Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, anl. der Sonderveranstaltung mit dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac am 27. Juni 2000 im Plenum des Deutschen Bundestages
"Im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie, Herr Staatspräsident Chirac, heute hier im Reichstagsgebäude sehr herzlich. Es ist für den Deutschen Bundestag eine besondere Ehre, dass Sie heute zu uns sprechen werden und damit zum zweiten Mal - nach Staatspräsident Mitterand im Jahre 1983 - ein französischer Staatspräsident das Wort an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages richtet.
Wir wissen gemeinsam um die tragischen Seiten der Geschichte
unserer beiden Völker, die lange andauernde Rivalität und
Feindschaft, die im 19. Und noch im 20. Jahrhundert kriegerisch
ausgetragen wurde. Wir Deutschen wissen dabei um unsere
Schuld.
Die Geschichte des deutsch-französischen Verhältnisses
hat sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum
Guten gewendet. Vor diesem Hintergrund ist es wahrlich nicht
selbstverständlich, dass wir jetzt im Jahr 2000 fünf
Jahrzehnte eines stabilen freundschaftlichen Verhältnisses
hinter uns haben. Und ich spreche für alle hier im Saal, wenn
ich mir wünsche, dass unsere Freundschaft und enge
Partnerschaft dauerhaft sein möge. Diesen vom ganzen Deutschen
Bundestag getragenen Wunsch wollten wir zum Ausdruck bringen, als
wir Sie, Herr Präsident, zu dieser Rede eingeladen haben. Sie
werden es zu schätzen wissen, denn dieses Hohe Haus macht nur
äußerst selten von der Möglichkeit Gebrauch, ein
ausländisches Staatsoberhaupt im Plenum anzuhören. Dass
Sie das erste Staatsoberhaupt sind, das im Reichstag, der
wiedergewonnenen Heimstadt des deutschen Parlaments, sprechen wird,
diese Tatsache will mir aus doppeltem Grund angemessen erscheinen.
Sie, Herr Präsident, haben sich für die deutsche
Vereinigung wie selbstverständlich eingesetzt. Für uns
gewinnt Ihre heutige Rede ihre Bedeutung aus einer unbestreitbaren,
aber auch gewichtigen Tatsache:
Deutschland und Frankreich sind gemeinsam der Motor der
europäischen Integration. Dieses Bild ist in unserer
Öffentlichkeit bei Deutschen wie Franzosen fest verankert. Und
es ist ein zutreffendes Bild.
Gewiss: Unsere beiden Staaten haben nicht das alleinige Verdienst am Erfolg der Europäischen Union. Aber schon Konrad Adenauer und Charles de Gaulle haben die Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit und der deutsch-französischen Freundschaft von Anfang an in den Dienst der europäischen Integration gestellt und dies in der gemeinsamen Erklärung des Elyséevertrages von 1963 festgelegt. Alle ihre Amtsnachfolger haben dies bestätigt, nicht nur mit Worten, sondern tatkräftig und wirkungsvoll.
Vor 10 Jahren beendeten die Völker Osteuropas und die Menschen in der DDR die Teilung Europas in zwei gegnerische Blöcke. Parallel dazu fielen auch die Würfel für die Europäische Währungsunion. Die erste demokratisch gewählte Regierung der DDR schrieb in ihr Programm, dass die deutsche Einheit die europäische Integration befördern solle.
10 Jahre später stehen wir nun vor der Herausforderung einer enormen Erweiterung der Europäischen Union, und wir wissen alle, dass diese Erweiterung nur ein Erfolg werden kann, wenn ihr institutionelle Reformen vorausgehen und wenn die Beitrittskandidaten tatsächlich alle Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen.
In diesem Moment steht Europa im Zentrum öffentlicher Debatten und schwieriger Entscheidungen. Wir wünschen Frankreich für seine bevorstehende Ratspräsidentschaft deshalb nicht nur die Weisheit und die glückliche Hand der ‚grande nation'. Sondern wir wissen auch, dass wir erneut für den Realitätsgehalt des Bildes von Deutschland und Frankreich als Motor der Europäischen Einigung den Beweis antreten müssen. Der Deutsche Bundestag wird seinen Beitrag dazu leisten.
Die deutsch-französische Freundschaft ist also auch jetzt nicht nur ein Zweck und ein Glück an sich, vielmehr birgt sie heute die Chance für ein größer werdendes, vereinigtes Europa.
Europa hat die ökonomische, die wissenschaftliche und
technologische Kompetenz, um im globalen Wettbewerb einen
Spitzenplatz einzunehmen. Europa hat zudem seit der
französischen Revolution eine freiheitliche Tradition, die
sich viele Völker zum Vorbild nehmen.
Mit diesen Pfunden können wir wuchern, wenn wir unsere
Kräfte fester bündeln. Nicht zuletzt zum Nutzen der
Freiheit, des Wohlstands und der Sicherheit der europäischen
Völker selbst.
Wir dürfen aber zugleich niemals aus dem Auge verlieren, dass die Europäerinnen und Europäer, darunter auch viele Franzosen und Deutsche, immer wieder aufs Neue von den Vorteilen der Europäischen Integration und der Erweiterung der Union überzeugt werden wollen.
Für die jungen Demokratien Osteuropas ist es vielleicht sogar mehr noch als für die traditionsreiche französische Demokratie von Bedeutung, wie sich die Institutionen der Europäischen Union bürgerschaftlicher Kritik und Kontrolle stellen, wie es um die Mitsprache und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten bestellt ist.
Die möglichen Antworten auf diese Fragen beschränken sich nicht allein auf das Europäische Parlament, dessen Arbeit und Zuständigkeit natürlich ganz wesentlich ist. Sie liegen auch in der Perspektive eines Begriffs und einer Zielvorstellung, die die Verträge von Maastricht und von Amsterdam umreißen. Ich spreche hier vom Grundsatz der Subsidiarität.
Die Europäische Integration wird den Bürgerinnen und
Bürgern nicht ihre Einflussmöglichkeiten nehmen, aber sie
könnte Gefahr laufen, sie auf eine sehr hohe, sehr abstrakte
Ebene zu verlagern. Dem soll das Subsidiaritätsprinzip
entgegenwirken. Im freiheitlichen, demokratischen Staat wird
sinnvollerweise gefragt, was die Zivilgesellschaft selbst regeln
kann und was staatlicher Regulierung überantwortet werden
muss. Diese Debatte ist nie wirklich beendet und wird immer wieder
neu geführt.
Auf die Union übertragen bedeutet das, immer wieder zu fragen,
welche Probleme wirklich und unbedingt auf europäischer Ebene
geregelt werden müssen und welche vielleicht doch viel
effizienter, viel bürgernaher, noch demokratischer und
transparenter auf nationalstaatlicher Ebene und in den
Gebietskörperschaften zu regeln sind, die sich die
europäischen Nationalstaaten geschaffen haben oder aus denen
sie, wie die Bundesrepublik, gebildet worden sind.
Es kommt darauf an, ob wir uns zuerst fragen, was wir selbst lösen können oder ob wir nur fragen, welche Politik als nächstes nach Brüssel delegiert werden kann.
An der Erarbeitung einer europäischen Verfassung, die nicht nur die individuellen und politischen Freiheitsrechte der Bürger schützt, sondern die sich zugleich am Prinzip der Subsidiarität orientiert, müssen alle mitwirken, ganz gleich, ob sie in der Tradition zentralistischer Nationalstaaten oder föderalistischer Bundesstaaten leben.
In diesem Sinne braucht Europa eine Intensivierung der Debatte darüber, wie die Subsidiarität praktiziert, wie sie organisiert und wie sie verankert werden soll. Diese Debatte darf nicht alleine eine der politischen Klasse bleiben, vielmehr muss sie unsere gesellschaftliche Öffentlichkeit einbeziehen. Und sie muss auf die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit zielen.
Die Außenminister Deutschlands und Frankreichs haben in einem beginnenden intensiven Dialog einen neuen Anfang für eine solche Diskussion über den Tag hinaus gesetzt. Damit wird erneut unterstrichen, dass unsere Länder darum bemüht sind, gemeinsam der Motor der Europäischen Integration zu bleiben.
Und es ist dieser Geist der offenen, der inspirierenden Debatte, die andere einlädt und einbezieht, der unser Verhältnis und unsere gemeinsame Rolle in Europa bestimmt. In diesem Sinne, Herr Staatspräsident Chirac, freuen wir uns, Ihr Gastgeber sein zu können, und freuen wir uns auf Ihre Rede."