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109/2006
Datum: 05.04.2006
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heute im Bundestag - 05.04.2006

Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl unter Experten strittig

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Anhörung)/Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Anhörung)

Berlin: (hib/SUK) Auch 20 Jahre nach der verheerenden Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind sich Experten uneins über die Auswirkungen des Unglücks. Dies wurde bei einer öffentlichen Sitzung des Umweltausschusses am Mittwoch deutlich. Während Wolfgang-Ulrich Müller vom Institut für Medizinische Strahlenbiologie und Melissa Flemming, Sprecherin der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) in Wien, von 4.000 Toten infolge der Bestrahlung sprachen, verwies Angelika Claußen, Vorsitzende der Deutschen Sektion Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, auf Quellen, die von 8.000 bis 22.000 Toten ausgehen. Der IAEA warf Claußen vor, in ihrem Bericht, den sie gemeinsam mit anderen Organisationen erstellt hat, "viele Daten manipuliert" zu haben und damit "keine redliche Wissenschaft" zu betreiben. Aus Originalquellen, die auch der IAEA zugänglich gewesen seien, gehe hervor, dass von den 600.000 bis 1.000 000 Aufräumarbeitern, die nach dem Unglück eingesetzt worden seien, 90 Prozent schwer erkrankt seien. Dabei handele es sich nicht nur um Krebserkrankungen, sondern auch um hirnorganische Erkrankungen, Schädigungen der Sinnesorgane, der Atemwege und Verdauungsorgane sowie psychische Krankheiten. Müller hingegen war der Ansicht, man müsse die Strahleneffekte von anderen Faktoren trennen. Es sei insbesondere in den hoch belasteten Gebieten zu einem Anstieg der Schilddrüsentumore und Leukämieerkrankungen gekommen. Man müsse jedoch in Rechnung stellen, dass es zu einem Teil der Erkrankungen auch ohne das Reaktorunglück gekommen wäre, zudem spielten Faktoren wie das desolate Gesundheitssystem im Land, Alkoholismus und Selbstmorde eine Rolle. Man dürfe den Menschen in der betroffenen Region nicht immer wieder sagen, sie seien so verstrahlt, dass es keine Hoffnung gebe - vielmehr müsse man ihnen Hoffnung machen. Diese Einschätzung wurde von Melissa Fleming geteilt. Sie betonte, man habe für die Region um Tschernobyl auch im Bereich der Umwelt wieder "annehmbare Werte" und müsse im Umgang mit den betroffenen Menschen "umdenken". "Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Krankheiten" stellten "größere Probleme als die Verstrahlung" dar. Nötig seien heute in erster Linie Konzepte für die Lagerung des hoch verstrahlten Abfalls und die instabile Schutzhülle des Reaktors. Der deutsche Botschafter in Kiew, Dietmar Stüdemann, machte darauf aufmerksam, dass es nicht allein um Zahlen gehe - diese seien immer wieder Gegenstand von Manipulationen. Zudem gebe es anders als in Deutschland in der Ukraine nach wie vor keine öffentliche Diskussion um die Auswirkungen des Reaktorunglücks. Die Menschen hätten zwar eine "Überlebensstrategie" entwickelt, wüssten aber nicht, "wie es weiter geht". Dass bereits seit einiger zeit wieder Menschen in der 30-Kilometer-Sperrzone um Tschernobyl leben, sei ein "Zeichen der Verzweiflung". Auch Wolfgang Faust, Wirtschaftsattaché der Deutschen Botschaft in Minsk, warnte davor, sich von Statistiken blenden zu lassen, denn damit reduziere man in unzulässiger Weise "menschliche Einzelschicksale auf Druckerschwärze und Zahlen". Das Problem sei "noch längst nicht bewältigt". Im Zentrum Europas befinde sich ein riesiges entsiedeltes Gebiet, das wirtschaftlich nicht nutzbar sei. Insbesondere Weißrussland und die Ukraine könnten die finanziellen Aufwendungen, die nötig seien, nicht aufbringen. Daher sei die humanitäre Hilfe, die allein aus Deutschland jährlich 20 Millionen Euro umfasse, weiterhin dringend nötig. Faust betonte eindringlich, Technik sei "niemals sicher" - daher müssten für die Energieversorgung "andere Konzepte als Kernkraft" gefunden werden. Auch Dietrich von Bodelschwingh, Vertreter der Organisation "Heim statt Tschernobyl" und Angelika Claußen appellierten an die Abgeordneten, sich gegen die weitere Nutzung von Atomenergie einzusetzen. Liesel Hartenstein, ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Umweltausschusses, gab zu bedenken, es sei "gespenstisch", wie auch 20 Jahre nach der Katastrophe dieselben Argumente hin und her gewendet würden - man "trete auf der Stelle". Experten für Reaktorsicherheit betonten, man habe in Deutschland einen hohen Sicherheitsstandard. Kurt Kugeler, Professor für Reaktorsicherheit in Aachen, sagte, die Entwicklung einer "ausgeprägten Sicherheitskultur" sei eine internationale Aufgabe, in die "alle Fortschritte implementiert" werden müssten. Umweltforscher Klaus Traube, selbst ehemaliger "Atomkraftmanager", warnte vor zu großer Sorglosigkeit: Leichtsinn, Unfälle und menschliches Versagen gebe es überall. Doch weil die Atomkraftanlagen mit einem "hohen Grad an Sicherheit" ausgestattet seien, rechne niemand damit. Dies sei ein Fehler.
Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/hib/2006/2006_109/05
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