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13.12.2000
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"Aus der Mitte der Gesellschaft"

TRIBÜNE-Gespräch mit
Wolfgang Thierse, Präsident des Deutschen Bundestages

TRIBÜNE: Anschläge auf Juden, Morddrohungen gegen Gemeindemitglieder, fast täglich Anschläge auf Synagogen, Schändungen von Friedhöfen und Mahnmalen. Dass sich ältere deutsche Juden an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert fühlen, dass überhaupt wieder eine Debatte über 'Bleiben oder Gehen' unter Juden in Deutschland geführt wird, wäre noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen.

THIERSE: Das ist wohl so. Diesem Eindruck kann man nicht widersprechen. Die Frage ist, ob wir hier eine gegenwärtige Situation überbewerten, oder ob wir in der Vergangenheit vorhandene Ausländerfeindlichkeit, vorhandenen Antisemitismus unterschätzt haben, ob er weniger bemerkbar war. Und mir scheint es wirklich so zu sein, dass Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit frecher geworden ist, um es fast zu freundlich auszudrücken, selbstbewusster geworden, aggressiver, die Hemmungen sind geringer geworden, das Tabu, das einmal wirksam war in Deutschland, hat beträchtlich an Kraft verloren. Die Schamschwellen sind offensichtlich deutlich gesunken. Alles beunruhigende Anzeichen für eine Veränderung der politisch-moralischen Situation in Deutschland.

TRIBÜNE: Die Mitglieder des Parlaments scheinen vom Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland überrascht zu sein. Dabei machen empirische Untersuchungen seit Jahren deutlich, dass antijüdisches Potenzial in den alten Bundesländern bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung zu finden ist und in den neuen Bundesländern stetig auf das jetzige Westniveau gestiegen ist. Anscheinend haben dies die Parlamentarier nicht wahrgenommen.

THIERSE: Wenn Sie das so sagen, dann dürfte das ja für die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland genauso gelten, dass sie das ebenso nicht wahrgenommen haben. Die Zahlen waren ja bekannt. Aber das öffentliche und offensive Erscheinen des Antisemitismus, das ist neu. Dass es in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern einen Bodensatz von Antisemitismus gibt, dass es eine beträchtliche Fremdenfeindlichkeit gibt, dass die Unfähigkeit zunimmt, mit Differenzen, mit Unterschieden sozialer, kultureller, religiöser Art umzugehen, das ist offensichtlich. Bei der Frage nach den Ursachen stößt man zunächst auf allgemeine Ursachen. Ich nenne sie Überforderungsängste und das Vereinfachungsbedürfnis von Menschen. Daneben gibt es konkrete Ursachen: Die Dramatik der Umwälzung, das schlechte Erbe aus SED-Zeiten, das nachwirkt. Denn zu DDR-Zeiten hat es auch Antisemitismus, auch Ausländerfeindlichkeit, auch Rassismus gegeben. Sie sind immer unter den Teppich gekehrt worden, sie konnten überhaupt nie Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung und damit der politischen Bearbeitung werden. Das Tabu, das die DDR ohne Zweifel errichtet hatte, ein offizieller, von oben angeordneter Antifaschismus, hat offensichtlich nur auf der Oberfläche gewirkt und im Untergrund das genaue Gegenteil dessen erzeugt, was beabsichtigt war. Und die Wirkungen sind jetzt zu verzeichnen. Aber, wie gesagt, wir müssen ausführlicher über die Ursachen dieses frecheren Antisemitismus, dieser aggressiveren Ausländerfeindlichkeit reden.

TRIBÜNE: Sie sehen verschiedene Ursachen für den Antisemitismus in den alten und neüen Bundesländern.

THIERSE: Beginnen wir bei der Oberfläche: Rechtsextremismus konnte in der alten Bundesrepublik immer betrachtet werden als ein isolierbares, begrenzbares parteipolitisches Problem. Die NPD und andere rechtsextreme Parteien sind gewählt worden, kamen mal in ein Landesparlament, verschwanden wieder daraus. Man konnte denken, das ist der Rechtsextremismus, das sind die älteren Aktivisten, die alten Herren, die natürlich auch eine jüngere Anhängerschaft rekrutieren konnten. Man konnte glauben, da versammelt sich der Unmut der Fortschrittsverlierer. Das war die Erfahrung in der alten Bundesrepublik: Ein isolierbares Phänomen, das diese Gesellschaft nicht bedrohte. Jetzt begreifen wir, dass der Rechtsextremismus nicht nur am Rand der Gesellschaft angesiedelt ist, nicht isolierbar ist, sondern dass ausländerfeindliche Einstellungen, Intoleranz, zunehmende Gewaltbereitschaft bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, dass sie in bestimmter Weise ein "kulturelles Gesicht" haben: Man denke an die Skinheadszene und ihre Musik, die ein wichtiges Kommunikationsmedium der Rechtsextremen und ihrer Ideologie geworden ist. Junge Leute finden auf der rechtsextremen Seite Formen der Beheimatung, emotionale Heimatorte und emotionale Bindungen. Der Rechtsextremismus ist nun viel weniger parteipolitisch isolierbar, sondern in einem sehr diffusen Sinne ein alltagskulturelles Phänomen geworden. Das macht es schwieriger, ihn zu bekämpfen, und das macht ihn langfristig gefährlicher als den Rechtsextremismus der alten und schlechten Nazi-Tradition. Wir sind also in einer veränderten Situation und müssen erhebliche Anstrengungen unternehmen, um junge Leute vor dem Bazillus der rechtsextremen und rassistischen Ideologie zu schützen. Wir müssen um die Köpfe und Herzen der ganz normalen und durchschnittlichen Menschen kämpfen, weniger um die, die zum harten Kern der rechten Szene gehören.

TRIBÜNE: Sind in den alten und neuen Bundesländern unterschiedliche Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nötig?

THIERSE: Man muss sehen, dass zum ostdeutschen Problem auch die Vorgeschichte gehört. Ich habe schon daran erinnert, dass es Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremes Denken auch schon zu DDR-Zeiten gegeben hat. Das ist ein schlechtes Erbe, das wir mit uns schleppen. Zu dieser problematischen Erbschaft aus SED-Zeiten gehört auch eine grundlegend autoritäre Einstellung. Der Antifaschismus war von oben verordnet, also rebellierten "die da unten" gegen den Antifaschismus durch Tabu-Verletzung, durch das Schmieren von Hakenkreuzen auf jüdische Grabsteine, durch Beschädigung von jüdischen Friedhöfen. Ich weiß das sehr genau, weil ich am zweitältesten jüdischen Friedhof Berlins wohne, und schon in den achtziger Jahren immer mal Polizei in zivil zu uns kam und fragte, "Herr Thierse, haben Sie irgend etwas gehört?" Auf diese Weise bekam ich mit, was passierte, ich ging dann auch immer hin, um mir das anzusehen. Aber die Zeitungen verschwiegen das. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Das hat diese Gesellschaft unfähig gemacht, auf diesen Bazillus wirklich offensiv und offen zu reagieren. Aber zurück zu dem Thema autoritäre Erbschaft. Wenn Menschen eingesperrt sind und ihr Leben gewissermaßen nach den Anordnungen und den Anweisungen von oben zu organisieren haben, dann werden sie nicht selbstbewusst, dann werden sie nicht konfliktfähig, dann lernen sie nicht mit Differenzen, mit Konflikten umzugehen. Dann reagieren sie in einer neuen, offenen Situation immer mit Angst, und das heißt auch mit Abwehr. Und damit komme ich zum nächsten Punkt: Zu dieser Erbschaft aus DDR-Zeiten gehört auch eine durchaus janusköpfige Vorstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Gleichheit und Gerechtigkeit sind offensichtlich menschliche Urbedürfnisse und insofern niemals zu denunzieren, im Gegenteil, das ist sympathisch. Aber es zeigt sich jetzt die Rückseite dieser in der DDR geprägten Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellung, und das ist Konformitätszwang, die Unfähigkeit und der Unwillen, Unterschiede hinzunehmen. Die DDR war in bestimmter Weise eine sozial viel homogenere, eine kulturell einförmigere Gesellschaft, als es die bundesdeutsche ist, auch religiös indifferenter, und, jetzt werde ich das mal verwenden, auch "ethnisch" einfacher. Es gab nicht das Gemisch von Völkern, Kulturen, Interessen, Meinungen, mit denen man im Westen inzwischen zu leben gelernt hatte. Und plötzlich müssen auch die Ostdeutschen, die überhaupt nicht vorbereitet sind, in die eine Gleichheitsvorstellung eingeprägt ist, die ganz dicht bei Konformität ist, damit fertig werden. Die Situation einer tiefen sozialen Verunsicherung und Beängstigung durch die dramatischen ökonomisch-sozialen Umwälzungen kommt noch erschwerend hinzu. Wenn ich das so beschreibe, will ich nichts rechtfertigen, sondern nur erklären, worin die Schwierigkeit der Aufgabe besteht. In Ostdeutschland muss man die ideologisch-moralische Erbschaft aus DDR-Zeiten bearbeiten, muss Menschen befähigen, mit dem dramatischen ökonomisch-sozialen, aber auch ideell-moralischen Umbruch fertig zu werden. Man muss ihnen immer wieder neue Lernmöglichkeiten anbieten: Politische Bildung, Fragen der politischen und moralischen Erziehung und Fragen der Jugendarbeit sind von einem außerordentlichen Rang. Das sind die schwierigen, langwierigen Aufgaben der Bearbeitung der Ursachen von Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus.

TRIBÜNE: Eltern und Lehrer scheinen mit der Erziehung zu Demokratie und Toleranz überfordert zu sein. Das erhebliche Informationsdefizit Jugendlicher über die Schoah ist dafür der beste Beweis. Ist die Erziehung gescheitert?

THIERSE: Ich will nicht sagen "gescheitert", das ist ein so hartes Urteil. Zunächst muss man sagen, Eltern und Schule bleiben die Verantwortlichen für die Erziehung. Das kann ihnen niemand anders abnehmen. Wollen wir etwa die Erziehung der jungen Leute aufs Fernsehen übertragen? Das wäre der absolute Bankrott jedes wirklichen, auf ein ernsthaftes Ziel gerichteten Erziehungswillens. Nein, wir müssen sehen, dass Eltern vielfach tatsächlich überfordert sind, Eltern, die arbeitslos sind, die eine ständige, geradezu dramatische Angst vor der Arbeitslosigkeit haben, Eltern, die schlicht ums soziale Überleben kämpfen. Die haben weder Zeit noch Nerven, noch den Willen und die Kraft, Erziehungsprozesse zu gestalten, die unweigerlich konfliktreich sind. Eine Schule, die zu versinken droht in der Fülle des Wissens, das sie zu vermitteln hat, und die in den vergangenen Jahren, wie ich mit großem Bedauern sehe, immer mehr vergessen hat, dass sie nicht nur eine Institution von Bildungs- und von Wissensvermittlung ist, sondern ganz wesentlich auch von Erziehung, - die wird mit dieser Aufgabe nicht zurande kommen. Lehrer, die um des lieben Friedens willen oder weil sie zermürbt sind von den Auseinandersetzungen, bestreiten, dass es bei ihnen rechtsextreme Jugendliche gibt und dass ihre Jugendlichen ausländerfeindliche Einstellungen wie selbstverständlich haben, - all das sind keine guten Voraussetzungen. Es kommt ein zweites, grundlegendes ,Problem hinzu: Man wird ja der deutschen Gesellschaft, den deutschen ,Bildungsinstitutionen nicht ernsthaft den Vorwurf machen können, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten nicht in allem Ernst den Versuch gemacht haben, Holocaust-Erziehung zu betreiben, Wissen über den Nationalsozialismus, über den Antisemitismus der Nationalsozialisten, seine Opfer und Ursachen zu vermitteln. Man muss nur sehen, dass die Art und Weise dieser Erziehung, die Instrumentarien und die Medien, die benutzt wurden, offensichtlich weniger wirksam sind, als wir gedacht haben. Wenn die Umfrage-Ergebnisse stimmen, dass ein so beträchtlicher Prozentsatz der jungen Leute mit Begriffen wie "Auschwitz" und "Holocaust" nicht wirklich etwas anfangen kann, dann muss neu darüber nachgedacht werden. Vor allem angesichts des Generationenwechsels, denn für die jetzige junge Generation ist offensichtlich die Nazizeit mit ihren Verbrechen so weit weg wie für unsereinen die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege. Die bisherigen Generationen waren entweder Betroffene, als Opfer oder als Täter, oder Mitläufer, oder wuchs wie die nachfolgende, mittlere Generation - meine Generation - mit der Erinnerung daran von Kindesbeinen auf. Denn obwohl wir selber die Nazizeit nicht miterlebt haben, ist sie ein Teil unserer Biographie geworden. Von Kindesbeinen war das ein Thema für mich, zu Hause, in der Schule, in der Gemeinschaft mit anderen. Jetzt kommt eine Generation, für die das viel weiter weg ist, was ich ihr nicht vorwerfen kann. Das heißt aber, wir müssen über die Instrumente, über die Formen und die Medien von Holocaust-Erziehung neu nachdenken, damit das Wissen, das wir verbreiten, nicht bloß abstrakt bleibt, sondern damit es Empathie auslöst, damit es einen Sitz im Leben heute hat. Und da brauchen wir gemeinschaftliche Anstrengungen. Denn das ist nicht nur ein deutsches Problem: Ich habe in Jerusalem in der Gedenkstätte Yad Washem mit dortigen Wissenschaftlern gesprochen, unsere israelischen Kollegen sind daran sehr interessiert. Und auch in anderen europäischen Ländern gibt es das gleiche Problem, wie man angesichts eines Generationswechsels geschichtliches Wissen so vermittelt, dass es zu einer emotionalen wie moralischen Verpflichtung in der Gegenwart werden kann.

TRIBÜNE: Spielen die Gedenkstätten eine Rolle?

THIERSE: Die Gedenkstätten spielen eine große Rolle. Aber wir müssen natürlich schlicht auch über Pädagogik reden, über Methoden des historischen Wissens in einem besonders exemplarischen Fall. Dass ich etwas über die französische Revolution weiß oder über die napoleonischen Kriege, ist das eine, daraus folgert für mich heute nichts. Aber ich weiß etwas anderes, wenn ich von dem Nationalsozialismus und von dem Antisemitismus, von seinen Opfern und seinen Tätern etwas weiß. Das muss ein anderes Wissen sein, weil daraus etwas für die Gegenwart folgen muss. Es muss eine andere Art von Wissensvermittlung stattfinden. Deshalb heißt es ja auch richtigerweise Holocaust-Erziehung. Wir müssen Konsequenzen aus dem Umstand ziehen, dass die bisherigen Formen der Wissensvermittlung offensichtlich nicht die Ergebnisse gezeitigt haben, die wir uns wünschen, und ebenso aus der Tatsache, dass Antisemitismus und Rassismus in Deutschland wieder zunehmen. Gerade bei jungen Leuten ist Ausländerfeindlichkeit ein selbstverständlicher Teil ihres Bewusstseins geworden - natürlich nicht bei der Mehrheit, aber bei einer gefährlichen, zu großen Minderheit. Aus diesen doppelten Beobachtungen müssen wir Konsequenzen ziehen.

TRIBÜNE: Viele gewaltbereite Jugendliche in der rechten Szene sind nicht in politischen Parteien organisiert. Das Verbot der NPD oder von Gruppierungen mit rechtsextremen Gedankengut wie z.B. "Blood & Honour" würde sie in ihrer politischen Substanz nicht berühren, sie aber in den Untergrund drängen. Hier sind zur Bekämpfung andere Mittel notwendig. Das Modell der "akzeptierenden Jugendarbeit" hat wohl versagt.

THIERSE: Jetzt haben Sie zwei sehr verschiedene Themen angesprochen. Zunächst einmal: Keiner sagt, dass ein NPD-Verbot die Lösung des Problems schlechthin ist. Aber das ist ja noch kein Argument, ein NPD-Verbot nicht ernsthaft zu prüfen. Nämlich aus einem doppelten Grund: Erstens, diese Gesellschaft sollte wieder ein politisch-moralisches Tabu aufrichten, eine Grenze ziehen. In der Selbstverteidigung einer demokratischen Gesellschaft muss deutlich werden, dass sie die nicht unbehelligt agieren läßt, die diese demokratische Gesellschaft zerschlagen wollen. Und zweitens, ganz trivial, geht es darum, ob wir zulassen, dass eine Partei unter dem Schutz des Parteien-Privilegs, und übrigens auch mit Geldern der staatlichen Parteien-Finanzierung, das organisatorische Fundament für verfassungsfeindliche, das heißt also menschenfeindliche Aktivitäten und Ideologie darstellt. Deswegen bin ich dafür, dass dieser Verbotsantrag nach ernsthafter Prüfung gestellt wird, wohl wissend, dass es dann, jenseits dieses möglichen Verbots, um den langwierigen und sehr schwierige Kampf um die Köpfe und Herzen von Menschen geht. Denn durch ein Verbot habe ich rechtsextreme Ideologie noch nicht aus den Köpfen entfernt. Und damit bin ich beim zweiten Teil Ihrer Frage: Jugendarbeit. Ich hoffe, das haben Politiker auf den verschiedenen Ebenen begriffen, auch Kommunalpolitiker also, Jugendarbeit ist nicht weniger wichtig, sondern sie wird wichtiger. Wir brauchen sinnvolle Angebote für Freizeitgestaltung von jungen Leuten, sinnvolle Angebote für jugendgemäße Kommunikation und politische Bildung. Das wird nicht ohne etwas mehr Geld gehen, als bisher zur Verfügung gestanden hat. Es geht aber auch nicht ohne neue Motivation. Und: Jugendarbeit muss immer auch ein politisches, demokratisches, moralisches Profil haben. "Laissez-Faire", "um des lieben Friedens Willen lasse ich alles zu", das ist das Falsche. Insofern ist akzeptierende Jugendarbeit, und diese Schwäche, die sie gerade in Ostdeutschland gezeigt hat, ein Fehler gewesen. Das Konzept als solches hat Grenzziehung, demokratisches Profil und den Widerspruch zeigen gegen demokratiefeindliche Jugendliche immer beinhaltet. Aber das muss man mit gut ausgebildeten Kräften umzusetzen versuchen, die selber stark, voller Selbstbewusstsein und überzeugte Demokraten sind. Sonst wird das Konzept zu einer verheerenden Schwäche, die eben dazu führte, dass die rechten Jugendlichen die Jugendclubs in Ostdeutschland besetzt und dominiert haben.

TRIBÜNE: Nochmal zurück zu einem möglichen Verbot der NPD: Da gibt es ja einen Konsens über Parteigrenzen hinweg: Die Bundesregierung will alle Verfassungsorgane gemeinsam zu einem Verbotsantrag bewegen. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann es aber ein Jahr, wahrscheinlich sogar länger dauern: Zeit genug für eine öffentliche Debatte, in der die NPD auch Popularität gewinnen kann.

THIERSE: Das ist nun mal so. Ein Verbotsantrag ist nach unserem Verfassungsrecht nicht durch den Innenminister zu verkünden. Parteien genießen aus wohlerwogenen Gründen einen erheblichen Schutz in unserer Verfassung. Aber die Diskussion über die NPD, über die Rechtsextremen, wollen wir sie vermeiden? Wollen wir zurückfallen in das, was Sie doch zu recht beklagt haben, in das Beschweigen wirklicher Gefährdungen und Gefahren, in das Hinwegsehen über die Aktivitäten, die unsere Gesellschaft gefährden. Also, die Diskussion können wir nicht vermeiden, die müssen wir wollen, auch wenn sie einen unangenehmen Nebeneffekt hat, die scheinbare oder tatsächliche Aufwertung desjenigen, über den da diskutiert wird. Das ist eben so, wenn man über ein Verbot diskutiert, und das hat ja in diesem Sommer begonnen. Da kann man hinter diese Diskussion nicht ernsthaft zurück. Wenn wir jetzt etwa sagen, "nein, bloß nicht darüber diskutieren, das wertet die rechten Herrschaften ja auf", das ist ja ein grandioser Sieg dieser Herrschaften, dann haben sie ja begriffen, sie können ungestört weitermachen. Nein, die Diskussion muss so geführt werden, das möglichst viele Bürger dieser Gesellschaft motiviert werden, durch Wissen und durch Fähigkeiten instand gesetzt zu werden, sich mit rechtsextremen Denken auseinander zu setzen. Denn die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus kann doch nicht nur Sache "der da oben" in der Politik sein, oder der "Profis" auf diesem Gebiet, also der Polizei und der Justiz. Sondern sie muss Sache der Bürger sein, und das fängt schlicht damit an, dass man nicht schweigend dabei steht, wenn ein ausländerfeindlicher Witz erzählt wird oder wenn antijüdische Vorurteile breitgetreten werden. Da kann jeder widersprechen. Da fängt es an, nicht mehr einfach hinzunehmen - die einen sind heimlich einverstanden, die anderen tun es aus Desinteresse, aus Angst oder aus Resignation. Wir müssen Angst und Resignation überwinden bei der Vielzahl der Bürger in diesem Lande, die nicht ausländerfeindlich sind, und die nicht antisemitisch sind, die aber bisher immer gesagt haben, "sollen doch die da oben machen, das ist nicht meine Sache". Ich hoffe, die Diskussionen dieser letzten Monate haben dazu geführt, dass viel mehr Deutsche begreifen, dass der alltägliche, politisch-moralische Zustand der Gesellschaft auch ihre Sache ist.

TRIBÜNE: Die gemeinsamen Recherchen der "Frankfurter Rundschau" und des "Tagesspiegel" brachten es im September an den Tag: Seit 1990 sind 93 Todesopfer rechtsradikaler Täter in Deutschland zu beklagen, wesentlich mehr, als offizielle Stellen bisher nannten. Ausländer, Farbige, religiöse und soziale Minderheiten werden von rechtsradikalen Tätern seit Jahren angegriffen, gejagt, ermordet. Es scheint aber zumindest so, als seien Politiker erst durch diese Veröffentlichungen aufgeschreckt worden.

THIERSE: Das ist falsch. Diese Veröffentlichungen sind selber ein Ergebnis der intensivierten Diskussionen dieses Sommers. Sie wissen, dass ich mich mit diesem Thema nicht nur akademisch, sondern sehr praktisch viel länger befasse, und seit anderthalb Jahren durchs Land reise, auch dorthin, wo es in besonderer Weise rechtsextreme Schandtaten gegeben hat. Dort besuche ich Schulen, Jugendclubs, Kommunalpolitiker, um diejenigen zu stärken, die sich gegen den alltäglichen Rassismus und Antisemitismus wehren. Und ich habe mich immer darüber geärgert, in einem wirklich unmittelbaren Sinn, dass man dafür nicht sehr viel Aufmerksamkeit erzielt hat, dass auch das journalistische Interesse relativ gering war. Zum Glück gab es immer auch Journalisten, die mit Sensibilität, mit Aufmerksamkeit und Kontinuität darüber berichtet haben und diesen unguten Teil der Gesellschaft untersucht haben. Aber bis zu diesem Sommer hatten wir immer einen ganz einfachen Mechanismus: Den konjunkturellen Umgang mit diesem Thema: Es passiert eine Gewalttat, ein, zwei oder drei Tage wird darüber berichtet, dann ist wieder Ruhe. Dann passiert nichts. Das müssen wir verändern: Es muss ständige Aufmerksamkeit geben, wir müssen die falsche Faszination durch die rechtsextremen Gewalttäter und Gewalttaten überwinden und uns faszinieren lassen durch den normalen, alltäglichen, vielfältigen Anstand vieler Bürger, die demokratisches Engagement zeigen, junge Leute, die sich zusammengetan haben, um sich gegen rechte Dominanz zu wehren. Das gibt es ganz vielfältig in unserer Gesellschaft, und das müssen wir unterstützen, politisch, moralisch, organisatorisch, auch finanziell.

TRIBÜNE: Den "Aufstand der Anständigen" also ...

THIERSE: Ja, das ist eine große Formel, das Wort "Aufstand" ist fast zu dramatisch. Menschen müssen begreifen, dass der politisch-moralische Zustand dieser Gesellschaft auch ihre Angelegenheit ist, und das jeder auf seine Weise, die einen eher bescheiden, die anderen eher in einem größeren Rahmen, etwas tun können. Es fängt damit an, dass man sich gegen ausländerfeindliche Witze wehrt und gegen grassierende antisemitische oder ausländerfeindliche Vorurteile. Es geht dann damit weiter, dass man Gewalt nicht einfach nur tatenlos zusieht. Es ist doch alarmierend, dass Menschen noch nicht einmal zum Telefonhörer greifen, wenn vor ihrem Fenster eine Gewalttat passiert, wenn ein Ausländer verfolgt wird.

TRIBÜNE: Eine Welle öffentlicher Solidarität gab es ja bereits Anfang der neunziger Jahre nach den tödlichen rechtsradikalen Ausschreitungen. Zivilcourage ist gefordert, doch die meisten Menschen sind verunsichert und haben Angst. In sogenannte "national befreite Zonen", Straßen oder Stadtviertel, wo Rechtsradikale das Sagen haben, traut sich kaum noch jemand hin.

THIERSE: Angst überwindet man nicht durch Schulterklopfen oder durch die Aufforderung, "seid mal nicht ängstlich". Und wie jeder normale Mensch habe ich auch Angst vor physischer Gewalt, das ist ja verständlich. Also geht es darum, erstens, Sensibilität und Problembewusstein zu stärken, zweitens, Menschen sichtbar begreiflich zu machen, dass wir die Mehrheit sind, dass keiner Angst haben muss, dass er alleine ist. Die Erfahrung zu machen, dass man in der Straßenbahn, wenn da Glatzköpfe hereinkommen und anfangen, einen Schwarzen anzupöbeln, dass man nicht die Angst haben muss, "wenn ich dazwischen gehe, bleibe ich alleine, weil die anderen auch nichts tun". Sondern dass man die Erfahrung macht, "ich bin nicht alleine, mir wird geholfen durch andere". Drittens geht es darum, Techniken der zivilen Auseinandersetzung zu lernen, auch das muss ja geübt werden: "Wie gehe ich dazwischen, wie kann ich deeskalierend wirken, wie kann ich eine aggressive Stimmung abbauen? Wie kann ich selber sehr verständliche Ängste überwinden? Kann ich sicher sein, dass die Polizei mich unterstützt, dass sie schnell genug da ist". Auch das ist ja wichtig, die Nähe der Polizei, das muss sichtbar werden. Vielfach habe ich gehört: "Das hat doch alles keinen Zweck, die Polizei kommt nicht, und wenn sie dann rechte Schläger verhaftet, sind die einen Tag später wieder draußen, was soll das alles?" Also, auch das Vertrauen in den Rechtsstaat und in seine Kraft in der Auseinandersetzung mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und Gewalt, dieses Vertrauen muss durch Taten bestätigt werden. Das geht noch weiter, nehmen wir Gerichtsurteile. Viele sagten mir: "Was soll das alles, die Gerichte urteilen doch so, dass die überhaupt nicht bestraft werden. Warum soll ich meine Haut zu Markte tragen, wenn derjenige, der die Straftat begangen hat, hinterher gar nicht verurteilt wird?" In dem Moment, wo die Verfahren schneller sind, die Urteile eindeutiger sind, ist das eine Stärkung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung und eine Ermutigung couragierten Verhaltens.

TRIBÜNE: In letzter Zeit wird häufig eine Verschärfung der Gesetzgebung gegen rassistische und rechtsradikale Straftaten gefordert. Experten weisen aber auch darauf hin, dass es ausreichen würde, die vorhandenen Gesetze konsequent anzuwenden.

THIERSE: Nach meiner Kenntnis haben wir hinreichend eindeutige Strafgesetze, die man nur konsequent anwenden muss. Man muss nur dafür sorgen, dass auch in der Polizei das Bewusstsein für die Gefahr von rechts eindeutig ist. Dass nicht eine allgemeine Atmosphäre in dieser Gesellschaft und in ihren beamteten Teilen grassiert, "na, das sind doch unsere Kinder". Dass nicht das ideologische Einverständnis, so ein geheimes Verständnis grassiert, "na, was sollen denn die jungen Leute machen, die sind arbeitslos, die langweilen sich, und die Ausländer sind ja wirklich eine Gefahr". Sondern dass auch die Bürger wissen, dass sich die Gewalt, die sich zunächst gegen "die anderen" richtet, auch gegen einen selber richten kann. Und durch Gewalt wird kein Problem gelöst.

TRIBÜNE: Von Politikern kommen missverständliche Signale: Auf der einen Seite zahlreiche Initiativen der Bundesregierung, der Länder und Gemeinden gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Auf der anderen Seite werden die Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft, um das Asylrecht und die Zuwanderung in Wahlkämpfen missbraucht. Auch die Abschiebung von Opfern rechtsextremer Gewalttäter wurde vom Staat enttabuisiert. Dies haben Sie vor kurzem zu recht in Ihrer Kontroverse mit dem brandenburgischen Innenminister Jörg Schönbohm kritisiert.

THIERSE: Also, ich kann nur wünschen, dass die Art und Weise, wie Politiker mit diesen wirklichen und zugleich hochsensiblen Problemen namens Zuwanderung, Asyl und Integration so sachlich und so differenziert wie möglich ist. Denn alle diese Probleme sind hochgradig emotions-, ja, angstbesetzt. Und wir haben die Verantwortung, Ängste nicht zu befördern und Emotionen nicht zu schüren, weil das gefährlich ist. Den Versuch zu machen, durch Vereinfachung dieser Probleme Wahlkampferfolge zu erzielen, wird dieser Verantwortung kaum gerecht werden können. In Wahlkämpfen finden immer in einem bestimmten Umfang Vereinfachungen statt, und deswegen kann ich mir nur wünschen, dass man gerade mit diesen genannten Themen sachlich und differenziert umgeht. Es handelt sich um wirkliche Probleme, die soll man nicht wegreden, das wäre auch falsch, dann würden sich Bürger enttäuscht und nicht verstanden fühlen. Es sind wirkliche Ängste, die man nicht wegkommandieren kann. Aber die Art und Weise, wie wir damit umgehen, kann die Probleme und Ängste sowohl verschärfen als auch abbauen.

TRIBÜNE: Ich will noch einmal auf die Befindlichkeit der Gesellschaft zurückkommen, am Beispiel der Rede von Martin Walser 1998 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Diese umstrittene Rede und Walsers darauffolgende, bittere Kontroverse mit Ignatz Bubis haben die politische Kultur in Deutschland wesentlich verändert. Begriffe wie "Moralkeule Auschwitz" oder "Wegschauen von der Schande" haben in allen Schichten der Bevölkerung großen Widerhall gefunden. Bedauerlicherweise gab es keinen "Aufstand" der geistigen Elite. Und jetzt will die Stadt Halle an der Saale Martin Walser für seine Rede sogar noch mit dem Preis "Das unerschrockene Wort" auszeichnen. Müssen sich Rechtsextreme dadurch nicht motiviert fühlen?

THIERSE: Also, ich glaube, der hallenser Vorschlag ist schon zurückgenommen. Ich habe mich sofort erkundigt, was ist da passiert. Man berichtete mir, die Art und Weise, wie dieser Vorschlag zustande gekommen ist, sei höchst unglücklich und nicht von einer offenen Diskussion geprägt gewesen, wo man dann auch über die Zwiespältigkeit und das Hochproblematische des Vorschlags hätte diskutieren können. Zurück zur Walser-Bubis-Debatte. Man muss ja nichts wiederholen, es ist alles gesagt. Ich habe sie empfunden als das Symptom eines Generations- und Stimmungswechsels im Lande. Nicht, weil ich Martin Walser für einen Rechtsextremen oder Antisemiten halte. Ich kann nicht erkennen, dass er das ist. Nach allem, was ich von ihm gelesen habe, und ich habe sehr viel von ihm gelesen, ist er das nicht, er ist ja seiner Geschichte nach ein Linker gewesen. Aber er hat in dieser Rede einer Stimmungslage Ausdruck verliehen, die selber das Problem anzeigt, über das wir vorhin im Zusammenhang mit der Holocaust-Erziehung gesprochen haben: Wie geht man fünfzig Jahre nach dem Geschehen und angesichts von Generationen, die selber unmittelbar, biographisch, erlebnismäßig nichts damit zu tun haben, mit diesem Geschehen um, so, dass man damit, - und jetzt sage ich ein problematisches Wort -, "gegenwartsproduktiv" umgehen kann; dass daraus Empathie, moralisch-emotionale Verpflichtung für die Gegenwart entsteht, und nicht Mechanismen der Abwehr, des Überdrusses, des Wegschiebens entstehen. Denn das Letztere sehen wir in unserer Gesellschaft auch. Ich glaube, die Rede von Martin Walser und die ganze Debatte hat diesen eigentlichen Kern offen gelegt, über den es sich weiter, ganz positiv, nachzudenken lohnt. Weil wir darauf noch nicht die wirklichen, vollständigen Antworten haben. Wir sind uns einig in der Verpflichtung, dass es Holocaust-Gedenken weiterhin geben muss. Der Deutsche Bundestag hat, - und das finde ich gut -, als seine letzte Entscheidung vor dem Umzug von Bonn nach Berlin die Entscheidung für das Holocaust-Denkmal im Herzen der Hauptstadt Berlin getroffen. Das ist ein grundsätzliches Bekenntnis zum Gedenken an den Holocaust. Das war ja immer umstritten, zehn Jahre lang, und es bleibt umstritten. Das heißt, diese Gesellschaft wird auch weiterhin an diesem Gedenken laborieren und laborieren müssen. Aber die Art und Weise, wie wir dieses Gedenken betreiben, das sollte ganz sinnvoller Weise auch Gegenstand der Auseinandersetzung sein. Da sollten wir eine gemeinsame Souveränität entwickeln. Wir sind uns einig, dass diese Verpflichtung weiter gilt. Wie wir sie erfüllen, das muss immer bedacht und beredet werden. Und insofern ist die in manchen Facetten problematische Rede von Martin Walser und die Reaktion von Ignatz Bubis ein wichtiger Anstoß gewesen, genau in dieser Auseinandersetzung nicht nachzulassen. Daraus können wir bei allen ärgerlichen Seiten des Vorgangs in dieser Gesellschaft etwas Produktives machen.

TRIBÜNE: Die Deutschen sind noch immer auf der Suche nach einer gemeinsamen, neuen Identität: Deutsche verschiedener Glaubensrichtungen und Religionen, Deutsche aus den alten und neuen Bundesländern, Deutsche mit früheren anderen Nationalitäten, Menschen, die in Deutschland zu Hause sind, auch ohne deutschen Pass. Außerdem sollen die Deutschen überzeugte EU-Bürger werden. Der Rechtsradikalismus sei, so sagten Sie kürzlich, geradezu "ein kulturelles Phänomen geworde" Welche Rolle spielt der Rechtsextremismus in dem schwierigen Prozess der Identitätssuche?

THIERSE: Also, wenn ich das eine Spur zu freundlich sagen darf, einen Stachel im Fleisch, mit einer schwärenden, schmerzlichen Wunde. Er zeigt ja, dass wir Deutschen immer noch kein vollständig gelassenes Verhältnis zu uns selber gefunden haben. Selbstbewusstsein ist dann gefährlich und trägt gefährliche Früchte, wenn es labil ist, wenn es etwas Künstliches hat, wenn es nicht wirklich in sich selber ruht. Und solange die Deutschen immer noch beschäftigt sind mit Identitätssuche, ist etwas nicht in Ordnung. Ich habe allerdings trotzdem den Eindruck, dass für einen größeren Teil des Volkes das schon längst begonnen hat, ein gelasseneres Verhältnis zu uns selber. Wissen Sie, die meisten Deutschen sind mit ganz großer Selbstverständlichkeit Europäer. Die meisten Deutschen haben ein Gefühl davon, wie ich es immer nenne, welches historisches Glück wir haben. Ich staune immer wieder darüber, dass wir am Ende eines entsetzlichen zwanzigsten Jahrhunderts, für dessen Bitterkeiten und Katastrophen und Verbrechen die Deutschen einen wesentlichen Anteil von Schuld haben, dass wir am Ende dieses Jahrhunderts friedlich vereinigt und in Grenzen leben, zu denen alle unsere Nachbarn "ja" gesagt haben, also in Frieden mit allen unseren Nachbarn. Das ist doch ein unerhörtes, historisches Glück, ein unverdientes historisches Glück. Und wann hat es das in der deutschen Geschichte schon einmal gegeben? Dessen inne zu werden, dieses historische Glück zu begreifen, das verpflichtet uns zu einer Politik des inneren und äußeren Friedens. Das befähigt uns doch auch, uns selber anzunehmen, und zwar im vollen Bewusstsein der ganzen deutschen Geschichte, ohne etwas verdrängen zu müssen. Ich verwende jetzt sogar eine Formulierung von Martin Walser, nämlich, die Erfahrung, die wir gemacht haben, dass deutsche Geschichte auch einmal gut ausgehen kann, nachdem wir Deutschen selber so viel dazu beigetragen haben, dass sie immerfort schlecht ausgegangen ist. Zum Schaden nicht nur unserer selbst, sondern zum Schaden vor allem der anderen. Dazu, dass deutsche Geschichte einmal gut ausgehen könnte, haben wir jetzt eine große Chance, und ich hoffe sehr, dass uns dies bewusst wird und insofern einen Teil unserer Identität ausmacht. Ich habe jedenfalls früher, zu Zeiten der deutschen Teilung - weil ich ja im unglücklicheren Teil Deutschlands gesessen habe -, gelegentlich voller freundlichem Neid auf die Franzosen und die Polen geschaut und ihr nationales Selbstbewusstsein und ihre Identität bestaunt. Vielleicht gelingt es uns, in die Nähe eines solchen entspannten, gelassenen Selbstbewusstseins zu geraten, ohne Geschichte zu verdrängen. Das ist wichtig.

Das Gespräch führte Dr. Barbara von der Lühe.

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2000/pz_001213
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