDP)

Aber mehr Steuern bedeuten weniger Freiheit, weil man in geringerem Umfang über die Verwendung dessen, was man sich selbst erarbeitet hat, entscheiden kann. Es wird also in stärkerem Maße vorgeschrieben, wofür das selbst Erarbeitete verwendet werden soll. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit. Das zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Politik. Sie reden nur von Freiheit. Tatsächlich sorgen Sie aber nicht für mehr Freiheit, sondern reduzieren die Freiheit. Das ist die falsche Politik.

(Beifall bei der FDP)

   Zum Ausgleich gibt es ein bisschen für Handwerker, ein bisschen für Investitionen, ein bisschen für Familien, ein bisschen für den Mittelstand. Übrigens hat der Haushaltsausschuss Ihr Gebäudesanierungsprogramm angehalten, weil die Finanzierung nicht nachvollziehbar ist. Auch da ist das Motto ganz einfach: Erst nimmt man dem Bauern das Schwein weg, dann bekommt er drei Kotelett und soll sich auch noch artig bedanken. Das ist keine Strategie für eine erfolgreiche Politik.

(Beifall bei der FDP)

   Familienförderung ist sicherlich ein wichtiges Thema. Nur, die große Koalition zelebriert als Medienbeschäftigungstherapie geradezu täglich ihre Differenzen in der Familienpolitik. Sie machen so eine Art Schönheitswettbewerb: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Sozialste im Land? Sie sollten sich lieber mit den Kernproblemen beschäftigen. Das Beste für Familien ist, wenn ihre Mitglieder einen Arbeitsplatz haben und Geld verdienen, statt irgendwelche Wohltaten von dieser Regierung zu erhalten.

(Beifall bei der FDP)

   Als wir gefordert haben, den Privathaushalt als Arbeitgeber anzuerkennen, wurden wir beschimpft: Typisch FDP, Dienstmädchenprivileg.  Jetzt, mit 20 Jahren Verspätung, sagen Sie, Sie hätten eine Wunderwaffe entdeckt, den Haushalt als Arbeitgeber. Das hätten Sie schon längst machen können. Es könnten schon Hunderttausende in Arbeit sein, wenn Sie unseren Vorschlägen früher gefolgt wären.

(Beifall bei der FDP)

   Das Minikonjunkturprogramm nennen Sie stolz Subvention für den Aufschwung. Das ist in sich schon Unsinn. Subventionen in einen Aufschwung hinein zu gewähren, hat sich noch nie als erfolgreich erwiesen. Sie unterschlagen völlig, dass Sie in diesem Jahr ein Zwangsdarlehen bei den Unternehmen, insbesondere beim Mittelstand, aufnehmen. Die Sozialversicherungsbeiträge müssen nämlich in diesem Jahr einen Monat früher entrichtet werden, also dreizehnmal statt zwölfmal. Damit nehmen Sie der deutschen Wirtschaft Liquidität in Höhe von 20 Milliarden Euro. Das können Sie doch nicht mit 5 Milliarden Euro, die Sie für Wärmedämmung und Elterngeld ausgeben wollen, ausgleichen. Der Beitrag ist viermal so hoch wie der, den Sie unsinnigerweise als Konjunkturprogramm verkaufen.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Dehm?

Rainer Brüderle (FDP):

Bitte sehr.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):

Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass nach Ihrer Definition die Deutsche Bank, Allianz, BMW und Daimler-Chrysler überwiegend sehr frei sein müssen, weil sie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten summa summarum so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer bezahlt haben, während die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unfrei sind, weil sie überwiegend mit ihren Lohnsteuern diesen Staat finanzieren?

Rainer Brüderle (FDP):

Sie haben das natürlich nicht richtig verstanden. Ich will generell die Freiräume für Entscheidungen vergrößern. Ihr klassenkämpferisches Denken - sie stürzen sich reflexartig auf Großkonzerne, die Sie früher in Ihrem alten System als Großkombinate gefördert haben - ist die falsche Denkweise.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie sollten sich irgendwann einmal von der Vergangenheit lösen. Es ist ja schön, dass Sie sich zu Ihrem altsozialistischen Erbe bekennen, aber Sie müssen doch nicht in jeder Sitzung deutlich machen, dass Sie von Wirtschaft nichts verstehen.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP - Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage, Herr Kollege?

Rainer Brüderle (FDP):

Bitte.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):

Auch wenn Sie meinen, dass jemand, der wie ich drei Jahrzehnte relativ erfolgreich Unternehmer war und einmal eine große Unternehmensorganisation geleitet hat, von Wirtschaft nichts versteht, dann stellt sich doch die Frage, was Sie zu meinem Kernargument sagen. Was hat es für eine Bedeutung, wenn wir steuerpolitisch die Deutsche Bank, Allianz, BMW und Daimler-Chrysler über eineinhalb Jahrzehnte so schonen, dass bei ihnen keine Großbetriebsprüfung durchgeführt wird und sie am Ende so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer bezahlen?

Rainer Brüderle (FDP):

Die Realität ist doch längst eine andere. Selbst der Bundeswirtschaftsminister räumt ein, dass die Belastung durch die Unternehmensteuer in Deutschland mit effektiv etwa 36 bis 37 Prozent deutlich höher als im europäischen Durchschnitt ist. Wir haben es inzwischen geschafft, dass durch die Steuerbelastung nicht nur große Vermögen aus dem Land getrieben werden, sondern auch kleine Vermögen. Selbst der Altbundeskanzler hat sich entschieden, seine Rubel lieber in der Schweiz entgegenzunehmen als in Deutschland, weil dort mehr übrig bleibt.

   Offensichtlich ist die Strategie ein „Investitionsvertreibungsprogramm“. Wenn die Investitionen nicht hier, sondern woanders getätigt werden, dann entstehen hier auch keine Arbeitsplätze. Sie müssen einmal rekapitulieren, dass Arbeitsplätze folgendermaßen entstehen: Irgendjemand nimmt Geld in die Hand, geht in ein Geschäft, kauft etwas und zur Herstellung dessen, was gekauft wird, werden andere Menschen beschäftigt. Mit roten Fahnen am 1. Mai können Sie die Beschäftigungsmisere in Deutschland nicht beseitigen. Das hat sich schon früher nicht bewährt und das bewährt sich auch heute nicht.

(Beifall bei der FDP - Ortwin Runde (SPD): Für Versammlungsfreiheit sind Sie aber noch?)

- Natürlich. Ich bin sogar für Meinungsfreiheit. Deshalb lege ich Wert darauf, dass auch Sie hier noch reden dürfen. Mit einer Mehrheit von 73 Prozent wollen Sie den politischen Wettbewerb kleinhalten. Treten Sie jetzt dafür ein, dass zumindest der wirtschaftliche Wettbewerb offen bleibt!

   Was Sie tun, ist jedenfalls das Gegenteil von „Freiheit wagen“. Zur Belebung der Wirtschaft fehlen in diesem Jahr 20 Milliarden Euro. Jedes Konjunkturprogramm, das das ausgleichen soll, ist ein echter Witz.

   Sie müssten das Steuersystem in Ordnung bringen. Sie müssten es einfacher machen, damit die Menschen es noch verstehen. Selbst die Steuerberater klagen, dass sie mit diesem System nicht mehr umgehen können. Verfassungsrichter sagen, ein derart kompliziertes Steuerrecht sei an der Grenze der Verfassungsgemäßheit.

   Die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, die Sozialsysteme in Ordnung zu bringen, all dies haben Sie im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Weder zur Pflege noch zum Gesundheitswesen noch zur Rente haben Sie Vereinbarungen getroffen. Das lag nicht daran, dass Sie keine Zeit gehabt hätten, das auszuhandeln; der Grund war vielmehr, dass Sie sich über die ganze Themenpalette von Kopfpauschale bis Bürgerversicherung nicht einig sind. Da kann es doch keine vernünftigen Kompromisse in der Gesundheitspolitik geben.

(Beifall bei der FDP)

   Wagen Sie doch endlich mehr Freiheit! Ich höre die Ankündigung, Bürokratie abzubauen, seit Jahren. Wolfgang Clement ging jede Woche mit einem neuen bunten Luftballon durch die Landschaft - Stichwort „Masterplan Bürokratieabbau“ - und am Schluss kam ganz wenig dabei heraus. Ich bin sehr gespannt, was diesmal herauskommt. Der beste Weg wäre, mehr Kompetenzen auf die Länder zu verlagern und den föderalen Wettbewerb zu fördern - „race to the bottom“ zwecks Abbau der Bürokratie -, damit es wirklich zu einem Befreiungsschlag bei uns kommt. Die Handschellen, die wir dem Mittelstand und der Wirtschaft in Deutschland durch zu viele Regelungen - sie verhindern, dass Arbeitsplätze entstehen - angelegt haben, müssen endlich abgelegt werden.

   Herr Glos, ich finde es ganz gut, dass Sie Änderungen am Gaststättengesetz vornehmen wollen. Aber die Abschaffung des „Frikadellenabiturs“ allein wird die Lösung der Probleme der deutschen Volkswirtschaft nicht bringen. Da muss schon ein bisschen mehr kommen.

   Bisher ist jedenfalls festzustellen, dass die große Koalition den Wettbewerb sträflich vernachlässigt. Ihre Ansätze sind interventionistisch, industriepolitisch. Die Lex Telekom, die veranlasst, die Telekom bei der Breitbandkabelkommunikation aus dem Wettbewerb herauszunehmen, ist kein Beitrag, mehr Freiheit zu wagen und den Wettbewerb zu stärken. Im Gegenteil: Es ist geradezu eine Privilegierung.

(Beifall bei der FDP)

   Ihnen geht es bei Freiheit offenbar um die Freiheit vom Wettbewerb statt um die Freiheit zum Wettbewerb. Wir brauchen mehr Freiheit zum Wettbewerb, damit der Wettbewerb die Wirtschaft besser steuern kann und damit es zu besseren Ergebnissen kommt.

   Wir haben immer noch ein Monopol bei der Briefbeförderung. Dieses Monopol hätten wir schon längst abschaffen können. Auch Ihre Leuchtturmprojekte sind sehr fragwürdig. Sie legen fest, was zukunftsweisend ist - das sind die so genannten Leuchtturmprojekte -, statt mehr Wettbewerb zuzulassen. Nur durch Wettbewerb und nicht durch Festlegungen von Beamten kommen wirtschaftliche Erfolge zustande.

(Beifall bei der FDP)

   Der europäische Steuerwettbewerb soll verhindert werden. Die Bundesregierung will, dass die Regionalfördermittel für solche Mitgliedstaaten gestrichen werden, deren Unternehmensteuerquote angeblich zu niedrig ist. Das ist ein tolles System: Statt selbst besser zu werden, werden die, die es besser machen, bestraft und sollen unsere schlechten Regeln übernehmen. So kommen wir wahrlich nicht voran. Ein weiterer Schritt in die falsche Richtung wäre, dass durch EU-Beschluss festgelegt wird, dass die Wirtschaft Chinas, Indiens und anderer Länder nicht mehr schneller als unsere wachsen darf. Das wäre nicht „Freiheit wagen“, sondern einfach Unsinn.

(Beifall bei der FDP)

   Ihr neuester Vorstoß, EU-Subventionen für Arbeitsplatzverlagerer zu verbieten, ist natürlich ein interessanter Ansatz. Für mich ist das ein Ablenkungsmanöver, weil gerade die Bundeskanzlerin die Mittel für die osteuropäischen Staaten aufgestockt hat. Diese Staaten haben nun noch mehr Mittel, um im Wettbewerb zu bestehen. Dennoch fordern Sie, diese Mittel zu reduzieren. Das hätte Frau Merkel wunderbar machen können, indem sie den Osteuropäern keine höheren Mittel für die regionale Wirtschaftsförderung faktisch zugestanden hätte.

Europäische Dienstleistungsrichtlinie: Hierbei wird das Herkunftslandprinzip fundamental infrage gestellt. Wir sind ein Hochlohnland, Hochsteuerland und Hochbürokratieland. Deshalb müssen wir dort ansetzen, dies reduzieren und mehr Freiheit wagen, um bessere Ergebnisse zu erzielen.

   Das Institut der deutschen Wirtschaft hat vorgerechnet, dass wir durch einen umfassenden Bürokratieabbau 30 Milliarden Euro mehr erwirtschaften, 600 000 neue Arbeitsplätze schaffen und 1,5 Prozent mehr Wachstum erreichen könnten. Machen Sie es doch! Niemand hat Sie gehindert. Ihr leidenschaftlicher Juniorpartner SPD hat dies in den sieben Jahren, in denen er mit den Grünen regiert hat, nicht getan, sondern, im Gegenteil, die Bürokratie noch weiter verstärkt. Was von der Klausurtagung in Genshagen nach außen gedrungen ist, ist auch kein Beitrag zu dem Ziel, mehr Freiheit zu wagen.

(Ute Berg (SPD): Larmoyanz!)

Wenn man die Verteilung über die Erwirtschaftung setzt, kommt man natürlich nicht voran.

   Das Kernproblem der deutschen Volkswirtschaft ist, dass unser Wachstumspfad, die Entwicklung des Produktionspotenzials, zu schwach ist. Bei diesem Wachstumspfad - der Sachverständigenrat hat maximal 1,2 Prozent attestiert - können wir keine echte Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erreichen. Die Bundesbank sagt, dass wir mindestens 2 Prozent reales Wachstum brauchen, um auf dem Arbeitsmarkt echte Veränderungseffekte zu erreichen; andere Institute sprechen von 1,8 Prozent. Aber all Ihre Prognosen - für 2007 ist Ihre persönliche Prognose 1 Prozent, wie Sie bei Ihrer Pressekonferenz gestern dargelegt haben - liegen deutlich unter dem, was wir bräuchten, damit wir die Wende auf dem Arbeitsmarkt schaffen.

   Ihre Strategie - wir machen in diesem Jahr nichts, weil sieben Wahlen anstehen; wir lassen weiter ein Defizit durchlaufen; wir machen ein bisschen Konjunkturprogramm, was eine veraltete Strategie aus den 60er- und 70er-Jahren ist und nicht wirken kann; das Abkassieren beginnt erst 2007, nach den sieben Wahlen; da wird der Aufschwung hoffentlich so stark sein, dass er über diese Hürde hinweg trägt - ist eine sehr gewagte spielerische Strategie. Besser wäre es, das gleich richtig zu machen, den Menschen die Wahrheit zu sagen, die Dinge in Ordnung zu bringen, die Reformen umzusetzen, die Belastung zu reduzieren und die elementaren Kenntnisse der Volkswirtschaft umzusetzen. Sie geben sich stattdessen einem Wunschdenken hin: Plötzlich ist alles schön. Die beiden Partner in der Koalition sind in den Flitterwochen und haben sich so lieb, dass gar keine Diskussion mehr aufkommen soll. Gesundbeten wird aber nicht helfen.

   Der Export läuft gut - Gott sei Dank -, aber die gleichen guten Produkte, die wir im Ausland gut verkaufen können, finden im Binnenmarkt keinen Absatz, weil kein Vertrauen da ist und weil keine Berechenbarkeit gegeben ist. Ein Steuererhöhungsprogramm, das den Menschen ab 2007 für den Rest der Legislaturperiode 120 Milliarden Euro abnimmt, ist wahrlich kein Konzept, das einen dauerhaften Aufschwung bewerkstelligen kann. Schauen Sie sich in Großbritannien, Schweden und den Niederlanden einmal an, weshalb dort die Arbeitslosigkeit weniger als halb so hoch wie in Deutschland ist! Das ist deshalb so, weil diese Staaten eine andere Strategie eingeleitet haben, weil sie den Staat ein Stück zurückgenommen haben, weil sie den Menschen ihr Geld schneller zurückgegeben haben, weil sie stärker dereguliert haben und weil sie ihre sozialen Sicherungssysteme in Ordnung gebracht haben. Das sind die Ansätze, die auch für Deutschland richtig wären.

   Was wir tun müssten, wissen wir. Das sagt die Bundesbank. Das steht im Gutachten des Sachverständigenrats. Das sagen uns der Internationale Währungsfonds und die OECD. Nur, es wird nicht umgesetzt.

   Was hier halbherzig betrieben wird, wird nicht die Lösung der Probleme bringen. Es ist kein Jahreswirtschaftsbericht, der einen überzeugenden Weg aus der deutschen Situation aufzeigt. Er enthält ein bisschen Wunschdenken, nennt ein bisschen hier und ein bisschen da. Die Trippelschritte sind nicht der richtige Ansatz, um die Probleme zu lösen. Hier gilt die alte Regel: Wenn man wirtschaftlich etwas erreichen will, muss man klotzen und darf nicht nur kleckern. Mit Kleckern und Trippelschrittchen kann man sich ein bisschen bewegen, wenn es kalt ist, aber man erreicht nicht die Geschwindigkeit, die notwendig ist, um zum Ziel zu kommen und die Probleme zu lösen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Kollege Stiegler ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.

Ludwig Stiegler (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Brüderle ist wirklich ein armer Tropf. Er ist eigentlich ein grundkonstruktiver Mensch. Mir tut herzlich Leid, dass er hier für die FDP, die als einzige der früheren Oppositionsfraktionen in dieser Rolle verblieben ist, weiter Trübsal blasen muss. Früher war das ein Orchester. Jetzt gibt es nur noch eine einsame Posaune, aber der Resonanzboden reicht nicht, um die Stimmung in der deutschen Wirtschaft wirklich zu beeinflussen. Herr Brüderle, reden Sie doch so, wie Sie wirklich sind, und lassen Sie uns gemeinsam etwas für den Aufschwung tun!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ihnen kann doch nicht entgangen sein, dass der Ifo-Konjunkturindex die 100 wieder überschritten hat. Das heißt, die Stimmung in der Wirtschaft zeigt etwas anderes, als Sie dargestellt haben. Sie hocken wie der Frosch bei schlechtem Wetter ganz unten, während diejenigen, die in der Wirtschaft die Verantwortung tragen, längst nach oben geklettert sind und sich freuen, dass die Sonne wieder scheint. Sie sind noch wie zugefroren, während die anderen wie die Veilchen aus der Erde kommen.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Bitte nicht noch poetischer!)

Der Ifo-Konjunkturindex - Sie wissen es doch selber, Herr Westerwelle - zeigt die Geschäftserwartungen und die Geschäftswirklichkeit und widerlegt damit den liberalen Pessimismus. Eigentlich müssten die Liberalen optimistisch sein, statt zu weinen und zu klagen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Schauen Sie sich an, was die Institute sagen. Wir sind zurzeit eher unteroptimistisch, was die amtlichen Daten betrifft.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das ist ein starkes Wort: „unteroptimistisch“!)

Auch das ist eine Methode, sich positiv überraschen zu lassen. Machen Sie mit! Heute Morgen stellt der Sparkassen- und Giroverband seine Mittelstandsdiagnose vor. Alle Experten sagen, dass selbst der Mittelstand, der ja besondere Probleme hat, wieder investiert und wieder mehr Mut hat. Ausgerechnet in Rheinland-Pfalz, wo Sie in Einigkeit mit uns Sozialdemokraten regieren, sind die Handwerker mit am optimistischsten.

(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das bringt das Ende von Rot-Grün!)

Also, Herr Brüderle, nehmen Sie von dem Optimismus Ihrer Handwerker in Rheinland-Pfalz etwas mit ins Plenum, dann geht es uns allen besser!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, der sieben Jahre dauernde Kampf zwischen den beiden Lagern hat letztlich darin geendet, dass die Leute depressiv wurden, weil niemand mehr wusste, wie es vorangeht. Die Taktik des Schlechtmachens des anderen, damit man selber gut dasteht, hat niemandem geholfen. Es ist einer der Vorteile der großen Koalition, dass keiner mehr den anderen anschwärzen kann, weil er sich gleichzeitig selbst anschwärzen würde. Wir sind zum gemeinsamen Erfolg verurteilt und wir wollen ihn gemeinsam haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Unsere Aufgabe in diesem Jahr ist es, den Aufschwung zu stärken, um die internen wie die externen Belastungen zu überstehen und voranzukommen. Natürlich wissen wir, dass die Mehrwertsteuererhöhung ein Eisbatzen im Gefäß ist; aber wir müssen die Konjunktur so anheizen, dass die Wirtschaft das verträgt. Die deutsche Volkswirtschaft hat 2005 mit den Öl- und Energiepreissteigerungen eine vergleichbare Belastung weggesteckt und ist trotzdem gewachsen. Damals kam diese Belastung von extern. Da haben die Scheichs und andere das Geld kassiert; aber wir haben das weggesteckt und Sie haben es auch nicht beklagt. In dem Moment jedoch, wo wir zur Haushaltskonsolidierung beitragen wollen, fangen Sie an zu jammern. Wenn wir aber den Haushalt nicht konsolidieren würden, würden Sie hier den Weltuntergang verkünden. Das ist ja fast wie zwischen Scylla und Charybdis, wenn man es Ihnen Recht machen will: Wenn man das eine vermeidet, fällt man dem anderen zum Opfer. Herr Brüderle, lassen Sie uns gemeinsam in der Mitte bleiben, dann kommen wir auch voran!

   Wir haben die Genshagener Impulse. Das Handwerk wirbt mit dem Programm der großen Koalition bei seiner Kundschaft. Wo hat es das je gegeben? Das Handwerk setzt Vertrauen in uns. Mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm starten wir, Herr Brüderle, am 1. Februar. Unsere klugen Haushälter haben einen Bypass gefunden, wodurch die Behinderung, die in den letzten Wochen aufgetreten ist, symbolisch bleibt, aber keine Wirkung entfaltet. Auch das gehört zur Regierungskunst.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So macht ihr Haushaltspolitik?)

Sie sollten uns darum eher beneiden, als herumzukritteln.

   Die Abschreibungsverbesserung verursacht gerade im Aufschwung einen zusätzlichen Schwung für die Investitionstätigkeit. Im Gegenzug zur Mehrwertsteuererhöhung haben wir gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen eine ganze Menge zusätzlicher Liquidität bereitgestellt.

Die von Ihnen angesprochene zusätzliche Beitragszahlung wird über Monate so verteilt, dass sie von den Unternehmen verkraftet werden kann.

   Die Wirkungen der Multiplikatoren unserer Maßnahmen - wir stehen zu diesen Maßnahmen - werden die Schwierigkeiten durchaus ausgleichen. Ich hoffe sogar, dass sie sie übertreffen werden. Sie werden im Laufe des Jahres Mühe haben, auf den Erfolgszug aufzuspringen. Aber wir werden Ihnen die Hand reichen, damit Sie nicht unter die Räder geraten.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wir gucken uns die Daten genau an! - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Es ist so viel Liebe in diesem Haus!!)

- Gucken Sie sich das ruhig an! Ich muss ja Herrn Brüderle sozusagen pflegen; denn er regiert mit uns in Rheinland-Pfalz. Für mich ist es also eine besonders schwierige Situation.

(Heiterkeit bei der SPD)

   Ich möchte diese Freundschaft erhalten.

(Zuruf von der SPD)

   - Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach ihm reden und daher diese depressiven Einschübe überwinden und zum Optimismuspfad zurückkehren muss.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das werden wir miteinander schon hinbekommen.

   Im Mittelpunkt stehen die kleinen und mittleren Unternehmen. Die „Diagnose Mittelstand“ des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands zeigt: Es ist besser geworden; wir sind aber hinsichtlich der Eigenkapitalausstattung und anderer Dinge noch längst nicht dort, wohin wir wollen. Wir müssen uns gemeinsam um die Finanzierungsfragen kümmern und die Eigenkapitallücke mit den mezzaninen Instrumenten überwinden helfen. Wir werden mit der KfW reden, dass die Mittelstandsförderprogramme an das neue Ratingsystem, an Basel II, entsprechend angepasst werden.

   Wir werden uns gemeinsam auch um die Möglichkeiten der Beteiligung an kleinen und mittleren Unternehmen kümmern. Das gilt für die Arbeitnehmerbeteiligung genauso wie für die Beteiligung von Menschen an der Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmen in ihrer Region. Es ist doch verrückt, dass wir in Forschung und Entwicklung viel Geld investieren, aber wenn es um Seed Capital und um Wachstumskapital geht, dann brauchen wir die Private Equity, also die amerikanischen Rentner. Dieses Land kann das für seine Volkswirtschaft selbst organisieren. Das müssen wir miteinander anpacken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden daher gemeinsam das Unternehmensbeteiligungsgesetz verbessern.

   Die Risiken 2006 sind Rohstoffpreise und Energiekosten. Das ist eine schwere Hypothek. Die Nachfrage nach Rohstoffen nimmt zu. Wir haben in den letzten Jahren erlebt, was hohe Rohstoffpreise bedeuten. In Bezug auf die Energiekosten und Sicherheit bei der Energieversorgung gibt es Fragen. Unsere Antwort ist Effizienzsteigerung durch Technik und, Herr Brüderle, auch durch Wettbewerb. Wir werden bei der Energieversorgung die Anreizregulierung mithilfe des Ministeriums und der Regulierungsbehörde durchsetzen. Ihr Beitrag ist dabei durchaus erwünscht. Aber daneben geht es, wie gesagt, auch um die Technik.

   Das Unwort des Jahres heißt Entlassungsproduktivität. Wir setzen den Managern entgegen: Der Fortschritt wird nicht durch Entlassungsproduktivität hervorgebracht, sondern durch eine kostenentlastende Effizienz und durch kostenentlastende Rohstoffproduktivität. Für ihre hohen Einkommen sollen die Manager ihr Gehirnschmalz auf die Weiterentwicklung in diesen Bereichen einsetzen. Das ist unsere gemeinsame Forderung.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU))

   Ich stimme Sigmar Gabriel und Michael Müller ausdrücklich zu, dass die Energie- und Rohstoffintelligenz die Zukunftsfragen sind, vor denen wir stehen. Deshalb müssen wir die neuen Potenziale der erneuerbaren Energien erkennen und beherzt nutzen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Preisentwicklung tun sich völlig neue Horizonte auf. Wir müssen die Übergangsenergien bis hin zu den Null-Emission-Kraftwerken voranbringen. Die große Koalition wird deshalb schwerpunktmäßig die Forschung und Entwicklung stärken sowie Bildung, Ausbildung und Weiterbildung vorantreiben. Herr Brüderle, das ist der Pfad, auf dem Sie uns begleiten sollten. Sagen Sie Ja!

(Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

- Er verhält sich sehr sperrig.

   2006 bietet also gute Aussichten auf mehr Wachstum und Beschäftigung, beispielsweise auch im Bereich des Tourismus. Wir wollen die Fußballweltmeisterschaft nutzen und dabei wollen wir uns nicht von einer schlechten Seite zeigen. Wir wollen weder Militär vor den Stadien sehen

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

noch wollen wir, dass die Gastwirte ihre Monopolstellung nutzen und zu hohe Preise verlangen.

Wir müssen uns nachhaltig auf den Incoming-Tourismus ausrichten, damit sich Deutschland dauerhaft als Zielland für Reisen etabliert. Dafür müssen wir die Weltmeisterschaft nutzen. Das ist ein ganz wichtiger Faktor.

(Beifall des Abg. Ernst Hinsken (CDU/CSU))

Der Tourismus schafft Arbeitsplätze in der Fläche, in den strukturschwachen Regionen.

   Wir wollen auch das nutzen, was der Arbeitsminister jetzt angestoßen hat: ein Kurzarbeitergeld in schwierigen Tourismusstandorten, die nur eine kurze Saison und in diesem Bereich noch Schwierigkeiten haben. Auch diese Beschäftigungsprobleme wollen wir angehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wir wollen gemeinsam den Standort fördern. Es ist Musik in meinen Ohren, wenn Michael Glos, der noch vor einem Jahr in seinen Reden den Weltuntergang gepredigt hat,

(Heiterkeit des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

jetzt ganz anders spricht. Insofern setzt Herr Brüderle das fort, was früher

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Jetzt vorsichtig! - Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

die beiden Wunschpartner für eine Alternativkoalition, die nicht gewählt worden ist, gemeinsam verkündet haben. Dies ist jetzt nur noch eine zarte Stimme und klingt nicht mehr nach einem Kontrabass.

   Wir haben jetzt den Standortvorteil „große Koalition“. Wir können das gemeinsame Projekt „Fuchs und Rappe vor dem Staatswagen“ durchführen. Sie werden uns nicht dazu bringen, dass wir uns gegenseitig verbeißen. Wir werden vielmehr klar vorausgehen.

   Entscheidend ist aber, dass wir die bei den Menschen bestehende Angst vor Veränderungen überwinden, dass wir Zukunftsangst in Zukunftsvertrauen umwandeln und dass wir den Menschen den Glauben an die Handlungsfähigkeit zurückgeben. Dazu gehört ein verlässlicher Sozialstaat und nicht Ihre Vorstellung von Freiheit, Herr Brüderle - die der Vogelfreiheit nahe kommt -, sondern Freiheit für alle durch soziale Sicherheit und das Vertrauen, dass man in schwierigen Umständen Geborgenheit findet.

(Beifall bei der SPD)

   Darum werden wir zusammen mit unseren schwarzen Brüdern und Schwestern

(Lachen bei der FDP - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das ist wie in einer Klostergemeinschaft!)

die europäische Dienstleistungsrichtlinie so gestalten - wir werden uns gemeinsam anstrengen -, dass der Sozialstaat nicht gefährdet wird.

    Zum Zukunftsvertrauen gehört, dass wir die Menschen an Bildung teilhaben lassen, dass wir Bildung als Zukunftsvorbereitung verstehen, dass auch diejenigen, die aus prekären Verhältnissen kommen, die Chance haben, in den Zug einzusteigen, und dass wir keine Talente zurücklassen. Das ist ein Stück Geborgenheit. Zukunftsvertrauen besteht zum Beispiel für den Mittelstand darin, Zugang zu Finanzierungselementen zu haben, die bisher nicht zur Verfügung standen.

   Herr Brüderle, die Liberalen vergessen gelegentlich: Auch der Sozialstaat ist eine Produktivkraft. Sie sehen etwa an dem verrückten Verhalten von Electrolux in Nürnberg, welche Krisen daraus erwachsen. Sie haben bei Conti in Hannover gesehen, in welche Krisen man Unternehmen führt, weil die Manager mit Entlassungsproduktivität arbeiten. Sie sollten neue Produkte, neue Verfahren, neue Effizienzen suchen und die Menschen mitnehmen. Das wäre die richtige Antwort.

(Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sie müssen mit denen Weiterbildung machen!)

   Zu einem guten Sozialstaat gehört auch, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitgenommen werden. Wir wissen, dass die Tätigkeit der Unternehmer diesen mehr Vermögen und mehr Einkommen gebracht hat als die Tätigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitnehmern. Deshalb muss die differenzierte Tarifrunde dazu beitragen, dass die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer einen fairen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg bekommen.

   Wir haben also einerseits die Aufgabe, Marktdynamik zu entfalten, und andererseits die Aufgabe, das Gemeinwohl zu sichern. Markt und Gemeinwohl müssen im Gleichgewicht bleiben. Das ist das, was Ludwig Erhard mit Wohlstand für alle gemeint hat.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Warum waren Sie dann früher so gegen ihn?)

Das ist unser Auftrag.

   Steigen Sie also ein! Machen Sie mit! Mit Trübsalblasen kommt man zu keinem Fortschritt. Lasst uns dieses Jahr mit Zukunftsvertrauen angehen! Wir fangen zu Beginn des Jahres mit Anstößen an und bezahlen, wie in der Vergangenheit oft geschehen, nicht mehr am Ende des Jahres den Verlust, der durch mangelnde Aktivität zustande kommt. Wir fangen gleich richtig an.

   Glückauf!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das war das Prinzip Hoffnung!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin heute in der außergewöhnlichen Situation, meinen Beitrag zum Jahreswirtschaftsbericht mit einem ausdrücklichen Lob der Bundesregierung beginnen zu können. Dieses Lob spreche ich deshalb aus, weil selten eine Regierung in so eindrucksvoller Klarheit die Früchte ihrer Arbeit im Jahreswirtschaftsbericht dargestellt und prognostiziert hat wie diese Regierung. Ich bin sicher, dass auch die Abgeordneten der Koalition interessiert sind, zu hören, was die Bundesregierung von diesem Jahr erwartet. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man nicht immer dazu kommt, alle Unterlagen bis zum Ende zu lesen, und trage daher jetzt die wichtigsten Sätze vor.

   Die Regierung sagt auf Seite 96:

Die Summe der Nettolöhne und -gehälter stagniert in diesem Jahr erneut.

   Dort heißt es weiter:

Die Selbständigen- und Vermögenseinkommen dürften ... in diesem Jahr kräftig zunehmen ...

Die Regierung geht von 7,25 Prozent aus. Ich möchte das noch einmal verdeutlichen: Die Arbeitnehmer erhalten nichts und die Vermögenden und diejenigen, die über Gewinneinkommen verfügen, erhalten wie im vergangenen Jahr einen Zuwachs in Höhe von 7,25 Prozent. Das stellt die Regierung als Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitik richtigerweise fest.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das hat Herr Stiegler nicht gelesen!)

   Im Bericht heißt es weiter,

dass sich die monetären Sozialleistungen des Staates insgesamt leicht vermindern

werden. Das heißt, der Staat wird weniger soziale Leistungen erbringen.

   Am Schluss dieser eindrucksvollen Zukunftsbilanz heißt es:

Ferner werden angesichts einer stagnierenden Lohnentwicklung im vergangenen Jahr die Renten erneut nicht steigen.

Das alles ist richtig, aber ich habe selten ein Resümee gelesen, in dem in solch beeindruckender Klarheit von einer Regierung festgestellt wird, dass weiter von unten nach oben umverteilt wird und dass diese Regierung dazu steht. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Wir halten das für eine katastrophale Bilanz.

(Beifall bei der LINKEN)

   Ich habe hier bereits darauf hingewiesen - und muss mich wundern, dass es nicht aufgegriffen wurde -, dass sich eine Schlüsselgröße der Volkswirtschaft, nämlich die Löhne, in Deutschland beängstigend entwickelt. Wir haben im letzten Jahr zum ersten Mal nach dem Krieg sinkende Bruttolöhne verzeichnet. Ich wiederhole das, weil auch in der Berichterstattung immer wieder von sinkenden Netto- oder Reallöhnen die Rede war. Wir hatten erstmals sinkende Bruttolöhne! Es war nicht nur so, dass die Gewinn- und Vermögenseinkommen deutlich gestiegen sind, sondern gleichzeitig hat man den Arbeitnehmern, wie die Wirtschaftsabteilungen der Gewerkschaften ausgerechnet haben, brutto 6 Milliarden Euro genommen.

   Ich kenne keinen vergleichbaren Industriestaat, der eine solche Entwicklung verzeichnet. Trotzdem hat ein Redner in diesem Hause gesagt: Die Sonne scheint. Ich will mich mit ihm gar nicht persönlich auseinander setzen, darf aber für die große Mehrheit der Bevölkerung feststellen, dass die Sonne nicht scheinen wird, weil die Renten trotz steigender Preise nicht steigen werden und weil die Bruttolöhne trotz steigender Preise sinken oder stagnieren werden. Das heißt, die große Mehrheit des Volkes wird in diesem Jahr weiterhin Verluste hinnehmen müssen. Das ist eine beängstigende Bilanz, zu der man doch Stellung nehmen müsste!

(Beifall bei der LINKEN)

   In dieser Situation ist das Hauptanliegen der Regierungsparteien und auch konkurrierender Parteien, die Lohnzusatzkosten zu senken. Die hohen Lohnzusatzkosten seien das wichtigste Problem unserer Volkswirtschaft. Aus Unternehmersicht sind Lohnzusatzkosten Löhne. Angesichts der Tatsache, dass die Bruttolöhne sinken, ist es ganz merkwürdig, wenn man davon spricht, dass das Hauptanliegen unserer Volkswirtschaft darin bestehe, die Lohnzusatzkosten zu senken; das sei vor allem wichtig, weil wir sonst international nicht mehr wettbewerbsfähig seien.

   Welch ein gigantischer Schwachsinn - ich muss das hier so deutlich sagen - wird täglich abgesondert, wenn davon gesprochen wird, dass wir international nicht mehr wettbewerbsfähig seien!

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sind die wettbewerbsfähigste Industrienation der Welt! Kein anderes Land exportiert so viele Waren wie die Bundesrepublik Deutschland. Weder die Chinesen noch die Inder, noch die Japaner oder die US-Amerikaner exportieren so viel wie wir; dennoch heißt es immer wieder, wir seien international nicht wettbewerbsfähig. Wenn die Realität nach wie vor so geleugnet wird, wie es zurzeit geschieht, wird es niemals möglich sein, in Deutschland zu Wachstum und Beschäftigung zu kommen.

(Beifall bei der LINKEN - Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Das ist Voodoo-Ökonomie!)

   Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, wir stünden bei der Steuerquote doch nicht schlecht da.

Es wurde insoweit eine gewisse Korrektur all der Beiträge vorgenommen, die in den letzten Monaten geleistet worden sind, als immer wieder darauf hingewiesen worden ist, dass die Steuerquote bei uns vielleicht nicht ganz so hoch, die Abgabenquote aber beträchtlich sei.

   Insofern ist es verdienstvoll, dass für all diejenigen, die sich falsch geäußert haben - ich will niemanden persönlich ansprechen -, im Jahreswirtschaftsbericht wieder einmal die Steuer- und Abgabenquote nach der OECD-Statistik für Deutschland im internationalen Vergleich dargestellt worden ist. Jeder, der willens ist, nachzulesen, kann auf Seite 23 nachlesen, dass wir bei der Steuerquote Großbritannien um circa 9 Punkte nach unten übertreffen. Bei der Abgabenquote liegt Deutschland bei 34,6 Prozent und Großbritannien bei 40,6 Prozent. Das sind - bezogen auf unser Bruttosozialprodukt - weit über 160 Milliarden Euro, die den öffentlichen Haushalten in Großbritannien zusätzlich zur Verfügung stehen, und Großbritannien hat keine Einheit zu finanzieren.

   Ist denn immer noch nicht klar, dass es mit einer solchen Steuer- und Abgabenpolitik unmöglich ist, einen modernen Industriestaat zu verwalten?

(Beifall bei der LINKEN)

Kein Industriestaat der Welt leistet sich eine solch katastrophale Fehlentwicklung.

   Ich wiederhole für das geschätzte Plenum die Durchschnittszahlen: Während der europäische Durchschnitt bei der Steuerquote bei 28,9 Prozent liegt, liegt er bei uns bei 20,4 Prozent. Während der europäische Durchschnitt bei der Abgabenquote bei 40,5 Prozent liegt, liegt er bei uns bei 34,6 Prozent. In einer solchen Situation muss man natürlich dazu kommen, dass man die sozialen Leistungen kürzt. In einer solchen Situation muss man natürlich dazu kommen, dass man für die Rentner nichts mehr übrig hat. Aber ein solcher Weg kann immer nur zu demselben Ergebnis führen: Im Export sind wir stark, weil eine solche Politik den Export nicht gefährdet, sondern eher noch leicht unterstützt. Aber auf dem Binnenmarkt wird es sein wie immer in den vergangenen Jahren: kein Wachstum und damit auch keine Unterstützung für Beschäftigung, was wir in diesem Lande jedoch dringend bräuchten.

(Beifall bei der LINKEN)

   Weder mit einer Politik der Umverteilung von unten nach oben, die Sie in eindrucksvoller Weise hier dargelegt haben,

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na, ja!)

noch mit einer Steuerpolitik, die angesichts der beabsichtigten Mehrwertsteuererhöhung weiter von unten nach oben umverteilt, ist irgendeine vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen.

   Um das auch Herrn Kuhn von den Grünen noch einmal zu sagen: Die Alternative zu einer drastischen Mehrwertsteuererhöhung ist nun einmal eine Vermögensteuer, für die ich hier nachdrücklich werben möchte.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will noch einmal die Zahlen dazu nennen: Das Geldvermögen der Deutschen beläuft sich auf über 4 000 Milliarden Euro. Von diesen 4 000 Milliarden Euro - einfach zum Nachrechnen - haben die obersten Zehntausend 2 000 Milliarden Euro. Hätte irgendjemand den Mut, nur das Geldvermögen der obersten Zehntausend mit 5 Prozent zu besteuern, käme man in die Nähe der durchschnittlichen europäischen Abgabenquote und hätte in den öffentlichen Haushalten 100 Milliarden Euro mehr zur Verfügung.

(Beifall bei der LINKEN)

Stattdessen kürzen Sie Renten, soziale Leistungen und drücken auf Löhne.

   Ich möchte noch etwas zur Lohnentwicklung in Deutschland sagen. Sie kommt nicht von ungefähr und es ist auch nicht so, dass man sich zurücklehnen und sagen kann, dafür seien die Tarifparteien in der Verantwortung. Nein, die große Koalition oder die Allparteienkoalition, die in den letzten Jahren hier gewirkt hat, hat erheblichen Anteil an diesem Ausnahmezustand, dass die Bruttolöhne in Deutschland fallen. Wer Freiheit versteht, Herr Kollege Brüderle - das muss ich hier einmal sagen -, als Freiheit von Tarifverträgen, wer Freiheit versteht als Freiheit von Kündigungsschutz, wer Freiheit versteht als Freiheit von sozialer Sicherung - ich denke dabei an das Streichen der Arbeitslosenhilfe und das Kürzen des Arbeitslosengeldes -, der setzt die Arbeitnehmer einer Situation aus, in der sie leichter erpressbar sind, in der sie es nicht wagen, kräftig für ihre Interessen einzutreten, aus Angst, dann Hartz-IV-Bezieher zu werden. Deshalb sinken die Löhne und deshalb ist diese perverse Arbeitsmarktpolitik endlich zu revidieren.

(Beifall bei der LINKEN)

   Vor dem, was Sie hier selbst bilanziert haben, kann doch niemand die Augen verschließen. Sie bilanzieren eine Umverteilung von unten nach oben. Schrecklich! Früher hätte es von bestimmten Gruppen bei einer solchen Bilanz Aufstände gegeben. Sie sagen hier dann noch fröhlich: Die Sonne scheint.

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

- Es ist so. Leider ist es aber so, dass die Sonne hier im Reichstag nur auf eine gewisse, ausgewählte Körperschaft scheint. Das ist bekanntlich nicht eine Versammlung von Hartz-IV-Empfängern, Rentnern oder Arbeitnehmern, die im Niedriglohnbereich tätig sind. Das ist das Problem.

(Beifall bei der LINKEN - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber der Redner auch nicht!)

   Ich möchte noch einen Satz - meine Redezeit ist leider gleich zu Ende -

(Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)

zu Ihrer Bemerkung, Herr Kollege Brüderle, auf die Zwischenfrage des Kollegen Diether Dehm zur Deutschen Bank sagen.

Sie hätten schon etwas dazu sagen können, warum die Einkommen der Schwächsten systematisch fallen und die großen Betriebe keine Steuern mehr zahlen. Dazu kann man doch etwas sagen! Sie meinten dann, auf die Kombinate in der ehemaligen DDR verweisen zu müssen.

   Erlauben Sie mir dazu noch diese Bemerkung: Ich habe in der Presse gelesen, dass der Vorsitzende des Verwaltungsrates der BaFin - des Gremiums, das die Geschäftspraktiken der Banken kontrollieren soll -, Herr Staatssekretär Caio Koch-Weser, jetzt zur Deutschen Bank wechselt. Vielleicht haben Sie das gemeint.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich möchte Ihnen dann aber sagen: Wenn das Kombinatswirtschaft ist, dann sitzt das Politbüro nicht mehr in der Regierung, sondern in der Deutschen Bank. Das scheint ein Problem unserer Wirtschaft zu sein.

(Beifall bei der LINKEN)

   Ich fasse zusammen: Bei dieser Art von Wirtschafts- und Finanzpolitik werden Sie im Export kein Unheil anrichten. Insofern können Sie da einen gewissen Beitrag erwarten. Aber auf dem Binnenmarkt wird es wie in all den letzten Jahren sein: Die Umverteilung wird das Wachstum bremsen und die Arbeitslosigkeit wird tendenziell auf hohem Niveau bleiben. Das heißt, Sie selbst kündigen schon den Fehlschlag an, für den Sie dann alle verantwortlich sein werden.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN - Ludwig Stiegler (SPD): Dann werden wir im nächsten Jahr vergleichen!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So war es in der Vergangenheit immer: Es gab zum Teil ermutigende Signale in der Wirtschaft und es ging in bestimmten Bereichen aufwärts. Die Regierung hat das besonders betont und die Opposition - damals übrigens oft unter tatkräftiger Führung von Michel Glos - hat jedes zarte Pflänzchen, das gezeigt hat, dass es aufwärts geht, gleich wieder zertreten. Auch heute Morgen haben wir das erlebt. Ich als Grüner bin ganz froh, dass sich dieses Bündnis von FDP und Linkspartei noch nicht in der Wirtschaftspolitik abbildet. Aber was kam von links wie von rechts? Nur Mäkelei.

   Ich finde, wir sollten eines erst einmal feststellen: Dass es in Deutschland ganz offenkundig wirtschaftlich aufwärts geht, ist eine gute Nachricht, und zwar unabhängig davon, wer im Einzelnen die Verantwortung dafür trägt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich halte überhaupt nichts davon, dass wir in der alten Tradition fortfahren und dieses Land schlechterreden, als es ist. Wir sind ein Land, das jedes Jahr über 80 Milliarden Euro dafür aufbringt, die neuen Bundesländer an die westdeutschen Lebensverhältnisse heranzuführen. Keine andere Volkswirtschaft der Welt schafft das. Besucher, die nach Berlin kommen, jubeln darüber, wie die Situation hier seit der deutschen Einheit ist. Aber was passiert in Deutschland? Über diesen Zustand wird nur gemäkelt. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie man dieses Land kaputtreden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir sind inzwischen Exportweltmeister und - auch wenn die CDU/CSU das erst sehr spät gemerkt hat - wir waren es auch schon in der Zeit von Rot-Grün. Wir haben es geschafft, eine Dynamik in Gang zu setzen. Wir haben es geschafft, Weltmarktanteile im Export in den letzten Jahren zu gewinnen. Wer wäre ich, wenn ich mich nicht darüber freuen würde, dass diese Entwicklung weiter vorangeht? Ich finde, das ist kein Grund zum Mäkeln, sondern zeigt, dass dieses Land Stärken hat, auf die wir alle gemeinsam stolz sein sollten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Jetzt ist innerhalb der Bundesregierung ein interessanter Streit in Gang gekommen, nämlich der Streit über die Frage: Ist das Wachstum mit 1,4 Prozent vielleicht zu knapp berechnet? Wird das Wachstum im Jahr 2006 nicht vielleicht größer sein? Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Streit in den letzten Jahren rot-grüner Zusammenarbeit geführt hätten. Wahrscheinlich würde die rot-grüne Regierung dann auch noch bestehen. Aber es ist ein interessanter Streit. Denn ich glaube, dass es in diesem Streit darum geht, ob wir es auch ohne Mehrwertsteuererhöhung schaffen können, dieses Land auf den Erfolgspfad zurückzuführen, oder nicht. Je größer das Wachstum ist, je größer die Staatseinnahmen sind, desto richtiger ist es, auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu verzichten. Ich glaube, auch das ist der Grund, warum die Regierung die Wachstumsrate jetzt niedrig einschätzt. Sie möchte von der geplanten Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent nicht abweichen. Das ist ein schwerwiegender Fehler.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Bundeswirtschaftsminister hat sich heute geäußert. Ich bin davon überzeugt, dass Michel Glos in der Zeit in der Opposition lieber im Bundestag gesprochen hat. Aber auch diese Rede wird den Aufschwung in Deutschland nicht verhindern.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Gestern in der Pressekonferenz hat er deutlichere Worte gefunden; übrigens auch der Bundesfinanzminister im Finanzausschuss hinter verschlossener Tür. Darüber steht in der heutigen Ausgabe der „Financial Times Deutschland“ die schöne Überschrift: „Glos erwartet 2007 Wachstumsdämpfer“. Der Umfang dieses Wachstumsdämpfers - so die Schätzung des Wirtschaftsexperten Michel Glos - beträgt 1 Prozentpunkt. Ich finde, das ist eine richtige Einschätzung, Herr Bundeswirtschaftsminister. Die Mehrwertsteuererhöhung wird uns 1 Prozentpunkt unseres Wirtschaftswachstums kosten. Wir werden den Anschluss an die Wachstumsraten der anderen Länder in Europa aber nicht schaffen, wenn wir einfach sehenden Auges in Kauf nehmen, dass das Wachstum unserer Wirtschaft um 1 Prozentpunkt geringer ausfällt.

Die Steuermindereinnahmen, die dadurch entstehen, und die Arbeitsplätze, die wir dadurch gefährden, kosten den Staat mehr Geld, als er durch die Mehrwertsteuererhöhung einnimmt. Das war, glaube ich, die Sorge, die Michel Glos bewogen hat, auf der gestrigen Bundespressekonferenz Tacheles zu reden. Ich finde, diesen Aspekt hätte er auch hier im Deutschen Bundestag durchaus ansprechen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat beschlossen, in den nächsten vier Jahren 25 Milliarden Euro in ein Investitionsprogramm zu stecken. Nun kann man über die Wirkung von Investitionsprogrammen streiten. Wenn wir aber angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 2,2 Billionen Euro nur ungefähr 6 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand nehmen, dann muss man schon sehr optimistisch und sehr hoffnungsfroh sein, wenn man glaubt, dass das ausreicht, um unsere Wirtschaft wirklich voranzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dennoch halten wir Grüne viele Elemente dieses Investitionsprogramms für durchaus vernünftig. Ein Beispiel ist das Gebäudesanierungsprogramm, das Teil dieses Investitionsprogramms ist.

   Warum ist das Gebäudesanierungsprogramm so wichtig? Die Mietnebenkosten sind in Deutschland um ein Drittel gestiegen. Die Gas- und Energiepreise belasten die Haushalte, vor allem die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Das Gebäudesanierungsprogramm ist nicht nur für die Umwelt gut, sondern es ist auch angewandte Sozialpolitik. Diese galoppierenden Kosten müssen wir nämlich in den Griff bekommen. Zudem sichert dieses Programm Arbeitsplätze im Handwerk.

   Aber das, was in den letzten Wochen passiert ist, sollte uns doch zu denken geben. Ludwig Stiegler sagte, im Haushaltsausschuss sei ein Bypass gelegt worden. Das ist nicht die Dynamik, die wir uns wünschen. Im Klartext: Das, was dort geschehen ist, ist Gemurkse; es geht hin und her, vor und zurück. Die Leute, die sich heute entscheiden wollen, ein Haus zu bauen oder zu sanieren, wissen nicht genau, woran sie sind.

(Ludwig Stiegler (SPD): Ab 1. Februar können sie das tun!)

Das klare Signal, dass dieses Programm sofort in Gang kommt und wir in Schwung kommen, wäre besser.

(Ludwig Stiegler (SPD): Am 1. Februar geht es los!)

   Diese Regierung hat folgendes Problem: Ihr Investitionsprogramm krankt daran, dass im Deutschen Bundestag erst nach den Landtagswahlen über den Bundeshaushalt diskutiert werden soll. Dadurch sind viele Maßnahmen auf die lange Bank geschoben. Aber die Menschen, die in diesem Bereich investieren wollen, brauchen jetzt Verlässlichkeit und Planungssicherheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn man Zeitungen und Zeitschriften aus dem Bereich Bauen durchblättert, dann ist das wie die bunte Illustration eines Programms der Grünen: Es geht um Themen wie Holzpelletheizungen, Wärmedämmung, Solarzellen auf den Dächern und Solarthermie. Alle möglichen Bestandteile eines zum einen Wachstum schaffenden und zum anderen die Arbeitsplätze im Handwerk sichernden Programms sind darin enthalten. Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung dieses Investitionsprogramm um die Gebäudesanierung ergänzt hat. Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie jetzt Tempo machen, damit die Arbeitsplätze, um die es hier geht, auch tatsächlich entstehen. Es darf nicht bei bunten Bildern in sehr fortschrittlichen Zeitungen zum Bauen und Wohnen bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Beim Thema Planungssicherheit komme ich auf ein zweites Beispiel zu sprechen: die Biokraftstoffe. Die rot-grüne Bundesregierung hat das klare Signal gesetzt, dass die Produktion von Biokraftstoffen in Deutschland gefördert wird. In den sieben Jahren der rot-grünen Regierungszeit ist Deutschland, was die Produktion von Biokraftstoffen betrifft, zum Spitzenreiter geworden.

   Was ist durch Ihre Koalitionsvereinbarung passiert?

(Ludwig Stiegler (SPD): Das bleiben wir auch!)

- Ludwig Stiegler sagt: „Das bleiben wir auch!“ -

(Ludwig Stiegler (SPD): Ja!)

Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt - dort sitzt zum Beispiel der Kollege Schindler, der wahrscheinlich ein Lied davon singen kann -, weiß: Der Markt ist verunsichert. Diejenigen, die investieren wollen, fragen sich: Wird es noch eine Steuerbefreiung geben oder nicht? Wird es zu einem Einspeisezwang kommen? Was wird geschehen? All das wissen sie nicht.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das steht alles im Jahreswirtschaftsbericht!)

Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bitte Sie: Nehmen Sie sich dieses Themas an, sorgen Sie für Klarheit und lassen Sie uns in Alternativen zum Öl investieren! Denn die Ölpreisentwicklung ist ausgesprochen besorgniserregend.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ludwig Stiegler hat gesagt, die Mehrwertsteuererhöhung würde schon irgendwie verkraftet werden. Ich sage noch einmal: In den nächsten vier Jahren wollen Sie den Leuten 75 Milliarden Euro aus der Tasche ziehen, 25 Milliarden Euro wollen Sie in Form eines Investitionsprogramms zurückgeben. Das ist der Unterschied zwischen dem Kotelett und dem Schwein, den der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP vorhin angesprochen hat.

   Aber das Grundproblem, Herr Kollege Stiegler, ist , dass die Mehrwertsteuererhöhung und der Anstieg der Energiepreise nicht alternativ, sondern kumulativ zu betrachten sind; denn die Energiepreise steigen in diesem Jahr genauso wie im letzten Jahr.

(Ludwig Stiegler (SPD): Die Effizienz kann aber auch steigen!)

Das bedeutet: Die Mehrwertsteuererhöhung kommt zu den galoppierenden Energiepreisen noch hinzu. Das wird unsere Binnenkonjunktur endgültig zum Erlahmen bringen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Der Kollege Lafontaine hat ein klares Bild, wie man das mit der Binnenkonjunktur hinkriegen kann; es wird ja hier gebetsmühlenartig vorgetragen.

(Abg. Oskar Lafontaine (DIE LINKE) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

   Es gibt ein Problem mit der berühmten Wettbewerbsfähigkeit über Lohnstückkosten, über das man, wie ich finde, reden muss: Was die Lohnstückkosten angeht, sind wir in Deutschland wahnsinnig erfolgreich: In den letzten beiden Jahren sind die Lohnstückkosten bei allen unseren Wettbewerbern gestiegen - bei uns sind sie um 8 Prozent gesunken. Das ist eine Erklärung dafür, warum wir Exportweltmeister sind.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das hat doch ganz andere Gründe!)

Es gibt nur ein Problem: Die Senkung der Lohnstückkosten beruhte zum einen auf Sozialreformen, das heißt, wir haben Einsparungen machen müssen, die zum Teil schmerzhaft waren. Ein zweiter Grund, warum wir so niedrige Lohnstückkosten haben, ist die gestiegene Arbeitslosigkeit. Diese gestiegene Arbeitslosigkeit, die Massenentlassungen bei vielen Unternehmen haben uns zwar wettbewerbsfähig gemacht, aber vielen Menschen die Existenz geraubt. Deshalb finde ich es unredlich, zu argumentieren, man müsse im Bereich der Lohnkosten gar nichts machen, weil die Lohnstückkosten ja so niedrig sind. Das Gegenteil ist richtig: Wenn wir davon wegkommen wollen, dass Rationalisierung nur über den Faktor Arbeit stattfindet, dann müssen wir uns stärker um die Senkung der Lohnnebenkosten kümmern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Berninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja.

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass sich angesichts der Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland - ich nenne das „das deutsche Lohndumping“ - Spanien, das ja an der Währungsunion teilnimmt, hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland bereits um 20 Prozent verschlechtert hat? Eine ähnliche Zahl wird für Portugal gemeldet, und auch in Italien ist eine solche Entwicklung zu verzeichnen. Ist Ihnen auch bekannt, dass der Chefvolkswirt der Deutschen Bank gesagt hat, da Italien ja nicht mehr abwerten kann, müssten dort die Löhne um bis zu 20 Prozent gekürzt werden? Ist Ihnen bekannt, dass aufgrund der törichten Politik in Deutschland viele Stimmen in Europa mittlerweile sagen, wir legten den Sprengsatz an das europäische Währungssystem, weil sich die anderen nicht mehr durch Abwertung zur Wehr setzen können?

Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Nun kommen wir von den Lohnstückkosten zur Währungspolitik. Herr Kollege Lafontaine, zum einen denke ich, über die Frage „Euro, ja oder nein?“ brauchen wir hier nicht mehr zu diskutieren - der Euro ist eingeführt. Ich bin ein überzeugter Europäer, ich glaube, dass es richtig ist, auf den europäischen Binnenmarkt zu setzen. Er ist ein weiterer Grund, warum wir Exportweltmeister sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben nämlich für Deutschland sowohl in den alten EU-Ländern als auch in den Beitrittsländern enorme Märkte. Vor diesem Hintergrund will ich mich, was den Populismus zum Euro angeht, eher zurückhalten.

   Zum Zweiten: Der Grund, warum wir gegenüber diesen Ländern durch niedrigere Lohnstückkosten einen Wettbewerbsvorteil errungen haben, hängt weniger mit dem Euro zusammen als vielmehr damit, dass Deutschland ein hohes technologisches Rationalisierungspotenzial hat, dass die in Deutschland ansässigen Unternehmen sehr innovativ waren, mehr Güter mit weniger Arbeit zu produzieren - auch, weil über unser soziales Sicherungssystem die falschen Anreize gesetzt worden sind. Dass wir so erfolgreich waren, führt dann eben dazu, dass andere Länder ein Problem haben. Aber lassen Sie uns nicht in einen Populismus verfallen, den Euro infrage zu stellen und den europäischen Binnenmarkt als einen zerfallenden Binnenmarkt anzusehen, dessen Teilnehmer untereinander lediglich konkurrieren.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Damit bin ich bei einer interessanten Anmerkung von Michel Glos vom gestrigen Tag. Der Bundeswirtschaftsminister hat gestern gesagt: Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken - er hat einen Brief nach Brüssel geschrieben -, die Strukturförderung für die Beitrittsländer künftig an die Frage zu koppeln, ob dadurch vielleicht auch Wettbewerber entstehen und ob damit Arbeitsplatzverlagerungen von Deutschland nach Tschechien oder Polen oder sonst wohin verbunden sind. Hintergrund sind die Arbeitsplätze, die bei Continental in Hannover, bei der AEG und anderswo in Gefahr sind.

   Aus drei Gründen finde ich diese Form von Populismus falsch: Grund Nummer eins ist, dass die Bundeskanzlerin während der Verhandlungen über den Finanzrahmen der EU bis 2013 Gelegenheit hatte, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Sie hat es, wohlverstanden, nicht gemacht, weil die Abgrenzung, wann eine Strukturförderung arbeitsplatzverlagernd ist oder nicht, so schwierig ist.

   Grund Nummer zwei - ich sagte es schon -: Deutschland hat schon jetzt von der Erweiterung der EU profitiert: Die Wachstumsraten unserer Wirtschaft auf diesen neuen Märkten - ob das Ungarn ist, ob das Polen ist, ob das Tschechien ist - sind so groß, dass wir uns auch hier nicht schlechtreden müssen. Deutschland ist auf diesen Märkten erfolgreich. Dann müssen wir aber umgekehrt auch diesen Ländern eine Chance geben. Deshalb teile ich die Einschätzung, dass der Bundesfinanzminister mit Brandbriefen bezüglich der Steuersätze für Unternehmen in diesen Ländern nur ein mildes Lächeln ernten wird.

   Der dritte Grund. Die Regelungen zur deutschen Einheit wurden von uns nicht anders gestaltet. Von den 80 Milliarden Euro, die von West nach Ost transferiert werden, fließen viele Mittel in die Strukturförderung. Das führt dazu, dass Betriebe von Westdeutschland nach Ostdeutschland abwandern. Nehmen Sie als Beispiel die Firma Müller Milch. Müller Milch hat in Niedersachsen seine Molkereien zugemacht und dort mehr Menschen entlassen, als in Sachsen beim Neuaufbau eingestellt wurden. Allerdings muss man anmerken, dass sich die neuen Länder in einem Aufholprozess befinden. Den sollten wir unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich glaube, dass die Arbeitslosigkeit nur mit einer Kombination aus mehr Wachstum und Strukturförderung - dazu müssen wir den Mut haben - bekämpft werden kann. Die Regierung hat in diesem Punkt, wie ich meine, ein großes Defizit, über das hier noch gesprochen werden muss. In unserem Land besteht ein enger Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Qualifizierung. Probleme gibt es bei uns, anders als in anderen Ländern, vor allem bei den niedrigqualifizierten Menschen, bei den Menschen im niedrigen Einkommensbereich.

   In diesem Zusammenhang will ich etwas zu der aktuellen Tarifdebatte sagen: Über die Frage, ob die Forderung der IG Metall nach 5 Prozent mehr Lohn richtig ist oder nicht, sollen die Tarifpartner entscheiden. Dabei haben sie bisher immer große Weisheit an den Tag gelegt. Ich finde, wir sollten uns nicht an dem Aushandlungsprozess beteiligen. Was mich aber freut, ist, dass die IG Metall, nach Verdi die größte Einzelgewerkschaft in Deutschland, in diesen Tarifverhandlungen erstmals das Thema Weiterbildung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das hätte auch der Bundeswirtschaftsminister in seiner Rede positiv unterstreichen können und er hätte die IG Metall einmal loben können, ohne befürchten zu müssen, danach im CSU-Präsidium geprügelt zu werden. Das ist der richtige Weg.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen mehr im Bereich Qualifizierung tun, wenn wir die Arbeitslosigkeit senken wollen.

   Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gestern etwas gemacht, was ich sehr bedenklich finde. Letzte Woche haben wir mit großem Konsens die Angleichung des Arbeitslosengeldes II im Osten an das Westniveau beschlossen. Gestern ist in den Veröffentlichungen der Agenturen zu lesen gewesen, der Bundeswirtschaftsminister stehe Subventionen im Niedriglohnbereich skeptisch gegenüber. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich teile zwar diese Ihre Einschätzung; denn so etwas führt zu Mitnahmeeffekten und zu so genannten Drehtüreffekten. Unternehmen werden davon profitieren, sie werden Menschen Arbeit geben, andere dafür aber entlassen. Das ist der falsche Weg.

   Weiter haben Sie gesagt, man müsse die Sozialtransfers bei den unteren Einkommen absenken, so wie uns das Herr Sinn aus München empfiehlt. Wir können aber nicht in der einen Woche beschließen, das ALG II im Osten an das Westniveau anzugleichen, und in der nächsten Woche die Menschen noch stärker verunsichern, die in den letzten Jahren real Einkommensverluste zu erleiden hatten. Das ist - Herr Lafontaine, da sind wir wieder einer Meinung - der falsche Weg.

   Deswegen machen wir Ihnen den Vorschlag, die notwendige Senkung der Lohnnebenkosten und somit der Arbeitskosten auf die kleinen und mittleren Einkommen zu konzentrieren. Das ist der richtige Weg. Wenn wir es schaffen würden, die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich stärker zu senken und die Steuerfinanzierung der Lohnnebenkosten dort zu konzentrieren, dann hätten wir eine Chance, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirksam in Gang zu setzen. Das könnte diese Regierung auf den Weg bringen. Das würde mehr Zuversicht geben. Das würde auch mehr Investitionen nach sich ziehen. Vor allem würde es Menschen Beschäftigung geben, die schon viel zu lange auf einen Arbeitsplatz warten.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Michael Meister (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat heute den Jahreswirtschaftsbericht der neuen Bundesregierung, den ersten in seiner Amtszeit, vorgelegt. Die Tendenz ist klar erkennbar: Es geht aufwärts in Deutschland. Nach fünf Jahren Stagnation kommt die deutsche Volkswirtschaft wieder in Gang. Daran kann man sehen: Der Eintritt der Union in die Regierung macht sich bemerkbar.

(Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der LINKEN - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist - er wurde schon mehrfach erwähnt - auf dem höchsten Stand seit fünf Jahren.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das ist unser Erbe!)

Der Dax liegt auf einem Vierjahreshoch. Die Unternehmen schauen wieder mit Zuversicht in das Jahr 2006. Immer mehr Ökonomen heben ihre Prognosen für das vor uns liegende Jahr an.

   Der Opposition möchte ich mit den Worten unseres ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sagen: „Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“ Deshalb bitte ich Sie, den allgemeinen Optimismus in Ihren Reihen aufzunehmen und konstruktiv daran mitzuwirken,

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Es genügt, wenn man es realistisch macht!)

dass es in Deutschland mit der Wirtschaft und dem Arbeitsmarkt wieder aufwärts geht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zum Jahreswechsel dargestellt. Ich darf ihn zitieren:

Die Entwicklung der letzten Monate gibt uns Zuversicht für das ... Jahr 2006.

Das ist die großartige Botschaft zu Beginn dieses Jahres.

   Im Jahreswirtschaftsbericht wird deshalb zu Recht festgestellt: Der Aufschwung ist in Gang gekommen. Das Wirtschaftsklima verbessert sich branchenübergreifend. - Es bestätigt sich wieder einmal der Lehrsatz von Ludwig Erhard: „Konjunktur ist zu 50 Prozent Psychologie“. An dieser Stelle hat die neue Bundesregierung einen neuen Pflock eingeschlagen und Vertrauen geschaffen. Sie ist verlässlich und berechenbar und schafft damit Vertrauen für die Akteure in der Wirtschaft. Diesen Kurs müssen wir in Ruhe und Gelassenheit weiter verfolgen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich möchte die Kollegen der Opposition einladen, sich nicht darauf zu beschränken, den Kurs und die Strategie dieser Regierung zu kritisieren, wie das heute Morgen geschehen ist, sondern eine alternative Strategie vorzulegen.

(Rainer Brüderle (FDP): Haben wir ja!)

- Herr Brüderle, ich habe das in dieser Debatte vermisst. Wo ist Ihre konstruktive Alternative?

(Rainer Brüderle (FDP): Sie haben nicht zugehört!)

Man löst keine Probleme, indem man nur Bedenken vorträgt. Sagen Sie doch einmal, wie Sie den Haushalt sanieren wollen! Sagen Sie, wie Sie mehr Beschäftigung schaffen wollen! Sagen Sie, wie Sie konkret die Sozialsysteme reformieren wollen!

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das hatten wir vor der Wahl doch gemeinsam festgestellt! Das wissen Sie doch, Herr Meister!)

Dann können wir darüber streiten, wer die richtige Strategie in diesem Lande verfolgt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich glaube, diese Regierung hat den richtigen Schwerpunkt gesetzt. Wir werden das Notwendige tun, um die Anstrengungen für Wachstum und Beschäftigung voranzubringen. Wir haben uns darauf verständigt, die Reformen an unserem Standort einzuleiten, die notwendig sind, um uns den Weg in die Wissensgesellschaft zu bahnen. Deutschland kann sich besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Wir werden den Menschen in Deutschland mehr Freiheit geben, damit sie sich auf diese neuen Rahmenbedingungen einstellen können.

(Rainer Brüderle (FDP): Durch Steuererhöhungen!)

Mit neuen Leistungsanreizen werden wir den Menschen die Chance geben, diese Freiräume eigenverantwortlich auszufüllen. Zudem wollen wir die Marktkräfte dauerhaft stärken, damit die vorhandenen Wachstumspotenziale genutzt werden können.

   Wir sollten den Menschen hier nichts Falsches einflüstern. Der Kollege Lafontaine hat eben die Bruttolohnsumme angesprochen und den Menschen sozusagen unterschwellig suggeriert, wir müssten unsere Probleme mit massiven Lohnerhöhungen lösen. Das ist ein vollkommen falscher Ansatz. Die Bruttolohnsumme besteht aus der Summe aller Individuallöhne. Unser Problem liegt doch darin, dass die Beschäftigtenzahl in den vergangenen Jahren massiv zurückgegangen ist. Wir müssen daran arbeiten, dass die Beschäftigtenzahl steigt. Dann werden die Menschen auch wieder mehr Einkommen haben und mehr Geld in die Hand nehmen. Deshalb müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir mehr Menschen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bekommen. Dort müssen wir den Schwerpunkt setzen. Wir sollten keine Vorschläge auf den Tisch bringen, die dazu führen, dass die Beschäftigtenzahl noch weiter nach unten geht und wir noch weiter in dieses Dilemma schlittern, Herr Lafontaine.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Diese Bundesregierung hat einen Dreiklang festgeschrieben: Wir wollen den Haushalt sanieren, wir wollen Investitionsanreize setzen und wir wollen langfristige Strukturreformen auf den Weg bringen. Ich glaube, dass dieser Dreiklang der richtige Ansatz ist, um die Lage unseres Landes zu verbessern und mehr Wachstum und Beschäftigung zu erreichen. Es ist gelegentlich sinnvoll, zu schauen, wie andere, die uns von außen betrachten, unsere Strategie kommentieren. Die Europäische Kommission hat gestern gesagt: Deutschland verfolgt eine kohärente, integrierte und angemessene Strategie, um zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen. - Ein besseres Gütesiegel der Wirtschaftspolitik dieser neuen Regierung hätten wir uns gar nicht wünschen können. Deshalb: Nehmen Sie diese positive Beurteilung doch einmal auf und orientieren Sie sich daran!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Der Bundeswirtschaftsminister hat den Dreiklang dargestellt. Die Haushaltskonsolidierung ist ein zentrales Ziel in dieser Legislaturperiode. Ich möchte hier auf den Chefökonomen der Europäischen Zentralbank, Otmar Issing, hinweisen. Er hat in einem Interview in den vergangenen Tagen gesagt:

Keine Regierung wird auf Dauer bestehen können, wenn sie den Haushalt nicht konsolidiert.

   Damit hat er absolut Recht. Konsolidierung ist kein Selbstzweck. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen per se eine wachstumssteigernde Wirkung hat. Deshalb werden wir über einen verlässlichen Konsolidierungspfad dazu kommen, das Wachstum in Deutschland längerfristig anzureizen. Wir müssen uns im Zuge der Haushaltskonsolidierung auch auf die Herausforderungen der noch zu erwartenden Lasten durch die demografische Entwicklung vorbereiten. Die Tatsache, dass heute ein neugeborenes Kind mit 18 000 Euro Schulden zur Welt kommt, ist nicht akzeptabel. In Zukunft müssen wir weniger Schulden machen und unseren Staatshaushalt ausgleichen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Die neue Bundesregierung packt das Problem der Haushaltskonsolidierung entschlossen an. Ich möchte allen Kritikern sagen: Sie bieten keine Alternative an. Wir würden uns gerne mit Ihnen über eine Alternative streiten. Legen Sie sie doch einfach vor! Diejenigen, die Sie nach vorne geschickt haben, sind, als sie die Möglichkeit hatten, das Problem zu lösen, bei Nacht und Nebel durch die Hintertür geflohen und jetzt stellen sie sich hier hin und treten als die großen Ratgeber auf.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie hatten doch damals die Möglichkeit, die Probleme zu lösen. Warum haben Sie es nicht getan? Warum sind Sie einfach verschwunden?

   Der Konsolidierungsbedarf ist enorm. Ein Viertel der Ausgaben des Bundes sind nicht durch laufende Einnahmen gedeckt. Deshalb werden wir in den kommenden Jahren massiv und eisern sparen müssen, um die Vorgaben in Art. 115 des Grundgesetzes und des europäischen Stabilitätspaktes, die Einhaltung der Maastricht-Kriterien, zu erreichen.

   Heute Morgen ist schon intensiv darüber diskutiert worden, wie wir das Wirtschaftswachstum für 2006 einschätzen. Ich bin sehr froh, dass wir mit einer realistischen, aber auch konservativen Wachstumseinschätzung in dieses Jahr gehen. Wir haben in den vergangenen Jahren oft erlebt, dass die Erwartungen nicht übertroffen, sondern unterlaufen wurden. Jetzt haben wir die Chance, dass sich die Erwartungen, die wir wecken, auch wirklich erfüllen werden und dass wir durch die Basiseffekte für die kommenden Jahre einen positiven Schub erreichen, statt Defiziten hinterherzulaufen. Deshalb werbe ich dafür, diese neue Strategie in den Folgejahren fortzusetzen und in Zukunft mit realistischen, aber konservativen Einschätzungen Wirtschaftspolitik zu gestalten.

   Das Impulsprogramm, das die Regierung vorgelegt hat, dient dazu, kurzfristig Investitionsanreize zu setzen. Es ist richtig, Herr Brüderle, dass wir nicht nur fordern, den Privathaushalt als Arbeitgeber zu entdecken, sondern dies auch schlicht und ergreifend tun. Genau das machen wir mit diesem Programm. Freuen Sie sich doch mit uns gemeinsam, dass dadurch neue legale Beschäftigung in Deutschland entsteht und mehr Menschen in Beschäftigung kommen!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Freuen Sie sich darüber, dass wir den Unternehmen nicht sagen, dass sie warten müssen, bis wir eine ausgereifte Unternehmensteuerreform auf den Weg gebracht haben, was wir uns bis zum 1. Januar 2008 vornehmen, sondern dass wir diese zwei Jahre mit Abschreibungsbedingungen überbrücken, die Investitionen am Standort Deutschland auch in diesem Zeitraum attraktiv machen.

   Entscheidend aber ist natürlich die Frage: Können wir Strukturreformen umsetzen? Hier sind wir - lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen - in einer komfortablen Lage. Die Koalition hat den klaren politischen Willen, dieses Problem zu lösen. In Bundestag und Bundesrat haben wir die dafür notwendigen Mehrheiten. Darüber hinaus steht uns der komplette steuerpolitische Sachverstand dieser Republik zur Verfügung, der an Lösungen für dieses Problem mitwirkt. Diese einmalige Situation sollten wir nutzen, nicht nur kleine Veränderungen vorzunehmen, sondern eine Strukturveränderung, die langfristig dazu führt, dass unser Standort attraktiv ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Das Thema Föderalismusreform wird mittlerweile seit Jahren diskutiert. Die Regierung und die Koalition haben sich vorgenommen, diese Reform in den ersten sechs Monaten dieses Jahres umzusetzen. Die Strukturveränderung, die wir auf den Weg bringen, wird dazu führen, dass in unserem Land schneller entschieden wird und Kompetenzen klarer geregelt sind.

   Auch das Thema Bürokratieabbau haben wir uns vorgenommen. Ich glaube, hier können wir diesmal tatsächlich etwas verändern. Wir diskutieren zwar schon seit Jahren über Bürokratieabbau, aber ehrlicherweise sind wir dabei nicht vorangekommen. Jetzt werden wir den Bürokratieaufwand an einzelnen Bestimmungen transparent machen, indem wir anfangen, Bürokratie zu messen. Beim Bundeskanzleramt wird ein Rat eingerichtet - damit wird das Thema Chefsache -, der sich damit beschäftigt, die Bürokratie dort, wo sie wirklich nachweisbar ist, zurückzuführen. Damit hört die Debatte zu diesem Thema, das in jeder Sonntagsrede vorkommt, auf, Herr Brüderle. Diese Regierung fängt an, in der Tagespolitik entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um zu weniger Bürokratie in Deutschland zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Anhand vieler Großprojekte haben wir erkannt, dass Entscheidungen in unserem Land zu lange dauern. Sie als Rheinland-Pfälzer kennen den Frankfurter Flughafen. Wir alle wundern uns, wie lange die Entscheidungen über neue Landebahnen und über die Werft des A380 dauern. Wir haben uns vorgenommen, dafür zu sorgen, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren in überschaubarer Zeit abgeschlossen werden können. Das heißt nicht, alles zu genehmigen und alles kritiklos hinzunehmen. Menschen, die in unserem Land zu Unternehmungen bereit sind, müssen aber in überschaubarer Zeit eine klare Auskunft erhalten, was sie tun können und was nicht. Ich glaube, dass davon ein positiver Impuls für den Standort Deutschland ausgeht.

   Ich möchte in dieser Debatte zum Jahresbeginn 2006 alle einladen, sich bei der Frage, wie wir unser Land wieder in Gang bringen können, konstruktiv einzubringen. Lassen wir den Missmut beiseite und sorgen wir dafür, dass mehr Menschen in Deutschland Beschäftigung finden und dass sie wieder Vertrauen und Optimismus entwickeln, damit es mit unserem Land aufwärts gehen kann! Deutschland kann es besser und wir wollen dafür sorgen, dass es auch besser wird.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion.

Dr. Rainer Wend (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine große Koalition ist nicht immer einfach. Der Kollege Meister hat uns ein wenig gekitzelt, indem er die besseren Wirtschaftsdaten - vorsichtig ausgedrückt - ein wenig einseitig vorträgt und sich darauf beruft, dass sie durch den Eintritt der Union in die Bundesregierung begründet seien. Es trifft sich gut, dass ich einen kurzen Text des Sachverständigenrates bei mir habe, in dem festgestellt wird, dass die große Koalition eine gute Basis für mutige und umfassende Politikmaßnahmen und die Fortsetzung des von Rot-Grün eingeschlagenen Reformkurses sein könne.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Meister, das war sozusagen eine kleine boshafte Retourkutsche zu Ihrer Anmerkung.

   Die große Koalition ist aber auch deshalb nicht einfach, weil die FDP kaum eine Gelegenheit auslässt, Ihnen vorzuhalten, was Sie noch vor einigen Wochen und Monaten gemeinsam auf den Weg bringen wollten und welche Position die Union jetzt vertritt. Die Grünen machen es uns auch nicht leichter, weil sie im Bundestag Anträge vorlegen, die wir in der letzten Legislaturperiode noch mit ihnen gemeinsam eingebracht haben.

(Martin Zeil (FDP): Ihr habt es wirklich schwer!)

Dennoch muss sich die große Koalition in der gegenwärtigen Situation ihrer großen Verantwortung bewusst werden. Warum ist ihre Verantwortung so groß? Wir kommen nicht daran vorbei, zu erkennen, dass wir in der Ökonomie unseres Landes - übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch im übrigen Kerneuropa - dramatische Veränderungen zu verzeichnen haben. Mit der Öffnung Chinas, Indiens und der Länder Osteuropas konkurrieren weltweit circa 2 Milliarden Menschen zusätzlich um Investitionen und Arbeitsplätze.

   Die Frage ist, wie wir diese große Herausforderung, vor der wir stehen, meistern können. Dafür müssen wir zwei Aufgaben bewältigen. Was die eine Aufgabe angeht, muss ich dem Kollegen Lafontaine widersprechen. Angesichts der zusätzlichen Konkurrenz auf den Weltmärkten bleibt es uns nicht erspart, uns diesem Wettbewerb zu stellen, sei es durch Verbesserungen in Bildung und Forschung - diesen Weg würden wir sicherlich gemeinsam gehen -, sei es über das Steuersystem oder die Frage, wie die Arbeit in den Bereichen zu organisieren ist, in denen die Beschäftigten weniger gut qualifiziert sind.

   Als große Koalition haben wir aber auch eine zweite Aufgabe, auf die der Kollege Stiegler zu Recht hingewiesen hat. Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn es uns gelingt, neben der Wettbewerbsfähigkeit auch die soziale Ausgestaltung unseres Landes beizubehalten. Es kann auch unter den veränderten Wettbewerbsbedingungen nicht richtig sein, wenn sich das Lohnniveau in einer Weise entwickelt, dass wie im Bewachungsgewerbe in Thüringen Tariflöhne von 4 Euro gezahlt werden.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

Wir müssen der ständigen Abwärtsspirale bei den Löhnen entgegenwirken. Deswegen richte ich an die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Bitte: Wir müssen einen Weg finden, diese Abwärtsspirale zu beenden. Wir müssen über Instrumente wie den Mindestlohn diskutieren und klären, wie wir denjenigen helfen, die aufgrund ihrer Qualifikation auch zu den gesetzlichen Mindestlöhnen keine Arbeit finden würden. Ein solches Instrument ist beispielsweise der Kombilohn; er käme für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer infrage, die aufgrund fehlender Qualifikation oder anderer Probleme im persönlichen Bereich keine Beschäftigung finden.

   Lassen Sie mich auf ein Thema eingehen, das mir große Sorgen bereitet und das bislang nur am Rande eine Rolle gespielt hat. Das ist das Thema Europa. Es ist bereits vom Bundeswirtschaftsminister und auch in unserer Koalitionsvereinbarung angesprochen worden. Ich glaube nicht, dass wir folgende zwei Dinge, die miteinander zusammenhängen, hinnehmen können. Das eine Problem ist: Wir fördern in manchen Ländern nicht das Entstehen von neuen Arbeitsplätzen, sondern die Verlagerung von bestehenden Arbeitsplätzen aus dem Land X in das Land Y. Man wird keinem Steuerzahler in Deutschland klar machen können, warum er Steuern zahlen soll, mit deren Hilfe Arbeitsplätze aus unserem Land wegsubventioniert werden. Das ist ein Thema, dem sich die Bundesregierung widmen muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Vorwurf, dass die Bundeskanzlerin sogar für zusätzliche Mittel zugunsten Osteuropas gesorgt hat, trägt jedoch nicht; denn dass die Strukturen in Osteuropa - auch mit Hilfe von EU-Mitteln - verbessert werden, ist richtig. Dafür ist zusätzliches Geld notwendig. Aber das darf nicht zur Subventionierung von Arbeitsplatzverlagerungen in die osteuropäischen Staaten führen. Vielmehr müssen dort neue Strukturen und Arbeitsplätze entstehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das andere Problem ist das Steuerdumping. Ich weiß nicht, ob darüber Konsens herrscht. Ich stelle jedenfalls fest, dass manche Länder nach meiner Wahrnehmung die Mindeststeuerquote unterschreiten. Wenn diese Mitgliedstaaten auf tragfähige Finanzierungsgrundlagen verzichten, dann ist das ihr gutes Recht. Wir werden ihnen kaum etwas anderes vorschreiben können. Dann dürfen aber diese Länder im Gegenzug nicht erwarten, dass andere Länder die Finanzierung ihrer staatlichen Leistungen übernehmen. Diese Diskussion werden wir in Europa führen müssen.

(Beifall bei der SPD)

   Herr Kollege Lafontaine, in diesem Zusammenhang möchte ich auf Ihre Argumente eingehen; denn ich finde, dass man sich auch mit dem sehr ernsthaft auseinander setzen sollte, was Sie gesagt haben. Ich habe mich an einer Stelle Ihrer Rede über einen klassischen Populismus geärgert. Sie sagen: Führten wir nur 5 Prozent Vermögensteuer für die Reichsten ein, dann stünden uns 100 Milliarden Euro zusätzlich im Haushalt zur Verfügung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Man kann mit mir sicherlich über Steuern und Lenkungswirkungen diskutieren. Wenn aber im Gesetzblatt steht, dass 5 Prozent Vermögensteuer zu erheben sind, bedeutet das noch lange nicht, dass sich die Steuereinnahmen erhöhen. Meine Sorge ist: Uns stehen dann letztlich weniger Einnahmen zur Verfügung, weil eine Erhöhung der nominalen Steuersätze dazu führt, dass das Geld, das Sie besteuern wollen, nicht mehr vorhanden ist. Es steht dann auch nicht mehr zur Verfügung, um in Deutschland investiert zu werden, die Produktivität zu erhöhen und für Wachstum und Beschäftigung zu sorgen. Aus diesem Grund bin ich im Hinblick auf die Einführung einer Vermögensteuer sehr zurückhaltend und werfe Ihnen ein Stück weit Populismus vor.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte noch etwas zum Thema Bürokratieabbau sagen. Ich finde, es ist gut, dass die Bundeskanzlerin dieses Thema in den Mittelpunkt ihrer Rede in Davos gestellt hat. Wir müssen selbstkritisch einräumen - das geht übrigens allen Bundesregierungen der letzten 30 Jahre so -: Wir haben den Bürokratieabbau ständig als Aufgabe benannt. Jeder von uns hat gesagt, dass die ausufernde Bürokratie ein zentrales Problem ist. Das ist sie auch. Wir haben aber letztendlich nicht den richtigen Dreh, den richtigen Ansatzpunkt gefunden, um dieses Problem nachhaltig in den Griff zu bekommen. Wir haben hier und da Verbesserungen vorgenommen. Das Ende vom Lied war allerdings, dass wir mehr Gesetze und Verordnungen als vorher hatten und dass unser Beitrag zum Bürokratieabbau - um es zurückhaltend auszudrücken - sehr begrenzt war.

   Es lohnt sich aber, darüber zu reden. Wir wollen einen neuen Anlauf wagen. Der Ansatz lautet: Wir messen die Bürokratiekosten, die Unternehmen nur dadurch entstehen, dass sie bestimmte Dokumentations- und Berichtspflichten staatlichen Stellen gegenüber haben - wir reden gar nicht über das materielle Recht, sondern nur über die Dokumentations- und Berichtspflichten -, und wir wollen uns Zielvorgaben setzen, aus denen hervorgeht, in welchem Umfang diese Kosten zu reduzieren sind.

   Vielen sind die Zahlen bekannt; ich nenne sie dennoch noch einmal. Die Niederländer haben über den Daumen 20 Milliarden Euro Kosten für die Bürokratie errechnet. Auf unser BIP übertragen sind das etwa 80 Milliarden Euro, wenn ich einmal unterstelle, dass wir nicht viel weniger bürokratisch sind als die Niederlande. Wenn es uns gelänge, diese Summe nur um ein Viertel zu reduzieren, würden wir in unserer Volkswirtschaft 20 Milliarden Euro freisetzen, die nicht mehr für Bürokratie, sondern für Investitionen und für Innovationen zur Verfügung stünden. Das ist ein Ansatz zum Bürokratieabbau, über den ich sage: Das lohnt sich. Die große Koalition muss diesen Schritt unternehmen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Wir können keine Wunder versprechen, aber wahr ist doch: Reformen einerseits und Sicherung unserer sozialen Systeme andererseits müssen die Grundlage bilden, ergänzt durch positive Stimmungen, die diese große Koalition erzeugt hat und auch in Zukunft erzeugen kann. Wenn uns dies auch weiterhin gelingt, dann wird es zwar immer noch nicht einfach mit der großen Koalition, aber dann wird sie ihrer Aufgabe gerecht, die Herausforderungen in unserem Land anzunehmen und dafür zu sorgen, dass es mit Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsplätzen aufwärts geht.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Herbert Schui, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und die Koalition haben ihren jüngsten Jahresstagnationsbericht vorgelegt,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

wenngleich mit außerordentlich optimistischem Unterton, optimistisch präsentiert, mit einer ganzen Menge von Beschwörungsformeln, mit gegenseitigem Schulterklopfen und vielem anderen mehr. Die Zukunft wollen Sie gestalten. Das bedeutet dechiffriert: Trotz steigender Arbeitsproduktivität soll der Bruttolohn und damit der Lebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerung sinken. Damit haben Sie gesagt, welche Zukunft Sie für die meisten von uns vorgesehen haben.

   Das von Ihnen prognostizierte Wirtschaftswachstum in Höhe von 1,4 Prozent beruht auf zwei Ursachen: zum einen auf der Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen, zum anderen auf dem Wachstum der Exporte. Sie werden mit mir sicherlich darin übereinstimmen, dass die Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen nicht anhalten wird. Zum einen sind es - das ist schon häufig gesagt worden - nichts weiter als vorgezogene Ersatzinvestitionen, die ohnehin irgendwann einmal fällig geworden wären, zum anderen ist die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank nicht gerade geeignet, einen Investitionsschub auszulösen. Schließlich gibt es gegenwärtig keine revolutionären Produktionstechniken, die Motiv für eine wirkliche Investitionskonjunktur sein könnten.

   Es bleibt also nichts weiter als der Export. Dieser Export ist aber deswegen sehr gefährdet, weil der Export Deutschlands Handelsbilanzdefizite bei unseren Handelspartnern hervorruft. Dieser Export könnte dann dauerhaft sein, wenn Deutschland so viel importieren würde, wie es exportiert; er könnte dann dauerhaft sein, wenn die Inlandseinkommen, die Bruttolöhne und Gehälter, so hoch wären, dass so viele Importgüter gekauft würden, dass keiner unserer Handelspartner ein Defizit mit Deutschland realisiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Weil diese Defizite realisiert werden, müssen die Defizitländer über kurz oder lang eine wachstumsdämpfende Politik einleiten. Wenn sie ihr Wachstum bremsen, um weniger im Ausland zu kaufen, dann bedeutet das natürlich, dass diese Exportstütze, diese Wachstums- und Konjunkturstütze, endgültig perdu ist. Sie glauben doch wohl nicht im ernst, dass die Vereinigten Staaten in der langen Frist ihr Außenhandelsdefizit von mehr als 600 Milliarden US-Dollar aufrechterhalten werden. Sie werden vorher eine wachstumssenkende Politik einleiten, damit die Importe aus den starken Exportländern wie Deutschland zurückgehen.

Insgesamt ist die Konzeption propagandistisch, falsch und ideologisch. Wenn nämlich der Export die einzige Konjunkturstütze ist, dann, so wird stets argumentiert, müssen wir wettbewerbsfähig im Ausland bleiben. Wettbewerbsfähig im Ausland können wir nur bleiben - so argumentiert man weiter -, wenn die Löhne niedrig sind. Das bedeutet aber, dass die Vorteile einer internationalen Arbeitsteilung, von denen in den Lehrbüchern die Rede ist und die auch in Ihren Sonntagsreden hervorgehoben werden, sich in der allgemeinen Wahrnehmung als Bedrohung durch den Weltmarkt darstellen. Der internationale Warenaustausch und die internationale Arbeitsteilung sind eben so organisiert, dass der Einzelne nicht davon ausgehen kann, dass wir alle davon profitieren. Das, was Sie Globalisierung nennen, ist in der Tat bedrohlich.

(Beifall bei der LINKEN)

   In einer überschaubaren Frist wird es also nicht zu einer Verbesserung der Lage kommen. Damit Ihr nächster Jahreswirtschaftsbericht wirklich wieder ein Stagnationsbericht wird, haben Sie mittlerweile beschlossen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Erhöhung der Mehrwertsteuer bedeutet, dass dem privaten Sektor zunächst rund 24 Milliarden Euro entzogen werden. Über die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden ihm 8 Milliarden Euro zurückgegeben. Dem privaten Sektor werden unter dem Strich also 16 Milliarden Euro genommen. Diese 16 Milliarden Euro gibt der Staat aber nicht zusätzlich aus; denn es ist das erklärte Ziel, dass die Ausgaben nicht wachsen und die Neuverschuldung die 3-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Infolgedessen haben Sie ein Nachfragesenkungsprogramm aufgelegt.

   Dieses Nachfragesenkungsprogramm wird nach überschlägigen Rechnungen in einer ersten Runde einen Wachstumsverlust von wenigstens 0,8 Prozentpunkten bedeuten. Das heißt, wenn Sie zurzeit für das Jahr 2007 von 1,5 Prozent Wachstum ausgehen, dann werden Sie bei 0,7 Prozent Wachstum landen. Diese Minderung der Ausgaben hat Folgewirkungen: Wenn weniger ausgegeben wird, nehmen andere Leute weniger ein und geben auch weniger aus. Das verstärkt die negativen Wirkungen. Nach etwa 18 Monaten werden sich diese kumulierten negativen Wirkungen auf das Wachstum auf ungefähr 1,2 Prozentpunkte belaufen.

   Sie werden dann irgendwelche mythischen Argumente finden müssen, um dennoch neuen Optimismus zu verströmen. Ich bin gespannt, welche Beschwörungsformel dann an der Reihe ist. Herr Bundesminister Glos hat vorhin eher beiläufig gesagt, das niedrige Wachstum in Deutschland liege an der niedrigen Geburtenrate. Wahrscheinlich werden Sie die künftige Argumentation mehr darauf stützen. Alle, die bei der so genannten bürgerlichen Mitte und rechts davon anzusiedeln sind, neigen nicht zur Analyse, wohl aber zu biologistischen Erklärungen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Schui, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere,

(Beifall)

verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.

   Nächster Redner ist nun der Kollege Alexander Dobrindt für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Alexander Dobrindt (CDU/CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeswirtschaftsminister hat einen Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt, der zum ersten Mal wieder Visionen enthält. Er hat Prognosen abgegeben, die - wie bei gutem Wirtschaften üblich - konservativ sind. Das heißt, dass wir eine realistische Chance haben, diese Prognosen sogar zu übertreffen. Das ist neu. Nach der Vorlage der Jahreswirtschaftsberichte in der Vergangenheit mussten die Eckpunkte vierteljährlich nach unten korrigiert werden. Im Übrigen war das an der schlechten Stimmung im Land maßgeblich schuld - das ist das Entscheidende -, dass Verlässlichkeit und Planbarkeit von politischen Entscheidungen für die Verbraucher und die Wirtschaft verloren gegangen sind.

   Politik, die unter dem Motto „Nachbessern“ betrieben wird, kann kein Vertrauen schaffen und sie ist deswegen Teil des vielästigen Problemgestrüpps in unserem Land. Ich bin froh darüber, dass wir das Vertrauen der Menschen nicht abermals mit zu optimistischen Zahlen auf die Probe gestellt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Politik wirkt natürlich maßgeblich auf die Emotionen der Menschen ein. Ich glaube, es gibt in unserem Land kein emotionaleres Thema als die hohe Arbeitslosigkeit, wobei insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit immer stärker zunimmt und die Arbeitslosigkeit insgesamt inzwischen in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Wohl jeder kann heute sagen, dass er in seiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft auch mit Angst vor Arbeitslosigkeit oder mit Arbeitslosigkeit konfrontiert ist. Deswegen ist es gut, dass der Jahreswirtschaftsbericht einen positiven Ausblick in Bezug auf den Abbau der Arbeitslosigkeit geben kann. Das ist das zentrale Thema, über das wir hier reden müssen.

   Reformieren und investieren zugleich ist der Schlüssel für langfristige und kurzfristige Maßnahmen, damit Wachstum und Beschäftigung in unserem Land geschaffen werden können. Anders formuliert: Es gilt, Ausgaben zu reduzieren, gezielte Wachstumsimpulse zu geben und gleichzeitig die Einnahmesituation zu verbessern.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Darin stecken große Herausforderungen, aber damit sind natürlich auch umso mehr Chancen für die Menschen verbunden.

   Der Vorwurf, der hier formuliert worden ist, dass ein Teil dieser Wachstumsimpulse ein Konjunkturprogramm der alten Prägung sei, greift schlichtweg nicht. Es geht vielmehr darum, den marktwirtschaftlich günstigsten Weg zu finden, notwendige Projekte zu realisieren.

   Ein Beispiel ist das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das den Zweck hat, die Energieeffizienz zu erhöhen, das heißt im Wesentlichen natürlich Energie zu sparen. Das ist eine wichtige umweltpolitische und wirtschaftspolitische Maßnahme, die zusätzlich gerade der mittelständischen Wirtschaft und den Handwerkern zugute kommt, Arbeitsplätze schafft und Arbeitsplätze sichert.

(Beifall des Abg. Hartmut Koschyk (CDU/CSU))

   „Reformieren, investieren, Zukunft gestalten“ heißt natürlich auch, die Probleme jetzt zu lösen und nicht in die Zukunft, auf die nächste Generation, zu verschieben. Anders formuliert: Politik muss endlich wieder das Zukunftsinteresse vor das Gegenwartsinteresse stellen. Das ist für die meisten Menschen in unserem Land überhaupt nichts Unübliches. Der viel strapazierte Satz „Ich will, dass es meinen Kindern einmal besser geht“ ist genau der Kern der Aussage „Zukunftsinteresse vor Gegenwartsinteresse stellen“.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Das heißt, die Politik muss mit den Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass Wachstum und Beschäftigung ein Niveau erreichen, das weiterhin breitestmöglich Wohlstand und Sicherheit garantiert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Deswegen ist ausdrücklich zu begrüßen, dass der Wirtschaftsminister die Förderpraxis der EU kritisiert. Arbeitsplatzverlagerung innerhalb Europas, mit Steuergeldern finanziert, hat nichts mit Wettbewerb zu tun, sondern ist das genaue Gegenteil davon.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Oskar Lafontaine (DIE LINKE))

   Der Bundesminister hat in seiner Rede die Energiepolitik thematisiert. Er hat vom ausgewogenen Energiemix gesprochen und zu Recht auf die Erwartung der Verbraucher hingewiesen, dass Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Energiepreise von der Politik mit zu garantieren sind. Gerade die jüngsten Erfahrungen, die auch in Deutschland einen neuen Prozess des Nachdenkens über die hohe Importabhängigkeit Deutschlands bei Energieträgern angestoßen haben, sollten uns dazu veranlassen, über die getroffene Entscheidung zum Ablauf des so genannten Atomausstiegs, das heißt über das Ob und das Wie, neu nachzudenken. Denkverbote dürfen hier nicht erteilt werden. Deswegen ist es sinnvoll, zum kommenden Energiegipfel alle Chancen und Risiken, auch die der bisher getroffenen Entscheidungen zum Energiemix, neu zu überprüfen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Rainer Wend (SPD): Noch mehr erneuerbare Energien!)

- Herr Kollege Dr. Wend, ich will nicht auf die Ausführungen Ihrer europäischen Kollegen zurückgreifen; aber wir können bei Gelegenheit über das diskutieren, was darüber heute im „Handelsblatt“ steht.

   Der Jahreswirtschaftsbericht nimmt umfassend zur Situation im Mittelstand Stellung. Das BMWi hat eine Mittelstandsinitiative angekündigt, die für weniger Bürokratie und mehr Flexibilität sorgen soll - eine Maßnahme, die der Mittelstand in Deutschland dringend erwartet. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft kann Entbürokratisierung bis zu 600 000 neue Stellen schaffen und einen enormen Wachstumsimpuls geben.

   Auf der Rangliste der ökonomischen Freiheit liegt Deutschland nur auf Platz 19, weit hinter Ländern wie England, Holland und Österreich. Gerade die ökonomische Freiheit ist aber wesentlich, um die Chance auf Selbstständigkeit zu eröffnen. Deshalb ist außerordentlich zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine Gründeroffensive startet mit dem Ziel, eine Selbstständigenquote von über 10 Prozent zu erreichen.

Darin liegt eine echte Chance, neue Beschäftigung zu schaffen. Nur Arbeit schafft nämlich Arbeit; die Verteilung von Arbeit schafft keine Arbeit.

   Meine Damen und Herren, der Kollege „roter Freund“ Stiegler

(Heiterkeit bei der SPD - Rainer Brüderle (FDP): Roter Bruder!)

- es sind schwarze Brüder und Schwestern und rote Freunde - hat auf das Unwort des Jahres 2005, „Entlassungsproduktivität“, hingewiesen. Das ist in der Tat ein Begriff, der auf traurige Weise die Tendenz ausdrückt, dass Unternehmen ihre Produktivität oder ihren Mehrwert durch Entlassungen steigern.

(Ludwig Stiegler (SPD): Dem wirken wir gemeinsam entgegen!)

Was wir in unserem Land aber brauchen, ist Einstellungsproduktivität. Darum muss es gehen. Denn nur durch neue Arbeitsplätze wird es wieder stabiles und langfristiges Wachstum in Deutschland geben. Daran müssen wir die Rahmenbedingungen ausrichten. Das Wort des Jahres 2006 muss „Wachstum“ sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht zeigt deutlich die Anstrengungen des Bundeswirtschaftsministers und der Bundesregierung. Die Wirtschaft blickt wieder optimistisch in die Zukunft. Die Menschen gewinnen wieder Vertrauen in die Politik. Ich denke, zusammen sind das gute Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in diesem Jahr.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.

Ute Berg (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den wirtschaftspolitischen Rundumschlägen meiner Vorredner möchte ich mich jetzt auf einen wichtigen Bereich für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands konzentrieren, und zwar den Bereich Forschung und Innovationen.

   Als Henry Ford junior nach dem Kriegsende 1945 angeboten wurde, das Volkswagenwerk kostenlos zu übernehmen, hat er geantwortet: Nein danke, dieses Auto ist eine Fehlkonstruktion. - Ich kann nur vermuten, dass er sich über diese grobe Fehleinschätzung später sehr geärgert hat. Jedenfalls zählt Volkswagen zu den größten Erfolgsgeschichten der deutschen Wirtschaft und die deutsche Automobilindustrie gehört weltweit zu den innovationsträchtigsten Industrie- und Forschungsbereichen. Wir alle wissen, dass es von unserer Innovationsfähigkeit abhängt, ob wir weiterhin wirtschaftlich erfolgreich und international wettbewerbsfähig sein werden.

   Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat letztes Jahr eine Studie zur Innovationsfähigkeit Deutschlands veröffentlicht. Ergebnis: Wir sind gut. Im Vergleich mit den weltweit führenden Industrieländern liegen wir im oberen Mittelfeld. Das heißt natürlich, es gibt noch bessere, auch in Europa. Hier bilden Schweden, Finnland und die Schweiz die Innovationselite. Sowohl bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung als auch bei der Umsetzung in marktfähige Produkte sind sie Spitze. Wir müssen also noch zulegen. Wenn wir unseren hohen Lebensstandard im Vergleich zum Beispiel zu Ländern wie China oder Indien halten wollen, die ja immerhin mit uns konkurrieren, dann geht das nur durch die ständige Entwicklung neuer Verfahren, Dienstleistungen und Produkte.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hartmut Koschyk (CDU/CSU))

   Was tut die Bundesregierung nun, um die Innovationskapazität der deutschen Wirtschaft zu stärken? Erstens, sie investiert gezielt in Forschung und Entwicklung. Zweitens, sie fördert innovative Unternehmen und den Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Drittens, sie unterstützt eine gute Ausbildung des Nachwuchses.

   Wir halten an dem Ziel fest, bis 2010 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung zu investieren. Das wurde vorhin schon mehrfach gesagt und zu den Maßnahmen wurde einiges ausgeführt. Deshalb kann ich das jetzt beiseite lassen.

   Wichtig ist aber auch: Wir unterstützen nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern fokussieren unsere Forschungsförderung auf bestimmte zukunftsträchtige Schwerpunkte wie zum Beispiel Verkehr und Raumfahrt, Energie und Nachhaltigkeit sowie Nanotechnologien, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Damit setzen wir die erfolgreiche Forschungspolitik der Vorgängerregierung fort.

   So wichtig es nun ist, dass geforscht wird, so wichtig ist es aber auch, dass die Erkenntnisse aus der Forschung ihren Weg in die Wirtschaft finden.

   Ein Beispiel. Die Firma Sto AG aus Stühlingen in Baden-Württemberg hat eine Wandfarbe entwickelt, die Gerüche und Schadstoffe aus der Raumluft herausfiltert, und zwar einfach durch die Einwirkung von Licht. Diese Entwicklung wäre nicht möglich gewesen ohne die Zusammenarbeit der Firma mit der Uni Erlangen-Nürnberg, die jahrelang an Pigmenten geforscht hat, die organische Stoffe umwandeln können. Bedarf für diese Farbe besteht an vielen Orten, beispielsweise in Kinderzimmern und in Krankenhäusern. Ich könnte noch weitere Beispiele nennen.

   Innovative Entwicklungen dieser Art als Ergebnis einer guten Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissenschaft werden von der Bundesregierung seit Jahren intensiv gefördert. Zu nennen sind beispielsweise Programme wie Pro Inno, durch das seit 1999 über 5 000 kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt wurden. Herr Lafontaine, in unserem Land gibt es doch noch ein bisschen Sonne, was die Wirtschaft angeht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Speziell für die neuen Länder hat die letzte Bundesregierung die Programme Inno-Watt und NEMO ins Leben gerufen. Eines von vielen erfolgreichen Beispielen ist das Innovationsnetzwerk Augenoptik Rathenow in Brandenburg, das im Rahmen von NEMO gefördert wird. Dort haben sich 15 kleinere Firmen der Optikbranche zusammengeschlossen, um gemeinsam technische Entwicklungen voranzubringen. Sie arbeiten zusammen mit einem Fraunhofer-Institut und mit Fachhochschulen aus der Region. Sie stellen gemeinsame Systemkataloge zusammen, vermarkten Brillengläser, Mikroskope und Präzisionsmaschinen. Mitte der 90er-Jahre gab es dort 250 Beschäftigte. Inzwischen sind dort über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.

(Beifall bei der SPD)

   Dieses Beispiel zeigt, wie sehr sich Investitionen lohnen, wenn sie gezielt eingesetzt werden, zum Beispiel zum Aufbau von Netzwerken, so genannten Clustern, die eine enorme Wachstumswirkung entfalten können. Investitionen dieser Art tragen, nebenbei bemerkt, zu ihrer eigenen Refinanzierung bei.

   Damit aber solche Projekte gelingen, braucht man Menschen mit Erfindergeist, mit Wagemut und - last, but not least - mit einer guten Ausbildung, und zwar von Anfang an: über den Kindergarten, die Schule bis hin zum Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss.

   Auch wenn wir hier den Jahreswirtschaftsbericht diskutieren, ist es mir wichtig, diesen Zusammenhang noch einmal explizit zu betonen: Gute Bildungspolitik ist immer eine Grundvoraussetzung für eine gelungene Wirtschafts- und Technologiepolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In diesem Bereich haben wir, wie wir aus internationalen Studien wissen, noch einen gewissen Optimierungsbedarf.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPD-Fraktion.

Ortwin Runde (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Positionswechsel sind schon mehrfach angesprochen worden. Es ist in der Tat erstaunlich, wie schnell und reibungslos einige einen solchen Wechsel vollziehen. Andere wiederum haben ihre Schwierigkeiten damit.

   Was die Positionswechsel angeht, freue ich mich durchaus, dass die Zahl derjenigen, die an die Bewältigung der Probleme optimistisch gestaltend herangehen - in diesem Punkt kann ich für mich eine gewisse Kontinuität in Anspruch nehmen -, gewaltig zugenommen hat.

(Beifall bei der SPD - Zuruf des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

Dass sich einige aufgrund der Positionswechsel ein wenig einsam fühlen, Herr Brüderle, kann ich nachempfinden.

   Ich möchte bei dieser Diskussion darauf hinweisen, dass sich auch Positionen inhaltlicher Art verändert haben. Ich habe unsere Diskussion über den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt aus dem letzten Jahr und unsere Diskussion über die Frage, wie man damit umgeht, noch gut in Erinnerung. Ich kann mich auch noch gut an die verschiedenen Defizitprognosen erinnern.

Wir können nun resümieren. Herr Kampeter lag mit seiner Prognose bei über 40 Milliarden Euro. Am Ende waren es 31 Milliarden Euro. Das ist ja ein Unterschied. Daraus ziehen einige in Bezug auf den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt den Schluss - gerade aus der Wissenschaft, in der es sehr unterschiedliche Denkschulen gibt -, dass es angesichts einer Defizitquote von 3,4 Prozent anstatt von 3,9 Prozent, die von der Regierung ursprünglich nach Brüssel gemeldet wurden, ein Leichtes wäre, eine Quote von 3 Prozent schon in 2006 zu erreichen. Ich muss sagen, dass wir diese Diskussion nicht in der Koalition führen, sondern es sich dabei um eine Randbegleitung durch die Wissenschaft handelt. Das macht die Veränderung in den gesamten Einstellungen deutlich.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich habe natürlich immer ein bisschen den Verdacht, dass auch die FDP diese Diskussion führen möchte. Nun muss man sich vorstellen: Die Defizitquote um 0,4 Prozentpunkte reduzieren zu wollen, klingt wenig, bedeutet aber: Jede Reduzierung um 0,1 Prozentpunkt erfordert Einsparungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Bei 0,4 Prozentpunkten müsste man also 10 Milliarden Euro einsparen. Herr Brüderle ist immer gut im ganz Abstrakten; er fordert allgemein die Entlastung der Bürger. Konkret wird er aber nie.

(Ute Kumpf (SPD): Genau! - Rainer Brüderle (FDP): Wir haben ein Sparbuch von 30 Milliarden vorgelegt!)

   Bezogen auf den Bundeshaushalt bedeuten Einsparungen natürlich, den Zusammenhang von abstrakter Ökonomie und Gesellschaftspolitik herzustellen. Dann ist man sehr schnell bei der Frage: Wen trifft es? Man sieht, die Hauptausgabenblöcke liegen bei den Renten und Ähnlichem.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brüderle?

Ortwin Runde (SPD):

Immer. Das belebt das Geschäft.

Rainer Brüderle (FDP):

Lieber Kollege Runde, wir haben uns als kleine Oppositionspartei sehr viel Mühe gemacht - wir haben ja nicht wie der Finanzminister einen Apparat von ein paar Tausend Beamten, die ihm zuarbeiten können -, haben ein Sparbuch mit Einsparmöglichkeiten in Höhe von 30 Milliarden Euro vorgelegt und damit die Finanzierung unseres Steuerkonzeptes offen dargelegt. Das hat keine andere Partei gemacht.

(Ludwig Stiegler (SPD): Dieses Konzept ist nicht gewählt worden! Es ist abgewählt worden!)

Statt uns zu loben, kritisieren Sie uns nun. Sie sollten dankbar sein für unsere Hilfestellung.

Ortwin Runde (SPD):

Sie zu loben, würde mir leichter fallen,

(Rainer Brüderle (FDP): Nicht so ängstlich!)

wenn Ihre Konzepte wirklich politiktauglich wären. Wenn man Ihre Steuerkonzepte anschaut, stellt man fest, dass Ihre Partei die Handlungsunfähigkeit des Staates herbeiführen will.

(Beifall bei der SPD - Rainer Brüderle (FDP): Nein!)

Wenn ich mir ansehe, zu welchen Einnahmeausfällen Ihre Steuerkonzepte führen würden, dann kann ich nur sagen: Das ist nicht verantwortbar.

(Rainer Brüderle (FDP): Fragen Sie mal Ihre Genossen in Schweden!)

Dass die große Koalition die Handlungsfähigkeit des Staates sicherstellen will, ist eine der Veränderungen, die im Koalitionsvertrag deutlich wurde und die in den letzten Wochen und Monaten schon in ersten Gesetzen umgesetzt wurde.

   Ich erinnere mich an jede Sitzung im Finanzausschuss, in der wir über den Abbau der Eigenheimzulage und die Abschaffung von Verlustzuweisungsgesellschaften diskutiert haben. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sagten immer: Das alles darf nicht jetzt sein,

(Rainer Brüderle (FDP): Das war ein Konzept!)

sondern erst dann, wenn eine große Steuerentlastung kommt.

(Rainer Brüderle (FDP): Das ist doch richtig!)

Insofern haben Sie dies faktisch immer verhindert.

(Beifall bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, ich finde es schon richtig, dass die Bundesregierung, bezogen auf das Jahr 2006, sagt: Wir können die Stabilitäts- und Wachstumskriterien nicht erfüllen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Noch nicht!)

Wir werden sie in 2007 erfüllen. - Dies scheint mir, auch konjunkturpolitisch, ein richtiger Ansatz zu sein.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

Das ist auch für die wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Schäffler?

Ortwin Runde (SPD):

Natürlich, gern.

Frank Schäffler (FDP):

Herr Runde, ist Ihnen bekannt, dass wir dem Gesetz zur Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben und das von Ihnen angesprochene Gesetz unsere Zustimmung gefunden hat?

Ortwin Runde (SPD):

Mir ist bekannt, dass Sie am Ende der Begrenzung der Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben. Aber ist Ihnen bekannt, dass Sie immer die Argumentationslinie hatten: „Wir können dort keine Subventionen abbauen, weil das im Grunde genommen eine verdeckte Steuererhöhung ist, solange wir auf der anderen Seite keine Senkung der Steuersätze haben“? Das ist doch Ihr Argumentationsmuster. Ist Ihnen das bekannt?

(Beifall bei der SPD - Martin Zeil (FDP): So sagen es doch im Gegensatz zu Ihnen alle Ökonomen!)

   Auch finde ich es richtig, dass die Bundesregierung in dieser schwierigen Haushaltssituation ein Programm mit Wachstumsimpulsen verabschiedet.

Das Wachstumsimpulsprogramm, das 3 Prozent für Forschung und Entwicklung vorsieht, wirkt über eine längere Zeit. Darauf hat Frau Berg bereits hingewiesen.

   Über das Programm zur energetischen Gebäudesanierung freuen sich auch die Grünen. Dass wir es in dieser Größenordnung nicht gemeinsam hinbekamen, ist schade; daher ist es umso schöner, dass es jetzt möglich war. Es hat im Bereich der Energie- und Materialeffizienz sehr viel mit den Herausforderungen zu tun, vor denen wir stehen, wenn wir zukunftsorientiert handeln wollen. In diesen Bereichen sehe ich in der Tat weltwirtschaftlich bedrohliche Entwicklungen.

   Das sind bezogen auf die Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts Punkte, die als Risiken einzuschätzen sind. Dazu gehört im Übrigen auch das Verhalten der Europäischen Zentralbank, das von ganz entscheidender Bedeutung sein wird.

   Ich halte das Wachstumsimpulsprogramm für richtig. Dabei wird häufig nach der Größenordnung gefragt. Wenn man die Umrechnung in D-Mark vornimmt, sieht man, dass sich die Größenordnung alten Gewerkschaftsvorstellungen annähert. Durch die Umstellung von D-Mark auf Euro kommt es gelegentlich zu einem subjektiv falschen Eindruck. Ich möchte darüber hinaus festhalten, dass es zu Multiplikatoreffekten in großem Ausmaß kommt.

   Ich finde es gut, dass man den Bereich der Abschreibungen als konjunkturpolitisches Instrument wieder entdeckt hat. Dass der alte Schiller wieder aufersteht, kann in der Diskussion über die Ökonomie,

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

die wir zurzeit führen, nicht schaden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Dass wir bei der Herstellung der Handlungsfähigkeit der verschiedenen staatlichen Ebenen ein Stück vorangekommen sind, macht die Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens deutlich. Vor einem Jahr hätte niemand zu prognostizieren gewagt, dass es im Jahr 2005 ein Aufkommen in Höhe von vielleicht sogar 33 Milliarden Euro geben wird. Das ist erfreulich, weil wir damit auch die Investitionskraft der öffentlichen Hände stärken. Bei der Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten wird es bezüglich der Investitionen in die Infrastruktur darauf ankommen, die verschiedenen staatlichen Ebenen miteinander zu verknüpfen, aber auch handlungsfähig zu machen.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

   Das scheint ein ganz bedeutsamer Faktor zu sein. Es geht also nicht nur um die Frage, wie man bezüglich der Konsolidierung der Finanzen zu einem Pakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen kann; vielmehr ist auch in den Bereichen „wirtschaftliche Impulse“ und „Investitionen“ gemeinsames Handeln erforderlich. Das scheint mir ganz entscheidend zu sein, wenn wir über das, was die Bundesregierung prognostiziert hat - sie geht von einem Wachstum in Höhe von 1,5 bzw., spitz gerechnet, 1,4 Prozent aus -, hinauskommen wollen.

   Unter Berücksichtigung der Stimmung in der Wirtschaft und in der Annahme, dass auch andere Elemente mitwirken werden, gehe ich davon aus, dass wir eine höhere Wachstumsrate erreichen können. Es wäre gut, wenn wir zum Jahresende unser Hauptziel, die Herstellung von Beschäftigung bzw. den Abbau von Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung von mehr als 350 000, erreichen könnten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/450 und 16/65 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung

- Drucksache 16/429 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hartmut Koschyk (CDU/CSU))

Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht eine Menge zur Entbürokratisierung gehört. Mit diesem Gesetzentwurf zum Saison-Kurzarbeitergeld tragen wir zur Entbürokratisierung bei. Bisher werden in vielen Branchen im Winter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen und zum Frühjahr wieder eingestellt. Das ist für die Betriebe ebenso wie für die betroffenen Menschen eine schwierige Prozedur. Nicht immer findet man die, die man im Dezember oder Januar entlassen hat, im März wieder.

   Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, der heute zur ersten Lesung vorliegt, für die Zeit von Dezember bis März eine vernünftige und weniger bürokratische Regelung als die, die es bisher gegeben hat, schaffen. Wir kennen das Problem aus der Baubranche. Aber nicht nur in der Baubranche werden witterungsbedingt um die Jahreswende herum die Aufträge weniger, sodass Menschen entlassen werden müssen. Bis 1995 gab es das Schlechtwettergeld; dann wurde es abgeschafft. Danach hat man mit anderen Regelungen versucht, eine Lösung zu finden. Das hat aber nie so ganz richtig geklappt.

   Jetzt hat es Gespräche mit beiden Seiten der Tarifparteien gegeben. Man hat eine Vereinbarung getroffen, die sich in diesem Gesetzentwurf niederschlägt. Unser Vorschlag findet große Zustimmung - nicht von allen, das ist wahr - vor allen Dingen beim Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, der ausdrücklich das lobt, was wir in Gesetzesform zu fassen versuchen.

   Wir wollen das Sondersystem der Winterbauförderung fortentwickeln und in das System des Kurzarbeitergeldes integrieren. Danach werden die Menschen zwischen dem 1. Dezember und dem 31. März nicht entlassen, sondern bleiben bei dem Betrieb beschäftigt und bekommen Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent ihres bisherigen Lohnes. Wer ein Kind hat, bekommt 67 Prozent. Am 1. April beginnt wieder das normale Beschäftigungsverhältnis. Während dieser Zeit zahlt der Arbeitgeber keinen Lohn, aber Sozialversicherungsbeiträge von 80 Prozent des bisherigen Lohns. Er zahlt Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge. Das macht in der Summe ungefähr 30 Prozent des Lohns aus, den er zuvor gezahlt hat. Der Arbeitgeber hat während dieser Zeit jemanden bei sich beschäftigt, der aber nicht arbeitet, der auch keinen Lohn bekommt, für den er aber Sozialversicherungsbeiträge zahlt.

   Die Frage ist, in welcher Größenordnung dies angenommen wird. Wir sehen auch, dass dies wahrscheinlich nicht sehr viele sein werden. An dieser Stelle fängt es an, richtig interessant zu werden. Jetzt geht es um die Frage, ob die Tarifparteien zur Finanzierung der ergänzenden Leistungen an Arbeitnehmer bei Nutzung beispielsweise von im Laufe des Jahres angesparten Arbeitszeitguthaben zur Überbrückung von Ausfallstunden eine branchenspezifische Umlage vereinbaren, um daraus ein vernünftiges System zu machen.

   Unsere Vorschläge sind nicht zwingend, nicht für die Baubranche und nicht für andere Branchen. In der Baubranche jedoch gibt es eine solche Vereinbarung. Alle Branchen - dazu gehört beispielsweise auch die Land- und Forstwirtschaft -, die Vereinbarungen zu einer solchen Umlage treffen, können das System, das wir anbieten, dann in vernünftiger Weise nutzen.

   Wenn die Tarifparteien - das ist mit ihnen besprochen worden - solche Umlagesysteme einführen, passiert im Wesentlichen dreierlei:

   Erstens. Der Arbeitgeber muss nicht mehr die Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe zahlen, sondern nur noch einen ganz kleinen Rest davon. Das macht die Sache für ihn hoch attraktiv. Er kann seine Mitarbeiter weiterbeschäftigen, braucht sie nicht zu entlassen, er hat Aufwand für Bürokratie gespart, muss für sie nicht zahlen und spätestens zum 1. April sind die Betreffenden bei ihm wieder voll tätig.

   Zweitens gibt es ein Zuschuss-Wintergeld. Das ist ein Bonus in Höhe von bis zu 2,50 Euro für jede Stunde, die aus einem Arbeitszeitguthaben eingebracht und im Winter zur Vermeidung von Arbeitsausfällen genutzt wird. Das ist eine flexible Arbeitszeitregelung. Das heißt, auf Arbeitszeitguthaben, die sich im Verlauf des Jahres aufgebaut haben, kann im Winter zurückgegriffen werden. Dafür gibt es einen Zuschuss von bis zu 2,50 Euro pro Stunde.

   Drittens gibt es ein Mehraufwands-Wintergeld. Das ist ein Bonus in Höhe von 1 Euro für jede in der Förderzeit geleistete Arbeitsstunde, in der Summe jedoch für nicht mehr als 450 Stunden. Dagegen ist das Zuschuss-Wintergeld eine Vergünstigung für diejenigen, die ihr Arbeitszeitguthaben in der Zeit aufbrauchen. Beim Mehraufwands-Wintergeld geht es um die geleisteten Stunden.

   Um die Kombination dieser drei Möglichkeiten - der Arbeitgeber zahlt keine Sozialversicherungsbeiträge mehr; es gibt einen Zuschuss für den Einsatz des zuvor aufgebauten Arbeitszeitguthabens und es gibt 1 Euro zusätzlich für jede in der Zeit von Dezember bis März geleistete Stunde - geht es.

   Ich sage noch einmal ausdrücklich: Das ist keine Zwangsveranstaltung für die eine oder andere Branche, sondern ein Angebot für die Tarifparteien auf beiden Seiten. Hier handelt es sich um eine Triparität - falls es so etwas gibt; das wurde mir zumindest so aufgeschrieben, deshalb gebe ich das hier gerne weiter -: Es gibt drei Handelnde, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und den Staat, also die Arbeitsverwaltung. Es liegt an den beiden Tarifparteien, ob sie solche Vereinbarungen treffen. Wenn sie es tun, dann sind sie in der guten Lage, dass sie - anders als bisher - die Menschen zu Beginn des Winters nicht mehr entlassen und dann irgendwann später wieder suchen müssen, um sie einstellen zu können. So gibt es eine größere Sicherheit für alle Beteiligten.

   Ich glaube, das ist eine insgesamt vernünftige, bürokratiefreundliche und auch arbeitgeber- wie arbeitnehmerfreundliche Regelung, die wir hier eröffnen. Ich bitte um Unterstützung.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Jörg Rohde (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Fraktion der FDP begrüße ich die Zielsetzung des heute vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Wir werden konstruktiv an der Diskussion zu diesem Gesetz teilnehmen.

(Rainer Brüderle (FDP): Jawohl!)

Das Saisonkurzarbeitergeld soll die bisherige Winterbauförderung ablösen, wobei die neue Leistung nicht auf die Baubranche beschränkt wird, sondern für weitere Saisonbranchen geöffnet werden soll.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): An der Stelle wird es spannend!)

   Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erwägt nunmehr, Wirtschaftszweige auch ohne deren Zustimmung einzubeziehen. Dies ist nicht akzeptabel.

(Beifall bei der FDP)

Mit der Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträge für Saisonkurzarbeitergeld im Wege eines Umlageverfahrens oder einer Direktzahlung an die Bundesagentur für Arbeit sind zusätzliche Belastungen verbunden. Dies gilt vor allem für Arbeitgeber der Branchen, die bisher nicht über ein Umlageverfahren wie das der Baubranche verfügen. Je nach Situation der Branche bestünde dadurch die Gefahr, dass - statt Saisonarbeitslosigkeit zu verhindern - vielmehr durch vermehrte Firmenpleiten Arbeitsplätze dauerhaft in Gefahr geraten. Das wäre natürlich absolut kontraproduktiv.

(Beifall bei der FDP)

   Durch die Ausweitung des Anwendungsbereiches des neuen Gesetzes über Verordnungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dürfen Tarifvertragsparteien nicht die Anreize genommen werden, ganzjährige Beschäftigung selbstständig über eine flexible Ausgestaltung der Tarifverträge zu erreichen.

(Beifall bei der FDP)

Für eine Ausweitung über die Baubranche hinaus müssen strenge Maßstäbe gelten.

   Einige Passagen des Gesetzentwurfes werfen weitere Fragen auf, welche wir in den Ausschüssen klären sollten. Wie schon erwähnt ist noch unklar, welche Branchen genau in die neue Leistung des Saisonkurzarbeitergeldes einbezogen werden. Zunächst hieß es in der Diskussion, dass nur Branchen einbezogen werden, die dies auch wollen. Im Gesetzentwurf steht nun aber, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch Rechtsverordnung die einzubeziehenden Wirtschaftszweige festlegen kann.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Genau: „Mehr Freiheit wagen“!)

Somit könnte mit der Unterschrift des zuständigen Ministers eine Branche zum Beispiel auch gegen den erklärten Willen der Arbeitgeber einbezogen werden. Das allein ist fast schon ein Eingriff in die Tarifautonomie.

   Schon der nächste Absatz der Gesetzesvorlage zeigt, wohin die Reise geht: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales darf Verordnungen über die Höhe der ergänzenden Leistungen erlassen. Statt dieser Verordnungen sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, wie die Tarifpartner auch ohne Herrn Müntefering Vereinbarungen treffen können.

(Beifall bei der FDP)

   Ebenfalls müssen wir darauf achten, dass mit der neuen Förderung keine neuen Belastungen auf die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung zukommen. Richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die Beitragszahler entlastet werden, weil sie keine Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings könnte es je nach Umfang der Inanspruchnahme des Saisonkurzarbeitergeldes deshalb auch zu Mehrbelastungen kommen. Einer übermäßigen Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld und der damit einhergehenden Belastung der Beitragszahler muss deshalb eine wirksame Sperre entgegengesetzt werden.

(Beifall bei der FDP)

   Ein Baustein zur Senkung der Belastungen für die Bundesagentur für Arbeit ist auch die erhöhte Flexibilisierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu 150 Stunden statt wie bisher 10 Prozent der vereinbarten Jahresarbeitszeit.

Wir als Liberale wünschen uns hier noch mehr Freiraum für die Arbeitnehmer. Schon als Betriebsrat habe ich mich immer für größere Zeitkorridore ausgesprochen.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Na, sehen Sie, Herr Brandner! Es gibt auch bei uns Betriebsräte!)

Wie wäre es zum Beispiel mit 250 Stunden? Um die ganzjährige Beschäftigung der Saisonarbeitnehmer zu fördern, könnte man auch über negative Zeitguthaben diskutieren.

   Statt des Bezuges von Saisonkurzarbeitergeld nach Abbau der Arbeitszeitguthaben könnten Arbeitsausfälle aufgrund schlechten Wetters oder schwacher Auftragslage im Frühjahr durch nachträgliche Überstunden ausgeglichen werden.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das erscheint mir vernünftig!)

Auch für negative Arbeitszeitguthaben könnte als Anreiz das Zuschusswintergeld gewährt werden. So kann die Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld vermieden werden.

(Beifall bei der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Na, machen wir das doch!)

   Um das Ziel der Förderung einer ganzjährigen Beschäftigung zu erreichen, ist bei Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld nach Bezug von Saisonkurzarbeitergeld eine Anrechnung vorzusehen. Die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes darf nicht dazu führen, dass beitragsfinanzierte Leistungen zeitlich kumuliert in Anspruch genommen werden können. Dies würde auch dem erklärten Ziel der Neuregelung, die ganzjährige Beschäftigung zu fördern, widersprechen.

(Beifall bei der FDP)

   Ich fasse zusammen: Die FDP unterstützt die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes, wenn dies zu keinen neuen Belastungen für die Arbeitslosenversicherung führt und wenn die Entscheidung, welche Branchen einbezogen werden, nicht gegen den Willen der jeweiligen Arbeitgeberverbände erfolgt.

   Herr Müntefering, Sie sagen zwar das Richtige, aber im Gesetzentwurf steht etwas anderes, etwas, das man deuten kann.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das hat man bei dieser Regierung öfter! Aber das war auch schon bei der Vorgängerregierung so!)

Sie zeigen Möglichkeiten auf, während wir wollen, dass diese Türen gewissermaßen verbarrikadiert werden. Wir möchten eine stärkere Einbeziehung der Parteien, die die Verhandlungen führen, und weniger Einflussnahme durch den Gesetzgeber.

(Andrea Nahles (SPD): Das ist doch unglaublich!)

   Da wir für die Gesetzgebung zuständig sind und keine Tarifverträge aushandeln, sollten wir Obergrenzen setzen, die im Rahmen von Tarifverträgen ausgeschöpft werden können, statt - wie bei den Zeitguthaben - enge Obergrenzen einzuführen.

(Beifall bei der FDP)

Wir wünschen uns eine intensive Diskussion und ich freue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Rohde, im Namen des ganzen Hauses herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Ich wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.

(Beifall)

   Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung soll ein wesentlicher Beitrag zur Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit, insbesondere in der Baubranche, geleistet werden. Mit diesem Gesetzentwurf verfolgen wir das Ziel, in der Baubranche und gegebenenfalls auch in anderen witterungsabhängigen Branchen eine ganzjährige Beschäftigung zu fördern. Diese Zielsetzung ist im Interesse der Arbeitnehmer und im Interesse der Arbeitslosenversicherung, die dadurch entlastet werden soll. Dies ist im Grundsatz zu unterstützen. Ich bin auch für die Signale aus der Opposition dankbar, dass wir uns in diesem Ziel, jedenfalls vom Grundsatz her, einig sind.

   Mit diesem Gesetzentwurf werden wir ein neues Instrument schaffen, das so genannte Saisonkurzarbeitergeld, mit dem wir die bisherige Winterbauförderung als Spezialfall einer allgemeinen Kurzarbeitergeldregelung ersetzen. Sowohl die bisherige Winterbauförderung als auch das neue Saisonkurzarbeitergeld ist ziemlich kompliziert.

   Lassen Sie mich darauf hinweisen, worum es dabei im Wesentlichen geht: Es geht vor allem darum, dass in der Schlechtwetterperiode, also bei witterungs- und auftragsbedingtem Arbeitsausfall, Saisonkurzarbeitergeld gezahlt wird; so haben wir es auch im Koalitionsvertrag festgelegt. Dieses Saisonkurzarbeitergeld wird in derselben Höhe wie das Arbeitslosengeld gezahlt. Aber die Sozialversicherungsbeiträge müssen vom Arbeitgeber getragen werden. Zudem soll den Arbeitnehmern aus einer Umlage, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu tragen ist, sowohl ein Zuschuss- als auch ein Mehraufwandswintergeld gezahlt werden.

Auf diese Weise wird die Absicht verfolgt, die ganzjährige Beschäftigung zu fördern: Die betroffenen Arbeitnehmer sollen nach Möglichkeit beschäftigt bleiben, statt entlassen und zur BA geschickt zu werden, obwohl sie die Absicht haben, nach der Schlechtwetterperiode wieder mit ihrem Arbeitgeber zusammenzukommen. Es soll also vermieden werden, dass sich jemand arbeitslos meldet, der eigentlich nicht vermittelt werden, sondern nach der Schlechtwetterperiode zu seinem Arbeitgeber zurückkehren will; denn das ist nicht sinnvoll. Genau das soll mit dieser Regelung vermieden werden. Ich denke, das ist ein vernünftiges und unterstützungswürdiges Anliegen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Nun steckt bei diesem Gesetzentwurf wie bei vielen anderen und wie häufig im Leben der Teufel im Detail. Natürlich lehrt die Erfahrung, dass am Ende kein Gesetzentwurf genau so aus dem Parlament herausgeht, wie er hineingegangen ist.

(Renate Gradistanac (SPD): Genau!)

Gleichzeitig muss man natürlich zur Kenntnis nehmen, dass die gesetzlichen Regelungen, die wir hier andiskutieren, nicht aus dem luftleeren Raum kommen: Es gibt eine Vereinbarung der Tarifvertragsparteien in der Bauwirtschaft, von IG BAU und Bauindustrie, aus dem Juli letzten Jahres, in der genau diese Regelungen - die Umlage, das Zuschusswintergeld und auch das Mehraufwandswintergeld - vereinbart worden sind. Über eines muss man sich im Klaren sein: Eine gesetzliche Regelung, die eine solche Vereinbarung der Tarifvertragsparteien flankieren soll, läuft auf Dauer ins Leere, wenn die Regelungen, die dort vereinbart sind, nicht kompatibel sind; wenn sie nicht zusammenpassen, kann das nicht funktionieren. Es ist sicherlich vernünftig, über die einzelnen dort vereinbarten Regelungen nachzudenken, wie das Ausfallgeld zur ersten Stunde. Es wird aber nicht sinnvoll sein, eine gesetzliche Regelung zu machen, die mit den tarifvertraglich vorhandenen Regelungen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Dann läuft das Instrument ins Leere, dann muss man sagen: Wir wollen das nicht. - Wir wollen aber ein solches Instrument. Über die Details wird also zu reden sein, nur der Grundsatz müsste klar sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Da die FDP nun argwöhnt, die Regelung solle anderen Branchen gewissermaßen übergestülpt werden, kann ich Sie beruhigen: Es ist nicht beabsichtigt, weder von den Koalitionsfraktionen noch von der Bundesregierung - ich denke, das darf ich sagen -, hier irgendeine Tarifvertragspartei irgendeiner Branche zwangszubeglücken mit etwas, was sie überhaupt nicht haben will.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich höre - und ich lese!)

   Wir müssen uns als Gesetzgeber ja mit zwei Dingen beschäftigen: Einmal damit, dass keine Branche zwangsbeglückt wird, die das gar nicht will. Und selbst wenn die Tarifvertragsparteien das wollen, darf die Regelung, die geschaffen werden soll, nicht zulasten Dritter gehen.

   Wir haben im Koalitionsvertrag ganz klar festgelegt: Wir wollen einen kostenneutralen Ersatz für die alte Winterbauförderung. Deswegen müssen wir uns bei konkreten Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien damit auseinander setzen, ob diese kostenneutral sind. Hier ist vorgesehen, nach zwei Jahren zu überprüfen, ob unser Ziel im Rahmen der Vereinbarungen, die die Tarifvertragsparteien geschlossen haben, erreicht worden ist. Beides muss also zusammenkommen: Es muss eine Vereinbarung beider Tarifvertragsparteien geben, damit ein solches Instrument angewendet werden kann - die Umlage ist die einzig sinnvolle Voraussetzung dafür, dass so etwas auch für die Tarifvertragsparteien attraktiv wird -, und der Gesetzgeber muss sich die Frage stellen, ob er eine Anwendung auf andere Branchen für sinnvoll hält, wenn es deren Tarifvertragsparteien tun. Dabei muss er die Auswirkungen auf die Arbeitslosenversicherung im Auge haben.

   Dieser Regelung liegt die Kalkulation zugrunde, dass bei etwa 25 Prozent derer, die bisher - trotz Winterbauförderung - saisonbedingt in die Arbeitslosigkeit gingen, dies künftig vermieden werden kann. Wenn uns das gelingt, dann werden wir auch in der Lage sein, dieses Instrument kostenneutral zu gestalten; da können Sie ganz beruhigt sein. Im Detail wird darüber zu reden sein, wie wir das erreichen können.

   Ich will noch einmal deutlich sagen: Entscheidend ist, dass wir tatsächlich etwas umsetzen. Denn das Problem brennt wirklich auf den Nägeln. Es kann keinen Sinn machen, die Menschen regelmäßig - aufgrund absehbarer, saisonaler Probleme - in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, sie für viel Geld zu verwalten und auf bürokratischem Wege wieder aus der Arbeitslosigkeit herauszubringen. Gut wäre es, wenn die Tarifvertragsparteien dafür einen Vorschlag unterbreiten. Der Gesetzgeber stellt sich hier nicht an die Stelle der Tarifvertragsparteien, sondern er versucht, die Gesamtinteressen, die er zu wahren hat, in Einklang zu bringen mit dem, was die Tarifvertragsparteien vereinbart haben. Auf dem Weg sind wir und ich denke, wir können ihn im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens weiter erfolgreich beschreiten.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus, Fraktion Die Linke.

Werner Dreibus (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD bestätigen mit dem vorliegenden Gesetzesvorhaben die Notwendigkeit der Förderung ganzjähriger Beschäftigung. In diesem Ziel sind wir uns einig. Insofern begrüßen wir vom Grundsatz her den vorgelegten Gesetzentwurf.

   Wir müssen allerdings auch feststellen, dass sowohl CDU/CSU als auch SPD für die derzeitige missliche Situation der Beschäftigten in saisonabhängigen Branchen, die vom Minister hier völlig zu Recht beklagt worden ist, durch Entscheidungen in der Vergangenheit wesentlich mitverantwortlich sind:

(Beifall bei der LINKEN)

   Unter Führung von CDU/CSU und FDP wurde mit dem Schlechtwettergeld ein gut funktionierendes System mit der Begründung abgeschafft, es sei zu teuer und belaste den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zu sehr. Damals hat Ihre Fraktion, Herr Rohde - das kann man wunderbar nachlesen; das würde ich Ihnen empfehlen -,

(Jörg Rohde (FDP): Das werde ich tun!)

übrigens keine Rücksicht auf die Tarifautonomie und auf die Interessen und formulierten Positionen der Tarifvertragsparteien genommen, sondern gegen deren Rat das Schlechtwettergeld abgeschafft. Was war das Ergebnis? - Das Ergebnis war und ist ein Anstieg bei der saisonalen Arbeitslosigkeit in den Bauberufen. Unter dem Strich wurden die Beschäftigten und die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich belastet.

   Vor allem die SPD, aber auch die Grünen haben 1995 die Abschaffung des Schlechtwettergeldes lautstark und völlig zu Recht kritisiert. Während ihrer Regierungsverantwortung in den letzten sieben Jahren hat Rot-Grün den Missstand dann aber lediglich weiter verwaltet. In sieben Jahren hat Rot-Grün es nicht fertig gebracht, eine Absicherung für die Beschäftigten zu schaffen, die im Prinzip dem alten Schlechtwettergeld entsprochen hätte.

   Im Gegenteil: Mit der Hartz-III-Gesetzgebung haben Sie die Beschäftigten im Baugewerbe deutlich schlechter gestellt. Ab Februar 2006 könnten die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - es sind überwiegend aber Arbeitnehmer - schrittweise ihre Ansprüche auf Arbeitslosengeld I verlieren und trotz regelmäßiger Wiederbeschäftigung zu Beziehern von Arbeitslosengeld II werden. Die Misere, die mit der Abschaffung des Schlechtwettergeldes unter Schwarz-Gelb eingeleitet wurde, hat Rot-Grün mit Hartz III ohne Not zugespitzt. Das alles muss man wissen, wenn sich CDU/CSU und SPD jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um Abhilfe bemühen.

   Ich sage es, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, noch einmal: Wir begrüßen die Zielsetzung des Gesetzesvorhabens. Aber die Lernkurve - wir haben vorhin etwas über die lernende Gesellschaft gehört -, von der Abschaffung des Schlechtwettergeldes bis zu seiner Wiedereinführung durch die Hintertür, ist mit zehn Jahren nach meinem Verständnis deutlich zu lange ausgefallen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es waren zehn Jahre, in denen das Leben vieler am Bau beschäftigter Menschen überflüssigerweise dadurch erheblich verschlechtert wurde, dass ihnen die heutigen Koalitionäre den notwendigen Schutz vor Arbeitslosigkeit im Winter verwehrt haben. Es war und ist falsch, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei saisonalen Auftragsschwankungen betriebsbedingte Kündigungen zustellen zu lassen. Es war und ist falsch, diese gekündigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wieder neu zur Agentur für Arbeit zu schicken und Arbeitslosengeld beantragen zu lassen. Es war und ist falsch, dass die Agenturen für Arbeit gezwungen werden, sich in diesen Fällen mit Arbeitnehmern zu beschäftigen, die weder gefordert noch gefördert werden müssen.

   Ihre Arbeitsmarktpolitik gibt vor, dem Leitbild des Forderns und des Förderns zu folgen. Das ist ein Missverständnis und geht zulasten der betroffenen Menschen. Weder die Abschaffung des Schlechtwettergeldes noch die Hartz-Reformen insgesamt folgen tatsächlich diesem Motto. Sie folgen der Maxime des Forderns und Hoffens. Im Fall der Beschäftigten am Bau haben Schwarz-Gelb und Rot-Grün in der Vergangenheit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgefordert, sich ganzjährig um Arbeit zu bemühen, und gleichzeitig gehofft, dass der Winter ausfällt.

(Beifall bei der LINKEN)

   Statt eine solche Fata Morgana zu beschwören und sich zehnjährige Auszeiten in der Wahrnehmung einfachster Zusammenhänge zu leisten, ist eine den Realitäten angemessene Absicherung der Beschäftigungsrisiken von saisonabhängigen Beschäftigten notwendig. Das gilt bei diesem Thema und das gilt für die Arbeitsmarktpolitik als Ganzes. Wir werden uns an dieser Debatte konstruktiv beteiligen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der Auffassung, dass Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine richtige Absicht verfolgen.

   Natürlich ist es richtig, die Arbeitslosigkeit in wetterabhängigen Branchen reduzieren zu wollen. Das ist gut für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich führt dies auch zu einer Arbeitserleichterung bei den Arbeitsagenturen. Herr Müntefering, nebenbei kommt es dadurch natürlich auch zu einer positiven Entwicklung der Arbeitslosenstatistik. Das ist ein schöner Nebeneffekt, der dabei herauskommt.

(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Genau!)

Aber sei?s drum, das gönnen wir Ihnen von Herzen; denn das ist in der Sache ja auch richtig.

   Meine Frage aber ist - ganz anders als bei Herrn Brauksiepe und bei der FDP-Fraktion -: Warum beschränken Sie diese Regelung eigentlich auf die saisonbedingte Arbeitslosigkeit in Wintermonaten? Sie nennen hier ausdrücklich Branchen, die Probleme im Winter haben: Baugewerbe, Land- und Forstwirtschaft, Baustoffindustrie, Steinmetz-, Bildhauerhandwerk, Maler und Lackierer.

   Offen gestanden finde ich das halbherzig. Ich meine, dass das Prinzip, das Sie mit diesem Gesetzentwurf verfolgen, richtig ist, frage mich allerdings, warum es nur um die Monate Dezember bis März geht. Ich weiß, dass Sie - Frau Merkel hat das immer wieder betont - die Politik der kleinen Schritte adeln wollen. Aber müssen es tatsächlich Trippelschritte sein? Wetter ist ganzjährig und gibt es nicht nur von Dezember bis zur Krokusblüte im März.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, ich weiß, dass Sie am liebsten mit dem Slogan werben würden: Wenn morgens früh die Sonne lacht, hat?s die große Koalition gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich kann Ihnen aber sagen: Schlechtes Wetter - zumal in unseren Breitengraden - wird selbst dann ein ganzjähriges Phänomen bleiben, wenn Frau Merkel regiert.

   Ich finde, es ist ein Problem, dass Sie mit Ihrer Regelung etliche Wirtschaftszweige von vornherein davon ausschließen, diese Regelung in Anspruch zu nehmen: zum Beispiel die Gastronomie in Wintersportregionen sowie Alm- und Gondelbetriebe. Diese bräuchten ein Kurzarbeitergeld für die Sommersaison. Das ist aber auf der Grundlage dieses Gesetzes ausdrücklich nicht möglich.

   Interessanterweise handelt es sich dabei um Branchen, in denen überwiegend Frauen beschäftigt sind. Insofern ist es, das muss ich schon sagen, Ausdruck von fortgeschrittener Geschlechtsblindheit,

(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!)

wenn Sie in Ihrem Entwurf auch noch schreiben, dieses Gesetz habe keine gleichstellungspolitische Bedeutung. Interessanterweise profitieren von Ihrer Regelung Branchen, in denen fast ausschließlich Männer beschäftigt sind.

   Warum treffen Sie nicht einfach eine Regelung, die besagt: Wenn jemand acht von zwölf Monaten sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist und alle anderen Voraussetzungen - das betone ich ausdrücklich - ebenfalls erfüllt sind, dann gilt diese Regelung? Das wäre auch ein Beitrag zum Bürokratieabbau.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das frage ich Sie vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf betonen, mit dieser Regelung könnten circa 25 Prozent der saisonbedingten Entlassungen vermieden werden. Gut so, sage ich. Ich frage aber: Warum denn nicht auch in anderen Bereichen?

In Ihrem Gesetzentwurf werden die Einsparungen für die Bundesagentur für Arbeit und den Bund betont. Herr Brauksiepe, machen Sie nur weiter im Schritttempo der 80er-Jahre! Diese Wohltaten können wir doch auch anderen Branchen gönnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, der mir sehr wichtig ist. Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf - das finde ich gut - Anreize schaffen, um Arbeitszeitkonten stärker zu nutzen. Es ist natürlich das Ziel - das sehen wir genauso -, dass Regelungen in erster Linie darüber und nicht über das „Schlechtwettergeld“ geschaffen werden. Aber in diesem Fall müssen wir diesen Gesetzentwurf noch ein bisschen nachbessern. Wir müssen dann natürlich sehr viel mehr für eine bessere Insolvenzsicherung bei Arbeitszeitguthaben tun.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wie sagte Herr Brauksiepe ganz richtig? Kein Gesetz kommt aus dem Ausschuss so heraus, wie es dort hineingegangen ist. Darauf setze ich - auf das Prinzip Hoffnung!

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Steppuhn, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Andreas Steppuhn (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition von CDU/CSU und SPD bringt heute den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung ein. Ziel dieses Zukunftsmodells ist es, einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit und zur Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Bauhaupt- und Bauausbaugewerbe zu leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Bereits in der 14. Legislaturperiode wurde seinerzeit ein Gesetz zur Neuregelung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft auf den Weg gebracht. Diese so genannte Winterbauförderung hat bereits nachweislich einen aktiven Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit geleistet. Aufgrund dieser positiven Erfahrungen soll nun das bislang einzig auf die Bauwirtschaft beschränkte Fördersystem nicht nur weiterentwickelt, sondern auch auf weitere Branchen mit saisonbedingten Arbeitsausfällen ausgeweitet werden. Wir erfüllen damit eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag.

   Der vorliegende Gesetzentwurf ist vom zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Einbeziehung - der Minister hat das schon gesagt - einer so genannten Triparität mit den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes erarbeitet worden und wird auch nach Expertenmeinungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden wird. Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich im Ergebnis ihrer Tarifpolitik auf ein umlagefinanziertes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren.

   Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir davon ausgehen, dass bereits im kommenden Winter die Winterarbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft spürbar gesenkt werden kann.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU))

Dieses beschriebene Zukunftsmodell soll auch auf weitere Branchen, in denen saisonbedingte Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten bislang gang und gäbe war, ausgeweitet werden. Konkret haben wir beispielsweise das Maler- und Lackiererhandwerk, die Baustoffindustrie, die Land- und Forstwirtschaft, aber auch kleinere Bereiche wie das Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk im Blick.

   Die Einbeziehung von weiteren Branchen ist denkbar und kann im Wege von Rechtsverordnungen erfolgen; das ist gesagt worden. Voraussetzung ist aber, dass es allgemein verbindliche Tarifverträge gibt, auf die sich die Tarifvertragsparteien verständigen.

(Jörg Rohde (FDP): Das steht nicht im Gesetz!)

- Voraussetzung ist - ich sage das noch einmal -, dass die Tarifvertragsparteien einen entsprechenden Tarifvertrag vereinbaren. Alles andere macht keinen Sinn. Von daher sind wir da sehr nahe beieinander.

   Die künftige Förderung wird in das System des Kurzarbeitergeldes integriert. Das bedeutet: Das neu eingeführte Saison- und Kurzarbeitergeld wird nunmehr bei einem saisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Anspruch auf Entgeltersatz haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den Wintermonaten von Dezember bis März. Die Bundesagentur - das ist bereits genannt worden - zahlt aus Beitragsmitteln 60 Prozent bzw., bei mindestens einem Kind, 67 Prozent der pauschalierten Nettogeldeinbußen. Hinzu kommt, dass Arbeitgeber von der Pflicht zur Entgeltfortzahlung erheblich entlastet werden. Kündigungen im Winter werden sich zukünftig nicht mehr lohnen. Den Mehrausgaben der Bundesagentur für das neu eingeführte Saison- und Kurzarbeitergeld wiederum stehen Einsparungen bei den Ausgaben für das Arbeitslosengeld gegenüber.

   Wichtig ist auch, zu betonen, dass durch den Fortbestand der Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitsagenturen durch entfallende Arbeitslosmeldungen und entfallende Bearbeitung von Leistungsanträgen in erheblichem Maße entlastet werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Darüber hinaus entsteht der positive Effekt - ich halte dies auch für sozial gerecht -, dass Bauarbeitnehmer trotz einer regelmäßigen Beschäftigung in zwei aufeinander folgenden Jahren nicht mehr wie bisher unter eine jährliche Beschäftigungszeit von acht Monaten kommen und somit nicht mehr Gefahr laufen, irgendwann ins Arbeitslosengeld II mit allen damit verbundenen Konsequenzen abzurutschen. Denn sie gehen doch fast das ganze Jahr über einer regelmäßigen Tätigkeit nach.

(Beifall des Abg. Klaus Brandner (SPD))

   Lassen Sie mich als jemand, der selbst den Beruf des Betonbauers erlernt und zehn Jahre seines Berufslebens auf Baustellen verbracht hat, eine persönliche Anmerkung machen. In dieser Zeit gab es - die Älteren unter Ihnen wissen das noch - eine so genannte Schlechtwettergeldregelung, die schon angesprochen wurde. Diese Regelung wurde seinerzeit vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl - insbesondere auch auf Drängen der FDP in diesem Hause - abgeschafft. Es war eine Zeit, in der ich selber nie im Winter arbeitslos geworden bin. In der heutigen Situation hat jedoch ein Großteil der Bauleute Erfahrungen mit der Winterarbeitslosigkeit gemacht. Dies soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wieder anders werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich danke insbesondere den Tarifvertragsparteien - der IG Bauen-Agrar-Umwelt, dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, aber auch dem Bundesarbeitsminister, Franz Müntefering -, dass es gelungen ist, heute dieses zukunftsträchtige Gesetz auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Tarifvertragsparteien im Baugewerbe haben bereits die notwendige tarifpolitische Flankierung des Gesetzes vorgenommen. Wir wollen jetzt, dass eine schnellstmögliche Umsetzung erfolgt, wie es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Ich bitte Sie daher um die Überweisung des Gesetzentwurfes in den Ausschuss für Arbeit und Soziales. Es geht darum, diesen Gesetzentwurf im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wie auch im Interesse der Unternehmen im weiteren Gesetzgebungsverfahren möglichst zügig zu beraten.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege Steppuhn, auch Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich wünsche Ihnen im Namen des ganzen Hauses persönlich und politisch alles Gute.

(Beifall)

   Bevor ich dem Kollegen Peter Rauen das Wort erteile, gratuliere ich Ihnen, Herr Kollege Rauen, recht herzlich zu Ihrem heutigen Geburtstag und wünschen Ihnen Gesundheit und Glück.

(Beifall)

   Sie haben das Wort.

(Ludwig Stiegler (SPD): Aber jetzt festlich und feierlich!)

Peter Rauen (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für den Glückwunsch zu meinem 61. Geburtstag. Das Thema der ganzjährigen Beschäftigung am Bau, das wir heute beraten, ist so alt wie mein Berufsleben. Ich erinnere mich daran, dass ich vor fast genau 40 Jahren mein Ingenieurexamen gemacht und das Bauunternehmen meines Vaters übernommen habe.

   Das Schlechtwettergeld gab es seit 1970. Zuvor sind die Leute im Winter stempeln gegangen, wie es damals genannt wurde. Das hörte mit der Einführung der Schlechtwettergeldregelung auf. Aber seitdem hat sich im Baugewerbe folgende Situation ergeben: In den Monaten Dezember, Januar, Februar und März werden rund 280 000 Personen arbeitslos. Das ist die doppelte Anzahl derer, die im normalen Jahresschnitt arbeitslos werden. Diese Arbeitslosigkeit entsteht also witterungsbedingt. Das hängt auch zum Teil mit den Auftragsbedingungen zusammen, weil die Auftragslage in der Baubranche im Winter schlechter ist als sonst. Insofern gibt es allen Grund, zu überlegen, wie ganzjährige Beschäftigung in solchen witterungsabhängigen Branchen erreicht werden kann.

   Ich kann Sie beruhigen, Frau Pothmer: Das Gesetz ist nicht nur für Männer gedacht. Es richtet sich im Kern an alle, die in Branchen arbeiten, in denen diese Problematik saisonbedingt im Winter auftritt. Es ist wichtig, dies festzuhalten.

   Herr Rohde, Ihre Sorge, dass der Minister diese Regelung durch eine Rechtsverordnung auf andere Branchen ausdehnen könnte, teile ich insofern nicht, als die Tarifpartner erst einmal einen Tarifvertrag abschließen und gemeinsame Kassen einführen müssen. Erst dann kann die Regelung auf diese Branchen ausgedehnt werden. Auch das muss berücksichtigt werden. Denn nach derzeitigem Stand kann die Regelung in der Baubranche nur hinsichtlich der seit Anfang der 70er Jahre bestehenden gemeinsamen Kasse der Tarifpartner angewandt werden.

(Klaus Brandner (SPD): Ein bisschen Sachaufklärung tut gut!)

- Ja, das gehört dazu. Denn ich bin dafür, dass wir das Thema ganz entspannt angehen.

Oberstes Ziel der Regierung ist es, mehr Arbeitsplätze, vor allen Dingen mehr ordentliche Beschäftigungsverhältnisse, also mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, zu schaffen; denn sonst sind alle anderen Probleme nicht zu lösen. Die Saisonarbeitslosigkeit muss daher beseitigt werden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rohde?

Peter Rauen (CDU/CSU):

Ja, gerne.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Rohde, bitte.

Jörg Rohde (FDP):

Kollege Rauen, was uns misstrauisch macht, ist, dass auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien kein Umlageverfahren in Gang setzen, Zahlungen an die Bundesagentur für Arbeit geleistet werden können. Ich kann mir vorstellen, dass es dann zu einem Henne-und-Ei-Problem kommt. Erst kommt die Verordnung und dann sagen die Gewerkschaften: Liebe Tarifvertragsparteien, setzt doch jetzt, wo es möglich ist, ein Umlageverfahren in Gang. - Wir sehen die Gefahr und betrachten das deswegen sehr kritisch. Stimmen Sie mir darin zu?

Peter Rauen (CDU/CSU):

Herr Rohde, darüber müssen wir im Gesetzgebungsverfahren sprechen. Ich habe aber den Eindruck, dass unser Arbeitsminister niemanden über den Tisch ziehen will und dass man das, was er sagt, so nehmen kann, wie er es gemeint hat, nämlich dass erst die Tarifvertragsparteien entscheiden müssen, bevor die Regelung betreffend die Winterbauförderung in Kraft gesetzt wird. Wir sollten hier kein Misstrauen aussprechen. Das ist ein sehr praxisbezogenes Thema.

(Jörg Rohde (FDP): Ich glaube den Worten, lese aber den Text!)

   Über den vorliegenden Gesetzentwurf kann man nur seriös beraten, wenn man in die Details geht und sich die Praxis in der Vergangenheit genau anschaut. Es gibt in diesem Zusammenhang einen Punkt, den ich ansprechen möchte. Als 1996 das Schlechtwettergeld wegfiel - übrigens auch auf Druck anderer Branchen, die gefragt haben, warum das Baugewerbe privilegiert ist; das sollte man wissen -, mussten die Arbeitnehmer zunächst 50 Stunden einbringen, bevor ihnen aus der Umlage der Schlechtwettergeldausfall bis zur 130. Stunde bezahlt wurde. Erst dann hat das Arbeitsamt gezahlt. Das wurde im Juni 1999 geändert. Seitdem müssen die Arbeitnehmer 30 Stunden einbringen. Von der 31. bis zur 100. Stunde wird aus der Umlage gezahlt. Ab der 101. Stunde zahlt dann das Arbeitsamt und die Arbeitgeber zahlen die Sozialbeiträge. Das führt aber dazu, dass viele Unternehmer - weil ihnen, wie vom Minister dargelegt, die Sozialbeiträge zu hoch sind - ihre Arbeitnehmer von der ersten Stunde an als arbeitslos melden. Nun ist eine entscheidende gesetzliche Verbesserung vorgesehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Minister, 1996 haben jedoch viele Firmen in der Baubranche - darüber sollten wir ganz ruhig reden - zum ersten Mal flexible Jahresarbeitszeitkonten eingeführt; das hat auch funktioniert. Diese Firmen hatten mit dem aus der Umlage finanzierten Wintergeld nichts mehr zu tun. Sie haben zwar noch in die Kasse der Tarifpartner gezahlt, haben aber das Instrument nicht mehr genutzt. All diese Firmen existieren noch. Wenn nun per Gesetz den Arbeitnehmern ermöglicht wird, sich von der ersten Stunde an Kurzarbeitergeld auszahlen zu lassen - es ist also nicht mehr notwendig, flexible Stunden einzubringen -, dann muss ich mich nur in die Lage eines Maurers versetzen - diesen Beruf habe ich erlernt -, um zu wissen, wie ich reagieren würde. Wenn man einerseits den Anreiz des Zuschusswintergelds in Höhe von bis zu 2,50 Euro je ausgefallener Arbeitsstunde hat, sein flexibles Arbeitszeitkonto zu verrechnen, andererseits bei Nichtverrechnung die Möglichkeit hat, sich im Sommer die Stunden auszahlen zu lassen und im Winter von der ersten Stunde an Kurzarbeitergeld zu bekommen - das sind etwa 7 bis 8 Euro je Stunde -, dann ist die Entscheidung klar. Dann wird die Flexibilität, die sich in der Baubranche zum Segen der Sozialkassen und der Umlagenhöhe durchgesetzt hat, kaputtgemacht. Darüber müssen wir in aller Ruhe reden; denn das darf nicht das Ziel sein.

   Das Gesetz ist in seiner Zielsetzung völlig richtig. Ich habe diesbezüglich auch keine Sorgen. Aber wir müssen aufpassen, dass wir bei der Kostenneutralität nicht in eine Falle laufen; denn das Verhalten der Menschen wird nach Inkraftsetzung der Neuregelung ganz anders sein als zuvor. Das müssen wir sehr exakt beobachten. Ich schlage daher vor, an der bisherigen Regelung festzuhalten, wonach der einzelne Arbeitnehmer einen Teil seiner flexiblen Stunden einbringen muss, bevor er Kurzarbeitergeld erhält. Wichtig ist, dass in Zukunft bei der Verrechnung mit flexiblen Stunden 2,50 Euro je ausgefallene Arbeitsstunde gezahlt werden; denn dadurch entsteht ein neuer Anreiz zur Flexibilisierung.

   Der Teufel steckt also im Detail. Wir sollten in aller Ruhe, Gelassenheit und Sachlichkeit darüber reden. Alle Fraktionen haben Gesprächsbereitschaft signalisiert. Letztendlich müssen wir erreichen, dass ein Teil der Menschen, die bislang im Winter aus saisonalen Gründen arbeitslos werden, in Zukunft in Arbeit sind und Beiträge zahlen und dass es so zu einem Aufschwung in Deutschland kommt.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/429 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss für Tourismus sowie an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 14. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 27. Januar 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/16014
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