Pressemitteilung
Datum: 16.03.2001
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
16.03.2001
Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse über "Sprachenvielfalt als politische Verpflichtung" vor dem Deutschen Philologenverbandes (Berlin, Humboldt-Universität)
Es gilt das gesprochene Wort
"In seiner Erzählung "Das Treffen in Telgte" hat Günter Grass, einer der unbestrittenen Meister unserer Sprache, ein Treffen deutscher Dichter während des 30-jährigen Krieges beschrieben. Die Poeten beraten, wie dem Verfall der deutschen Sprache, ihrer Durchmischung mit ausländischen Ausdrücken, der Gefahr ihrer Verdrängung durch das Französische begegnet werden kann. Als der beste Illustrator seiner Texte hat Günter Grass die Antwort auf dieses Problem in eine einprägsame Zeichnung gefasst: Aus einem Geröllfeld ragt eine Hand hervor, die eine Schreibfeder hochhält- ein Inbegriff des guten Stils wie des sorgfältigen Umgangs mit der Sprache.
Bei dem sprachlichen Schutt und Geröll, das uns derzeit gerade in den Medien immer öfter begegnet, muss ich mitunter an diese Zeichnung von Günter Grass denken. Die hochgehaltene Feder ist ein gutes Sinnbild für die Aufgabe, verantwortungsvoll und sensibel mit einem unserer wichtigsten Kulturgüter umzugehen. Der pflegliche Gebrauch unserer Muttersprache wird durch das Zusammenwachsen Europas keineswegs überflüssig - ganz im Gegenteil. Wer die kulturelle Pluralität in Europa erhalten will, sollte sich um die eigene Kultur kümmern. Und wer die europäische Sprachenvielfalt erhalten will, muss zugleich seine eigene Sprache in Ordnung halten oder bringen. Deshalb zunächst einige Anmerkungen zum Zustand der deutschen Sprache und anschließend Überlegungen zur Sprachenvielfalt in einem Europa, das trotz Einheitswährung Euro und lingua franca Englisch ein Europa der sprachlichen und kulturellen Vielfalt bleiben soll.
Über die deutsche Sprache wird gegenwärtig in Politik und Öffentlichkeit, in Talkshows und Feuilletons hingebungsvoll gestritten - vor allem um die Anglizismen und Amerikanismen. Von ihnen kann auch der Bundestagspräsident ein Lied singen. Ich erhalte immer häufiger Einladungsschreiben, in denen es von angelsächsischen Modewörtern wimmelt: "Mega-Event" mit "Performance" bei hoher "Media-Präsenz", "round-table-conference" mit anschließendem "Presse-Briefing" usw. Mitunter möchte ich solche Schreiben einfach an den bundestagseigenen Sprachendienst weiterleiten - mit der Bitte um Rückübersetzung in unsere Muttersprache.
Aber es geht mir nicht nur um die Fremdwörter, sondern um den gedankenlosen und nachlässigen Gebrauch unserer Sprache insgesamt. Als Germanist (und Kulturwissenschaftler) empfinde ich wachsendes Unbehagen daran, wie mit unserer Sprache umgegangen wird - und nicht nur in den Medien. Dazu trägt auch die Politik bei. "Plastikwörter" hat der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen jene vielseitig kombinierbaren, scheinbar bedeutungsschweren Ausdrücke genannt, hinter denen oft nur sehr wenig steckt. "Strukturpolitik", "Entwicklung", "Kommunikation", "Rückbau"
"Nullwachstum" sind solche im politischen Sprachgebrauch verbreiteten Leerformeln.
Bei Pörksen findet sich übrigens auch das Wort "Leittechnologie". Das hat bei mir den Verdacht geweckt, dass die vieldiskutierte "deutsche Leitkultur" ebenfalls ein solches "Plastikwort" sein könnte - nach dem Schema: jeder kennt es, viele gebrauchen es, sowohl zustimmend wie heftig
ablehnend, und was es eigentlich bedeutet, weiß niemand genau. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Sensibilität gegenüber dem öffentlichen Sprachgebrauch ist und welch bedeutende aufklärerischeWirkung politische Sprachkritik haben kann. Schließlich ist bei den Diskussionen um das Wort
"Leitkultur" deutlich geworden, dass das vermeintlich "deutsche" an der Leitkultur in Wirklichkeit allgemein europäisch-westliche Werte sind - und dass - so meine Überzeugung - die guten Phasen deutscher Kultur immer jene waren, in denen wir Deutsche uns öffneten für die besten Einflüsse anderer Kulturen: in der Renaissance, in der Aufklärung, vor allem auch in der Orientierung an den Grundwerten der westlichen Demokratien nach 1945. Die Hochzeiten deutscher Kultur waren immer ihre Hochzeiten mit anderen Kulturen - und übrigens auch mit anderen Sprachen.
Aus diesem Grund schießt die aktuelle Kritik am Zustand der deutschen Sprache oft über das Ziel hinaus. Das gilt gerade für die Fremdwortfrage, in der eine große Wochenendzeitung kürzlich die Haltung des Bundestagspräsidenten leider nur unvollständig wiedergegeben hat. Ich habe keineswegs pauschal zu gesellschaftlichem Widerstand gegen Fremdwörter aufgerufen, sondern vielmehr zu Augenmaß und Gelassenheit. Die Pflege unserer Muttersprache ist etwas sehr Sinnvolles, sie sollte eigentlich selbstverständlich sein. Pauschale Fremdwortablehnung und deutschtümelnder Purismus wären dagegen im Zeitalter der Europäisierung und Globalisierung wenig sinnvoll. Der inflationäre und gedankenlose Gebrauch von Fremdwörtern kann zu Verständnisschwierigkeiten, auch zum Verlust von Ausdrucksmöglichkeiten unserer Muttersprache
führen. Sinnvoll und sensibel verwendet, können Anglizismen und Amerikanismen jedoch unsere Sprache ergänzen, unser Denken erweitern, unsere Kultur insgesamt bereichern.
Das belegt ein Blick auf die Geschichte unserer Sprache. Was heute die Anglizismen sind, waren im 17. und 18. Jahrhundert die lateinischen und dann die französischen Spracheinflüsse. Und sie haben unserer Sprachentwicklung ja keineswegs geschadet. So wie heute gab es natürlich auch früher manch lächerliche Modephrase und unnötige Bildungsattitüde. Lessing hat sie in "Minna von Barnhelm" sehr amüsant parodiert. Aber über die lateinischen Entlehnungen ist eben auch viel klassisches Bildungsgut in unsere Kultur gelangt. Die französischen Lehnwörter und Lehnbildungen sind auch ein Ausdruck für den Einfluss der französischen Kultur nicht nur allgemein, sondern insbesondere des Denkens der französischen Aufklärung. Ein folgenreicher, für unsere kulturelle wie politische Geschichte positiver Vorgang. Warum sollte das bei den heutigen Anglizismen gänzlich anders sein? Schließlich kann uns Deutschen, die alles gleich bis in philosophische Tiefen durchdenken, alles oder vielleicht doch zu vieles "vergrundsätzlichen", eine Dosis angelsächsischen Pragmatismus bestimmt nicht schaden.
Deshalb halte ich nichts von einem Gesetz zum Schutz der deutschen Sprache. Sprache kann man nicht verordnen. Der öffentliche und erst recht der private Sprachgebrauch lassen sich nicht vorschreiben. Jeder Versuch in diese Richtung ruft unweigerlich Verweigerung hervor. Meine Skepsis hat hier nicht nur linguistische, sondern vor allem auch biographische Gründe. Als früherer DDR-Bürger habe ich langjährige Erfahrungen mit verordneter Sprache, gerade mit dem Parteijargon der SED - und mit dem Scheitern aller Versuche, ihn im allgemeinen Sprachgebrauch durchzusetzen - obwohl: ganz ohne Wirkungen auf die Sprache von Ostdeutschen ist dieser Jargon nicht geblieben.
Der Funktionärsjargon wurde in der DDR zum einen durch den Volkswitz, durch vielerlei Spott und Ironie entlarvt und untergraben: Zitate wie "Das Sein verstimmt das Bewußtsein" oder die "sozialistische Wartegemeinschaft" mögen hier als Beispiele genügen. Zum anderen entwickelte man im DDR-Alltagsleben zwangsläufig ein besonderes Sensorium, um an der Sprache des jeweiligen Gegenüber zu erkennen, mit wem man es zu tun hatte. "Sprich, damit ich dich sehe" - so habe ich diese Haltung vor Jahren einmal beschrieben.
Wer zum Beispiel "hier" sagte, statt "bei uns in der DDR" signalisierte schon eine gewisse Reserve. Und wer im Vorwort zu einem Sachbuch über Getreidemilben den Hinweis auf die "Errungenschaften der sozialistischen Landwirtschaft im Lichte der Beschlüsse des n-ten Parteitages der SED" unterließ, der musste sich auf Zensur-Prädikate wie "objektivistischer" oder "bürgerlicher" Wissenschaftler gefasst machen.
Diese Sprachverordnungen sind Geschichte geworden. Mich hat auch bis heute das Glücksgefühl nicht verlassen, in Freiheit leben, und das heißt vor allem: frei sprechen, offen reden zu können. Demokratie bedeutet nicht zuletzt Freiheit der Sprache, das selbstverständliche Recht, die Worte so zu gebrauchen, wie ich es will und nicht, wie sie mir andere in den Mund legen möchten.
Aber die als DDR-Bürger erworbene Sensibilität für die gesprochene und geschriebene Sprache möchte ich nicht missen. Und ich hoffe sehr, dass sie nicht mit dem wohlverdienten Ende der DDR untergegangen ist, sondern uns Deutschen weiterhin und gemeinsam am Herzen liegt. Der Umgang mit unserer Sprache ist keine Nebensache, keine Spielwiese für Hobby-Linguisten und Sonntagskritiker. Wie wir mit unserer Muttersprache umgehen, zeigt immer auch ein Stück weit, wie wichtig uns unsere Kultur ist, wie sehr wir bereit sind, uns für sie einzusetzen.
Warum wird in der aktuellen Debatte um die deutsche Sprache eigentlich immer nach anderen gerufen, nach Akademien, nach Gesetzen, nach Sprachwächtern? Was wir brauchen, ist doch vielmehr das eigene, das gute Beispiel, das nachahmenswerte Vorbild im Umgang mit unserer Sprache. Ich setze auf den unaufdringlichen, aber wirksamen Einfluss guter Praxis des öffentlichen Sprechens und Schreibens.
Hier kann schon in Familie und Schule vieles in gute und richtige Bahnen gelenkt werden. Im Deutschunterricht, aber nicht nur hier, sollte man die Schönheit und den Ausdrucksreichtum der deutschen Sprache kennen lernen. Es fehlt uns wahrlich nicht an beispielhaften literarischen Texten von Goethe, Schiller und Heine bis zu Thomas Mann, Brecht und Grass. Gute und geschickte Lehrer können viele Türen öffnen und Interesse wecken an dem Reichtum der deutschen Sprache und Literatur.
Auch Journalisten können Vorbilder sein. Den Zeitungen kommt eine besondere Verantwortung für den Umgang mit unserer Sprache zu. In den Zeitungen sollte man die Chance haben, Texte in verständlichem und plastischem Deutsch zu lesen. Ebenso gilt für die öffentlich-rechtlichen und erst recht für die privaten Fernsehanstalten, dass Intendanten und Chefredakteure ihren Moderatoren intensiver auf die gelegentlich sprachlich schmutzigen Finger schauen sollten. Aber auch unsere Amtsstuben, unsere öffentlichen Behörden und vor allem unsere Parlamente sind Betätigungsfelder für das gute sprachliche Vorbild.
Bemühen wir uns also um das Zurückdrängen von seifenblasenartiger Medien- und Werbesprache, von menschenunfreundlichem Beamtendeutsch, von unverständlichem Juristenjargon, von formelhaft-inhaltslosem Politikerjargon. Hier können Intendanten, Behördenchefs, Senatoren, Minister und Debattenredner mit gutem Beispiel vorangehen. Bemühen wir uns selbst um verständliches, um stilistisch gutes, um gedanklich klares Deutsch. Nutzen wir den Ausdrucksreichtum und die Schönheit unserer Muttersprache, anstatt uns selbst um diese großartigen sprachlichen Möglichkeiten zu bringen. Sprache bedeutet Heimat. Unsere Muttersprache ist die Grundlage der Vielfalt und des Reichtums unserer Kultur. Wir sollten sie uns nicht nehmen lassen - und sie erst recht nicht europäischen Vereinheitlichungstendenzen opfern.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt: der Sprachenvielfalt in Europa. Gemeinsam mit dem "Europarat" hat die "Europäische Union" das Jahr 2001 zum "Europäischen Jahr der Sprachen" ausgerufen. Das ist ein gutes Signal. Schließlich hat der fortschreitende europäische Einigungsprozess Befürchtungen geweckt, mit der Sprachenvielfalt sei auch die kulturelle Pluralität in Europa in Gefahr.
Richtig ist: In einem Europa, das in absehbarer Zeit 27 Mitgliedsstaaten haben dürfte, wird der Trend zu gemeinsamen Verkehrssprachen - und das bedeutet in erster Linie Englisch, in zweiter Französisch - noch stärker werden als bisher. Das könnte zu Lasten der deutschen Sprache gehen - wenn wir nicht aufpassen. Das europäische Sprachenjahr steht unter dem Motto "Sprachen öffnen Türen" - eine ebenso richtige wie richtungweisende Feststellung. Gerade deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass der deutschen Sprache in Europa die Tür vor der Nase zugeschlagen wird.
Hier sind auf verschiedenen Ebenen bedenkliche Tendenzen zu registrieren. Ich meine nicht nur den unübersehbaren Rückgang der Verwendung des Deutschen als Wissenschaftssprache gerade in den Geisteswissenschaften - ein Feld, in dem unsere Sprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch Weltgeltung hatte. Dieser Bedeutungsverlust hängt mit dem Umstand zusammen, dass in naturwissenschaftlichen Publikationen das Englische als internationale Wissenschaftssprache dominiert - einer ganzen Reihe deutscher Nobelpreisträger und -trägerinnen zum Trotz. Die Geistes- und Kulturwissenschaften, in denen das Deutsche als die Sprache der "Dichter und Denker" von Goethe, Kant und Hegel bis zu Thomas Mann, Nietzsche, Heidegger und Habermas nach wie vor über kulturelles Gewicht und Prestige verfügt, haben derzeit insgesamt nicht die Konjunktur, die ihnen zu wünschen wäre - sehr zum Nachteil der Verbreitung des Deutschen als Wissenschaftssprache.
Aber auch im politischen Bereich gibt es irritierende Signale. Ich erinnere an die jüngste Entscheidung der schwedischen Ratspräsidentschaft, Deutsch als Arbeitssprache bei Beratungen unterhalb der EU-Ministerebene nicht mehr anzubieten. Bereits unter der vorhergehenden finnischen Ratspräsidentschaft gab es einen ähnlichen Versuch, die Arbeitssprachen der EU auf Englisch und Französisch zu reduzieren. Damals hat sich die Bundesregierung mit ihrem Protest durchgesetzt, wurde das Deutsche schließlich doch als Arbeitssprache angeboten. Die Bundesrepublik Deutschland wird auch in diesem Fall darauf drängen, dass die deutsche Sprache auf allen EU-Ebenen weiter verwendet wird - und dass Deutschkenntnisse als Ausbildungs- und Qualifikationsmerkmal für Mitarbeiter von EU-Behörden stärkere Berücksichtigung finden.
Sicherlich ist Deutsch keine leicht zu erlernende Sprache. Mark Twain meinte einmal, Englisch könne man in dreißig Stunden, Französisch in dreißig Tagen, Deutsch jedoch frühestens in dreißig Jahren lernen. Aber in einem immer enger zusammenwachsenden Europa ist es weder bürgernah noch einleuchtend, ausgerechnet auf jene Sprache zu verzichten, die die größte Zahl an Muttersprachlern und die zweitgrößte Gesamtsprecherzahl - also Mutter- und Fremdsprachler - in der Europäischen Gemeinschaft aufweist.
Für eine Stärkung der deutschen Sprache in Europa eröffnet die Aufnahme neuer osteuropäischer Staaten eine vielversprechende Perspektive. In Polen, Tschechien und Slowenien, aber auch den baltischen Staaten sprechen viele künftige EU-Bürgerinnen und Bürger deutsch. Schon im gegenwärtigen Wirtschaftsverkehr ist dort häufig auch Deutsch und nicht nur Englisch die lingua franca. Nicht zufällig ist die Nachfrage nach deutschen Sprachkursen und -kenntnissen in den osteuropäischen Ländern sehr groß. Die Angebote der Goethe-Institute finden hier besondere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Die lange Phase der Mittelkürzungen für die wichtige Arbeit der Goethe-Institute (europa- und weltweit) sollte auch aus diesem Grunde möglichst bald in ihr Gegenteil umgekehrt werden!
Die Stellung der deutschen Sprache im weiteren Fortschreiten der europäischen Einigung zu stärken, darf selbstverständlich kein nationaler Selbstzweck sein. Unser Ziel ist - mit Thomas Mann gesprochen - nicht etwa ein deutsches Europa, sondern vielmehr ein europäisches Deutschland in einem kulturell vielfältigen Europa. Wer die sprachliche und kulturelle Vielfalt in Europa will, muss deshalb bereit sein, neben der Pflege der eigenen Sprache auch die Kenntnisse anderer europäischer Sprachen und Kulturen zu vertiefen und zu erweitern. Wir Deutschen - auch die im fortgeschrittenen Alter - werden uns künftig mehr um Fremdsprachenkenntnisse bemühen müssen.
Das kann schon beim jährlichen Mallorca-, Algarve- oder Toskana-Urlaub anfangen. Natürlich kommt man in den meisten Touristenzentren auch mit Deutsch weiter. Aber es ist ein Zeichen des Respekts vor der Kultur und des Interesses an den Menschen dieser Länder, wenn wir Deutsche uns wenigstens um Grundkenntnisse der Landessprache bemühen - zumal, wenn man im nächsten Jahr ohnehin wiederkommen will.
Der Notwendigkeit erweiterter Fremdsprachenkenntnisse und den daraus folgenden pädagogischen Konsequenzen werden sich jedoch vor allem unsere Schulen und Hochschulen, aber auch die berufliche und politische Bildung künftig stärker als bisher öffnen müssen. Sicherlich klingt es sehr idealistisch, wenn im "Europäischen Jahr der Sprachen" als Ziel formuliert wird, künftige EU-Bürgerinnen und -Bürger sollten mindestens drei Sprachen beherrschen: ihre Muttersprache und zwei Fremdsprachen. Mancher Lehrer wäre heute schon froh, wenn die Mehrzahl der Schüler wenigstens ihre Muttersprache vernünftig schreiben könnten und sich in Englisch einigermaßen verständlich zu machen wüssten. Aber in einem größer werdenden Europa wird es in der Tat ohne Fremdsprachenkenntnisse für den einzelnen immer schwerer werden - gerade in beruflicher Hinsicht.
In den Hochschulen, z.T. auch schon im Oberstufenbereich haben sich EU-Bildungs- und Austauschprogramme wie "Sokrates" gut bewährt. Sie setzen allerdings relativ spät an. In jüngeren Jahren fällt das Erlernen fremder Sprachen bekanntlich viel leichter. Es wäre gut, den schulischen Fremdsprachenunterricht früher zu beginnen - was in den Grundschulen z.T. bereits geschieht - und ihn übrigens auch von jenem Drang zur deutschen Gründlichkeit zu befreien, der unsere Abiturientinnen und Abiturienten derzeit bis zu acht Jahre Englisch lernen lässt - und darüber Zeit für andere Sprachen verliert.
In diesem Punkt hat sich der fremdsprachliche Unterricht in Deutschland weit vom Humboldtschen Bildungskonzept entfernt. Wilhelm von Humboldt hat keineswegs für das langjährige Erlernen einer Sprache plädiert. Er war vielmehr der Ansicht, dass es sinnvoller sei, für kürzere Zeit, ein Jahr oder zwei, eine Fremdsprache, dann für einen ähnlichen Zeitraum eine zweite und idealiter noch weitere zu erlernen. Mit entsprechenden Modellen des Fremdsprachenerwerbs - z.B. nach der Formel 3 plus 3 plus 3 Jahre - könnten viele Grundlagen vermittelt werden, die später - in Studium, Beruf oder Freizeit - aufgegriffen und vertieft werden können.
Bei der Auswahl dieser Sprachen sollte auch nicht nur auf Englisch, Französisch und Spanisch gesetzt werden. An Englisch als erster oder zweiter Sprache führt zwar in der globalisierten Welt kein Weg vorbei. Aber warum nicht stärker als bisher Sprachnachbarschaften in Europa nutzen? Am Oberrhein liegt das Französische in jeder Hinsicht nahe. Am Niederrhein macht jedoch das Holländische mehr Sinn, an der Oder das Polnische. Und wenn es gut funktionierende Städtepartnerschaften gibt - warum nicht Kursangebote in Dänisch, Tschechisch oder Russisch? Selbst vermeintlich exotische Sprachen wie Japanisch oder Chinesisch können im Zeitalter der "global player" sinnvolle Angebote darstellen. Nicht zuletzt kann das bilinguale Sprachpotential der bei uns lebenden Ausländer - aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Griechenland und der Türkei, aus Italien, Spanien und Portugal - noch viel stärker genutzt werden zur Förderung von Fremdsprachenkenntnissen - und zur Förderung von Europabewusstsein.
Schließlich sind Sprachen viel mehr als nur Werkzeuge zur Verständigung. Sie stellen die Basis jeder interkulturellen Kompetenz dar, erweitern unser Wissen vom anderen und relativieren zugleich die eigene Weltsicht. Wilhelm von Humboldt hat gezeigt, dass unser Denken, unsere Weltsicht immer sprachvermittelt ist und jede einzelne Sprache eine eigene, unverwechselbare Sicht der Welt eröffnet. Durch die Auseinandersetzung mit fremden Sprachen werden Perspektiven und Betrachtungsmöglichkeiten bewusst, die uns ansonsten verschlossen blieben. Jede Fremdsprache lässt ein Stück weit eine neue Sicht der Dinge, gerade auch des Alltagslebens eines Volkes erkennen, vermag Fremdheiten und Feindbilder abzubauen und Verständnis und Toleranz zu fördern. Goethe hat diese fremdsprachliche Toleranzförderung so ausgedrückt: "Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei."
Erst die Kenntnis der Sprachen anderer Völker eröffnet einen umfassenden Zugang zu ihrer Kultur, lässt neben den Unterschieden auch das Gemeinsame bewusst werden. Diese Perspektivenerweiterung ist für den weiteren Prozess der Einigung Europas, auch für die Entwicklung und Vertiefung eines Europabewusstseins von großer Bedeutung. Schließlich weckt der Gedanke eines immer enger zusammenrückenden, auch kulturell immer mehr sich angleichenden Europas bei nicht wenigen EU-Bürgerinnen und Bürgern Vorbehalte und auch Ängste. Der Sorge vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität entspricht die Befürchtung, von anonymen Bürokratien in Brüssel oder Straßburg ohne Rücksicht auf nationalstaatliche oder regionale Interessen, aber auch kulturelle Eigentümlichkeiten regiert zu werden.
Gegen diese Ängste und Befürchtungen hilft nur Aufklärung, Information. Der Prozess der europäischen Einigung zielt keineswegs auf Vereinheitlichung, gar Planierung der einzelnen Kulturen und Sprachen - ganz im Gegenteil. Ziel ist vielmehr ein in sich differenziertes, kulturell wie sprachlich vielfältiges Europa. Die Sprachenvielfalt Europas ist insofern der linguistische Prüfstein des Subsidiaritätsprinzips einer Europäischen Gemeinschaft, die nicht nur die Nationalsprachen, sondern auch Regionalsprachen wie Bretonisch oder Sorbisch und ebenso Minderheitensprachen wie Romans erhalten und schützen will. Die schöne Pluralität der Sprachen Europas spiegelt die kulturelle Vielfalt unseres Kontinents - eine Differenziertheit, die eben nicht primär ein Verständigungshindernis im ökonomischen Prozess, sondern vor allem immensen kulturellen Reichtum bedeutet. Ihn zu erhalten, liegt im Interesse aller Europäer. Deshalb ist sprachliche Vielfalt weit mehr als ein sympathisches Anhängsel der wirtschaft Die Erhaltung der Sprachenvielfalt, übrigens auch der alten europäischen Kultursprachen Latein und Griechisch, bildet vielmehr eine Grundvoraussetzung für ein friedlich zusammenwachsendes, demokratisches Europa, in dem die einzelnen Kulturen und Sprachen sich wechselseitig bereichen.
Das "Europäische Jahr der Sprachen" macht deutlich, dass die Sicherung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Europa eine uns alle betreffende Aufgabe ist. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sehen hier eine zentrale europapolitische Verpflichtung. Die Förderung von Europabewusstsein durch erweiterte Kenntnisse anderer Sprachen und Kulturen kann jedoch nur so weit erfolgreich sein, wie wir unsere Muttersprache beherrschen und wie sorgfältig und verantwortungsbewusst wir sie gebrauchen. Beides gehört zusammen, in beiden Bereichen ist auch über das "Europäische Jahr der Sprachen" hinaus vieles zu tun.
Dazu können alle beitragen, denen die deutsche Sprache und die europäische Sprachenvielfalt am Herzen liegt - Germanisten und fremdsprachliche Philologen, Natur- wie Kulturwissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse auch weiterhin in Deutsch publizieren, Journalisten und Lehrer, die sich um richtiges und verständliches Deutsch bemühen und übrigens selbstverständlich auch Politiker.
Am besten fangen wir alle bei uns selbst, beim eigenen Schreiben und Sprechen an. Die hochgehaltene Feder in der Zeichnung von Günter Grass ist ein eindringlicher Appell, die Chance zu nutzen, im größer werdenden Europa Eigenes und Fremdes zu verbinden, verantwortungsvoll und sensibel mit unserer Muttersprache, weltoffen wie tolerant mit den Sprachen anderer Länder und Kulturen umzugehen."
"In seiner Erzählung "Das Treffen in Telgte" hat Günter Grass, einer der unbestrittenen Meister unserer Sprache, ein Treffen deutscher Dichter während des 30-jährigen Krieges beschrieben. Die Poeten beraten, wie dem Verfall der deutschen Sprache, ihrer Durchmischung mit ausländischen Ausdrücken, der Gefahr ihrer Verdrängung durch das Französische begegnet werden kann. Als der beste Illustrator seiner Texte hat Günter Grass die Antwort auf dieses Problem in eine einprägsame Zeichnung gefasst: Aus einem Geröllfeld ragt eine Hand hervor, die eine Schreibfeder hochhält- ein Inbegriff des guten Stils wie des sorgfältigen Umgangs mit der Sprache.
Bei dem sprachlichen Schutt und Geröll, das uns derzeit gerade in den Medien immer öfter begegnet, muss ich mitunter an diese Zeichnung von Günter Grass denken. Die hochgehaltene Feder ist ein gutes Sinnbild für die Aufgabe, verantwortungsvoll und sensibel mit einem unserer wichtigsten Kulturgüter umzugehen. Der pflegliche Gebrauch unserer Muttersprache wird durch das Zusammenwachsen Europas keineswegs überflüssig - ganz im Gegenteil. Wer die kulturelle Pluralität in Europa erhalten will, sollte sich um die eigene Kultur kümmern. Und wer die europäische Sprachenvielfalt erhalten will, muss zugleich seine eigene Sprache in Ordnung halten oder bringen. Deshalb zunächst einige Anmerkungen zum Zustand der deutschen Sprache und anschließend Überlegungen zur Sprachenvielfalt in einem Europa, das trotz Einheitswährung Euro und lingua franca Englisch ein Europa der sprachlichen und kulturellen Vielfalt bleiben soll.
Über die deutsche Sprache wird gegenwärtig in Politik und Öffentlichkeit, in Talkshows und Feuilletons hingebungsvoll gestritten - vor allem um die Anglizismen und Amerikanismen. Von ihnen kann auch der Bundestagspräsident ein Lied singen. Ich erhalte immer häufiger Einladungsschreiben, in denen es von angelsächsischen Modewörtern wimmelt: "Mega-Event" mit "Performance" bei hoher "Media-Präsenz", "round-table-conference" mit anschließendem "Presse-Briefing" usw. Mitunter möchte ich solche Schreiben einfach an den bundestagseigenen Sprachendienst weiterleiten - mit der Bitte um Rückübersetzung in unsere Muttersprache.
Aber es geht mir nicht nur um die Fremdwörter, sondern um den gedankenlosen und nachlässigen Gebrauch unserer Sprache insgesamt. Als Germanist (und Kulturwissenschaftler) empfinde ich wachsendes Unbehagen daran, wie mit unserer Sprache umgegangen wird - und nicht nur in den Medien. Dazu trägt auch die Politik bei. "Plastikwörter" hat der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen jene vielseitig kombinierbaren, scheinbar bedeutungsschweren Ausdrücke genannt, hinter denen oft nur sehr wenig steckt. "Strukturpolitik", "Entwicklung", "Kommunikation", "Rückbau"
"Nullwachstum" sind solche im politischen Sprachgebrauch verbreiteten Leerformeln.
Bei Pörksen findet sich übrigens auch das Wort "Leittechnologie". Das hat bei mir den Verdacht geweckt, dass die vieldiskutierte "deutsche Leitkultur" ebenfalls ein solches "Plastikwort" sein könnte - nach dem Schema: jeder kennt es, viele gebrauchen es, sowohl zustimmend wie heftig
ablehnend, und was es eigentlich bedeutet, weiß niemand genau. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig Sensibilität gegenüber dem öffentlichen Sprachgebrauch ist und welch bedeutende aufklärerischeWirkung politische Sprachkritik haben kann. Schließlich ist bei den Diskussionen um das Wort
"Leitkultur" deutlich geworden, dass das vermeintlich "deutsche" an der Leitkultur in Wirklichkeit allgemein europäisch-westliche Werte sind - und dass - so meine Überzeugung - die guten Phasen deutscher Kultur immer jene waren, in denen wir Deutsche uns öffneten für die besten Einflüsse anderer Kulturen: in der Renaissance, in der Aufklärung, vor allem auch in der Orientierung an den Grundwerten der westlichen Demokratien nach 1945. Die Hochzeiten deutscher Kultur waren immer ihre Hochzeiten mit anderen Kulturen - und übrigens auch mit anderen Sprachen.
Aus diesem Grund schießt die aktuelle Kritik am Zustand der deutschen Sprache oft über das Ziel hinaus. Das gilt gerade für die Fremdwortfrage, in der eine große Wochenendzeitung kürzlich die Haltung des Bundestagspräsidenten leider nur unvollständig wiedergegeben hat. Ich habe keineswegs pauschal zu gesellschaftlichem Widerstand gegen Fremdwörter aufgerufen, sondern vielmehr zu Augenmaß und Gelassenheit. Die Pflege unserer Muttersprache ist etwas sehr Sinnvolles, sie sollte eigentlich selbstverständlich sein. Pauschale Fremdwortablehnung und deutschtümelnder Purismus wären dagegen im Zeitalter der Europäisierung und Globalisierung wenig sinnvoll. Der inflationäre und gedankenlose Gebrauch von Fremdwörtern kann zu Verständnisschwierigkeiten, auch zum Verlust von Ausdrucksmöglichkeiten unserer Muttersprache
führen. Sinnvoll und sensibel verwendet, können Anglizismen und Amerikanismen jedoch unsere Sprache ergänzen, unser Denken erweitern, unsere Kultur insgesamt bereichern.
Das belegt ein Blick auf die Geschichte unserer Sprache. Was heute die Anglizismen sind, waren im 17. und 18. Jahrhundert die lateinischen und dann die französischen Spracheinflüsse. Und sie haben unserer Sprachentwicklung ja keineswegs geschadet. So wie heute gab es natürlich auch früher manch lächerliche Modephrase und unnötige Bildungsattitüde. Lessing hat sie in "Minna von Barnhelm" sehr amüsant parodiert. Aber über die lateinischen Entlehnungen ist eben auch viel klassisches Bildungsgut in unsere Kultur gelangt. Die französischen Lehnwörter und Lehnbildungen sind auch ein Ausdruck für den Einfluss der französischen Kultur nicht nur allgemein, sondern insbesondere des Denkens der französischen Aufklärung. Ein folgenreicher, für unsere kulturelle wie politische Geschichte positiver Vorgang. Warum sollte das bei den heutigen Anglizismen gänzlich anders sein? Schließlich kann uns Deutschen, die alles gleich bis in philosophische Tiefen durchdenken, alles oder vielleicht doch zu vieles "vergrundsätzlichen", eine Dosis angelsächsischen Pragmatismus bestimmt nicht schaden.
Deshalb halte ich nichts von einem Gesetz zum Schutz der deutschen Sprache. Sprache kann man nicht verordnen. Der öffentliche und erst recht der private Sprachgebrauch lassen sich nicht vorschreiben. Jeder Versuch in diese Richtung ruft unweigerlich Verweigerung hervor. Meine Skepsis hat hier nicht nur linguistische, sondern vor allem auch biographische Gründe. Als früherer DDR-Bürger habe ich langjährige Erfahrungen mit verordneter Sprache, gerade mit dem Parteijargon der SED - und mit dem Scheitern aller Versuche, ihn im allgemeinen Sprachgebrauch durchzusetzen - obwohl: ganz ohne Wirkungen auf die Sprache von Ostdeutschen ist dieser Jargon nicht geblieben.
Der Funktionärsjargon wurde in der DDR zum einen durch den Volkswitz, durch vielerlei Spott und Ironie entlarvt und untergraben: Zitate wie "Das Sein verstimmt das Bewußtsein" oder die "sozialistische Wartegemeinschaft" mögen hier als Beispiele genügen. Zum anderen entwickelte man im DDR-Alltagsleben zwangsläufig ein besonderes Sensorium, um an der Sprache des jeweiligen Gegenüber zu erkennen, mit wem man es zu tun hatte. "Sprich, damit ich dich sehe" - so habe ich diese Haltung vor Jahren einmal beschrieben.
Wer zum Beispiel "hier" sagte, statt "bei uns in der DDR" signalisierte schon eine gewisse Reserve. Und wer im Vorwort zu einem Sachbuch über Getreidemilben den Hinweis auf die "Errungenschaften der sozialistischen Landwirtschaft im Lichte der Beschlüsse des n-ten Parteitages der SED" unterließ, der musste sich auf Zensur-Prädikate wie "objektivistischer" oder "bürgerlicher" Wissenschaftler gefasst machen.
Diese Sprachverordnungen sind Geschichte geworden. Mich hat auch bis heute das Glücksgefühl nicht verlassen, in Freiheit leben, und das heißt vor allem: frei sprechen, offen reden zu können. Demokratie bedeutet nicht zuletzt Freiheit der Sprache, das selbstverständliche Recht, die Worte so zu gebrauchen, wie ich es will und nicht, wie sie mir andere in den Mund legen möchten.
Aber die als DDR-Bürger erworbene Sensibilität für die gesprochene und geschriebene Sprache möchte ich nicht missen. Und ich hoffe sehr, dass sie nicht mit dem wohlverdienten Ende der DDR untergegangen ist, sondern uns Deutschen weiterhin und gemeinsam am Herzen liegt. Der Umgang mit unserer Sprache ist keine Nebensache, keine Spielwiese für Hobby-Linguisten und Sonntagskritiker. Wie wir mit unserer Muttersprache umgehen, zeigt immer auch ein Stück weit, wie wichtig uns unsere Kultur ist, wie sehr wir bereit sind, uns für sie einzusetzen.
Warum wird in der aktuellen Debatte um die deutsche Sprache eigentlich immer nach anderen gerufen, nach Akademien, nach Gesetzen, nach Sprachwächtern? Was wir brauchen, ist doch vielmehr das eigene, das gute Beispiel, das nachahmenswerte Vorbild im Umgang mit unserer Sprache. Ich setze auf den unaufdringlichen, aber wirksamen Einfluss guter Praxis des öffentlichen Sprechens und Schreibens.
Hier kann schon in Familie und Schule vieles in gute und richtige Bahnen gelenkt werden. Im Deutschunterricht, aber nicht nur hier, sollte man die Schönheit und den Ausdrucksreichtum der deutschen Sprache kennen lernen. Es fehlt uns wahrlich nicht an beispielhaften literarischen Texten von Goethe, Schiller und Heine bis zu Thomas Mann, Brecht und Grass. Gute und geschickte Lehrer können viele Türen öffnen und Interesse wecken an dem Reichtum der deutschen Sprache und Literatur.
Auch Journalisten können Vorbilder sein. Den Zeitungen kommt eine besondere Verantwortung für den Umgang mit unserer Sprache zu. In den Zeitungen sollte man die Chance haben, Texte in verständlichem und plastischem Deutsch zu lesen. Ebenso gilt für die öffentlich-rechtlichen und erst recht für die privaten Fernsehanstalten, dass Intendanten und Chefredakteure ihren Moderatoren intensiver auf die gelegentlich sprachlich schmutzigen Finger schauen sollten. Aber auch unsere Amtsstuben, unsere öffentlichen Behörden und vor allem unsere Parlamente sind Betätigungsfelder für das gute sprachliche Vorbild.
Bemühen wir uns also um das Zurückdrängen von seifenblasenartiger Medien- und Werbesprache, von menschenunfreundlichem Beamtendeutsch, von unverständlichem Juristenjargon, von formelhaft-inhaltslosem Politikerjargon. Hier können Intendanten, Behördenchefs, Senatoren, Minister und Debattenredner mit gutem Beispiel vorangehen. Bemühen wir uns selbst um verständliches, um stilistisch gutes, um gedanklich klares Deutsch. Nutzen wir den Ausdrucksreichtum und die Schönheit unserer Muttersprache, anstatt uns selbst um diese großartigen sprachlichen Möglichkeiten zu bringen. Sprache bedeutet Heimat. Unsere Muttersprache ist die Grundlage der Vielfalt und des Reichtums unserer Kultur. Wir sollten sie uns nicht nehmen lassen - und sie erst recht nicht europäischen Vereinheitlichungstendenzen opfern.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt: der Sprachenvielfalt in Europa. Gemeinsam mit dem "Europarat" hat die "Europäische Union" das Jahr 2001 zum "Europäischen Jahr der Sprachen" ausgerufen. Das ist ein gutes Signal. Schließlich hat der fortschreitende europäische Einigungsprozess Befürchtungen geweckt, mit der Sprachenvielfalt sei auch die kulturelle Pluralität in Europa in Gefahr.
Richtig ist: In einem Europa, das in absehbarer Zeit 27 Mitgliedsstaaten haben dürfte, wird der Trend zu gemeinsamen Verkehrssprachen - und das bedeutet in erster Linie Englisch, in zweiter Französisch - noch stärker werden als bisher. Das könnte zu Lasten der deutschen Sprache gehen - wenn wir nicht aufpassen. Das europäische Sprachenjahr steht unter dem Motto "Sprachen öffnen Türen" - eine ebenso richtige wie richtungweisende Feststellung. Gerade deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass der deutschen Sprache in Europa die Tür vor der Nase zugeschlagen wird.
Hier sind auf verschiedenen Ebenen bedenkliche Tendenzen zu registrieren. Ich meine nicht nur den unübersehbaren Rückgang der Verwendung des Deutschen als Wissenschaftssprache gerade in den Geisteswissenschaften - ein Feld, in dem unsere Sprache im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch Weltgeltung hatte. Dieser Bedeutungsverlust hängt mit dem Umstand zusammen, dass in naturwissenschaftlichen Publikationen das Englische als internationale Wissenschaftssprache dominiert - einer ganzen Reihe deutscher Nobelpreisträger und -trägerinnen zum Trotz. Die Geistes- und Kulturwissenschaften, in denen das Deutsche als die Sprache der "Dichter und Denker" von Goethe, Kant und Hegel bis zu Thomas Mann, Nietzsche, Heidegger und Habermas nach wie vor über kulturelles Gewicht und Prestige verfügt, haben derzeit insgesamt nicht die Konjunktur, die ihnen zu wünschen wäre - sehr zum Nachteil der Verbreitung des Deutschen als Wissenschaftssprache.
Aber auch im politischen Bereich gibt es irritierende Signale. Ich erinnere an die jüngste Entscheidung der schwedischen Ratspräsidentschaft, Deutsch als Arbeitssprache bei Beratungen unterhalb der EU-Ministerebene nicht mehr anzubieten. Bereits unter der vorhergehenden finnischen Ratspräsidentschaft gab es einen ähnlichen Versuch, die Arbeitssprachen der EU auf Englisch und Französisch zu reduzieren. Damals hat sich die Bundesregierung mit ihrem Protest durchgesetzt, wurde das Deutsche schließlich doch als Arbeitssprache angeboten. Die Bundesrepublik Deutschland wird auch in diesem Fall darauf drängen, dass die deutsche Sprache auf allen EU-Ebenen weiter verwendet wird - und dass Deutschkenntnisse als Ausbildungs- und Qualifikationsmerkmal für Mitarbeiter von EU-Behörden stärkere Berücksichtigung finden.
Sicherlich ist Deutsch keine leicht zu erlernende Sprache. Mark Twain meinte einmal, Englisch könne man in dreißig Stunden, Französisch in dreißig Tagen, Deutsch jedoch frühestens in dreißig Jahren lernen. Aber in einem immer enger zusammenwachsenden Europa ist es weder bürgernah noch einleuchtend, ausgerechnet auf jene Sprache zu verzichten, die die größte Zahl an Muttersprachlern und die zweitgrößte Gesamtsprecherzahl - also Mutter- und Fremdsprachler - in der Europäischen Gemeinschaft aufweist.
Für eine Stärkung der deutschen Sprache in Europa eröffnet die Aufnahme neuer osteuropäischer Staaten eine vielversprechende Perspektive. In Polen, Tschechien und Slowenien, aber auch den baltischen Staaten sprechen viele künftige EU-Bürgerinnen und Bürger deutsch. Schon im gegenwärtigen Wirtschaftsverkehr ist dort häufig auch Deutsch und nicht nur Englisch die lingua franca. Nicht zufällig ist die Nachfrage nach deutschen Sprachkursen und -kenntnissen in den osteuropäischen Ländern sehr groß. Die Angebote der Goethe-Institute finden hier besondere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Die lange Phase der Mittelkürzungen für die wichtige Arbeit der Goethe-Institute (europa- und weltweit) sollte auch aus diesem Grunde möglichst bald in ihr Gegenteil umgekehrt werden!
Die Stellung der deutschen Sprache im weiteren Fortschreiten der europäischen Einigung zu stärken, darf selbstverständlich kein nationaler Selbstzweck sein. Unser Ziel ist - mit Thomas Mann gesprochen - nicht etwa ein deutsches Europa, sondern vielmehr ein europäisches Deutschland in einem kulturell vielfältigen Europa. Wer die sprachliche und kulturelle Vielfalt in Europa will, muss deshalb bereit sein, neben der Pflege der eigenen Sprache auch die Kenntnisse anderer europäischer Sprachen und Kulturen zu vertiefen und zu erweitern. Wir Deutschen - auch die im fortgeschrittenen Alter - werden uns künftig mehr um Fremdsprachenkenntnisse bemühen müssen.
Das kann schon beim jährlichen Mallorca-, Algarve- oder Toskana-Urlaub anfangen. Natürlich kommt man in den meisten Touristenzentren auch mit Deutsch weiter. Aber es ist ein Zeichen des Respekts vor der Kultur und des Interesses an den Menschen dieser Länder, wenn wir Deutsche uns wenigstens um Grundkenntnisse der Landessprache bemühen - zumal, wenn man im nächsten Jahr ohnehin wiederkommen will.
Der Notwendigkeit erweiterter Fremdsprachenkenntnisse und den daraus folgenden pädagogischen Konsequenzen werden sich jedoch vor allem unsere Schulen und Hochschulen, aber auch die berufliche und politische Bildung künftig stärker als bisher öffnen müssen. Sicherlich klingt es sehr idealistisch, wenn im "Europäischen Jahr der Sprachen" als Ziel formuliert wird, künftige EU-Bürgerinnen und -Bürger sollten mindestens drei Sprachen beherrschen: ihre Muttersprache und zwei Fremdsprachen. Mancher Lehrer wäre heute schon froh, wenn die Mehrzahl der Schüler wenigstens ihre Muttersprache vernünftig schreiben könnten und sich in Englisch einigermaßen verständlich zu machen wüssten. Aber in einem größer werdenden Europa wird es in der Tat ohne Fremdsprachenkenntnisse für den einzelnen immer schwerer werden - gerade in beruflicher Hinsicht.
In den Hochschulen, z.T. auch schon im Oberstufenbereich haben sich EU-Bildungs- und Austauschprogramme wie "Sokrates" gut bewährt. Sie setzen allerdings relativ spät an. In jüngeren Jahren fällt das Erlernen fremder Sprachen bekanntlich viel leichter. Es wäre gut, den schulischen Fremdsprachenunterricht früher zu beginnen - was in den Grundschulen z.T. bereits geschieht - und ihn übrigens auch von jenem Drang zur deutschen Gründlichkeit zu befreien, der unsere Abiturientinnen und Abiturienten derzeit bis zu acht Jahre Englisch lernen lässt - und darüber Zeit für andere Sprachen verliert.
In diesem Punkt hat sich der fremdsprachliche Unterricht in Deutschland weit vom Humboldtschen Bildungskonzept entfernt. Wilhelm von Humboldt hat keineswegs für das langjährige Erlernen einer Sprache plädiert. Er war vielmehr der Ansicht, dass es sinnvoller sei, für kürzere Zeit, ein Jahr oder zwei, eine Fremdsprache, dann für einen ähnlichen Zeitraum eine zweite und idealiter noch weitere zu erlernen. Mit entsprechenden Modellen des Fremdsprachenerwerbs - z.B. nach der Formel 3 plus 3 plus 3 Jahre - könnten viele Grundlagen vermittelt werden, die später - in Studium, Beruf oder Freizeit - aufgegriffen und vertieft werden können.
Bei der Auswahl dieser Sprachen sollte auch nicht nur auf Englisch, Französisch und Spanisch gesetzt werden. An Englisch als erster oder zweiter Sprache führt zwar in der globalisierten Welt kein Weg vorbei. Aber warum nicht stärker als bisher Sprachnachbarschaften in Europa nutzen? Am Oberrhein liegt das Französische in jeder Hinsicht nahe. Am Niederrhein macht jedoch das Holländische mehr Sinn, an der Oder das Polnische. Und wenn es gut funktionierende Städtepartnerschaften gibt - warum nicht Kursangebote in Dänisch, Tschechisch oder Russisch? Selbst vermeintlich exotische Sprachen wie Japanisch oder Chinesisch können im Zeitalter der "global player" sinnvolle Angebote darstellen. Nicht zuletzt kann das bilinguale Sprachpotential der bei uns lebenden Ausländer - aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Griechenland und der Türkei, aus Italien, Spanien und Portugal - noch viel stärker genutzt werden zur Förderung von Fremdsprachenkenntnissen - und zur Förderung von Europabewusstsein.
Schließlich sind Sprachen viel mehr als nur Werkzeuge zur Verständigung. Sie stellen die Basis jeder interkulturellen Kompetenz dar, erweitern unser Wissen vom anderen und relativieren zugleich die eigene Weltsicht. Wilhelm von Humboldt hat gezeigt, dass unser Denken, unsere Weltsicht immer sprachvermittelt ist und jede einzelne Sprache eine eigene, unverwechselbare Sicht der Welt eröffnet. Durch die Auseinandersetzung mit fremden Sprachen werden Perspektiven und Betrachtungsmöglichkeiten bewusst, die uns ansonsten verschlossen blieben. Jede Fremdsprache lässt ein Stück weit eine neue Sicht der Dinge, gerade auch des Alltagslebens eines Volkes erkennen, vermag Fremdheiten und Feindbilder abzubauen und Verständnis und Toleranz zu fördern. Goethe hat diese fremdsprachliche Toleranzförderung so ausgedrückt: "Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei."
Erst die Kenntnis der Sprachen anderer Völker eröffnet einen umfassenden Zugang zu ihrer Kultur, lässt neben den Unterschieden auch das Gemeinsame bewusst werden. Diese Perspektivenerweiterung ist für den weiteren Prozess der Einigung Europas, auch für die Entwicklung und Vertiefung eines Europabewusstseins von großer Bedeutung. Schließlich weckt der Gedanke eines immer enger zusammenrückenden, auch kulturell immer mehr sich angleichenden Europas bei nicht wenigen EU-Bürgerinnen und Bürgern Vorbehalte und auch Ängste. Der Sorge vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität entspricht die Befürchtung, von anonymen Bürokratien in Brüssel oder Straßburg ohne Rücksicht auf nationalstaatliche oder regionale Interessen, aber auch kulturelle Eigentümlichkeiten regiert zu werden.
Gegen diese Ängste und Befürchtungen hilft nur Aufklärung, Information. Der Prozess der europäischen Einigung zielt keineswegs auf Vereinheitlichung, gar Planierung der einzelnen Kulturen und Sprachen - ganz im Gegenteil. Ziel ist vielmehr ein in sich differenziertes, kulturell wie sprachlich vielfältiges Europa. Die Sprachenvielfalt Europas ist insofern der linguistische Prüfstein des Subsidiaritätsprinzips einer Europäischen Gemeinschaft, die nicht nur die Nationalsprachen, sondern auch Regionalsprachen wie Bretonisch oder Sorbisch und ebenso Minderheitensprachen wie Romans erhalten und schützen will. Die schöne Pluralität der Sprachen Europas spiegelt die kulturelle Vielfalt unseres Kontinents - eine Differenziertheit, die eben nicht primär ein Verständigungshindernis im ökonomischen Prozess, sondern vor allem immensen kulturellen Reichtum bedeutet. Ihn zu erhalten, liegt im Interesse aller Europäer. Deshalb ist sprachliche Vielfalt weit mehr als ein sympathisches Anhängsel der wirtschaft Die Erhaltung der Sprachenvielfalt, übrigens auch der alten europäischen Kultursprachen Latein und Griechisch, bildet vielmehr eine Grundvoraussetzung für ein friedlich zusammenwachsendes, demokratisches Europa, in dem die einzelnen Kulturen und Sprachen sich wechselseitig bereichen.
Das "Europäische Jahr der Sprachen" macht deutlich, dass die Sicherung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Europa eine uns alle betreffende Aufgabe ist. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sehen hier eine zentrale europapolitische Verpflichtung. Die Förderung von Europabewusstsein durch erweiterte Kenntnisse anderer Sprachen und Kulturen kann jedoch nur so weit erfolgreich sein, wie wir unsere Muttersprache beherrschen und wie sorgfältig und verantwortungsbewusst wir sie gebrauchen. Beides gehört zusammen, in beiden Bereichen ist auch über das "Europäische Jahr der Sprachen" hinaus vieles zu tun.
Dazu können alle beitragen, denen die deutsche Sprache und die europäische Sprachenvielfalt am Herzen liegt - Germanisten und fremdsprachliche Philologen, Natur- wie Kulturwissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse auch weiterhin in Deutsch publizieren, Journalisten und Lehrer, die sich um richtiges und verständliches Deutsch bemühen und übrigens selbstverständlich auch Politiker.
Am besten fangen wir alle bei uns selbst, beim eigenen Schreiben und Sprechen an. Die hochgehaltene Feder in der Zeichnung von Günter Grass ist ein eindringlicher Appell, die Chance zu nutzen, im größer werdenden Europa Eigenes und Fremdes zu verbinden, verantwortungsvoll und sensibel mit unserer Muttersprache, weltoffen wie tolerant mit den Sprachen anderer Länder und Kulturen umzugehen."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2001/pz_0103161