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Datum: 23.03.2002
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Pressemeldung des Deutschen Bundestages - 23.03.2002

Bundestagspräsident Thierse fordert Mut und demokratisches Engagement für Ostdeutschland


"Zukunft Ost. Die deutsche Einheit in europäischer Perspektive" ist das Thema eines Vortrags von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei einer Veranstaltung der Akademie für zahnärztliche Fortbildung am 23. März 2002 im Kongresszentrum Karlsruhe. In seiner Rede führte Bundestagspräsident Thierse u.a. aus:

"Die wirtschaftliche Situation gerade in den neuen Ländern ist kompliziert, unbequem, widersprüchlich. Sie hinterlässt sehr kenntlich auch Spuren hier im Westen, nicht nur auf dem eigenen Kontoauszug (Stichwort Solidarbeitrag) oder in den Statistiken der Wirtschaftsinstitute. Die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit ist unerträglich. Und besonders dramatisch ist die Abwanderung junger Menschen, die den Osten Schritt für Schritt vergreisen lässt. Manche Unternehmen erfreuen sich zwar immer noch an dem zusätzlichen Absatzmarkt, die die sog. neuen Länder seit 12 Jahren auch darstellen. Aber der Illusion der blühenden Landschaften folgte bald wachsende Skepsis und schließlich eine resignative Gleichgültigkeit: Man winkt ab, will von den Sorgen und Nöten der Ostdeutschen lieber nichts mehr hören. Vorurteile wie, die Ossis schaffen das ohnehin nicht oder sie begreifen es einfach nicht, machen hinter vorgehaltener Hand die Runde. Umso erfreulicher ist es, dass Sie mich hierher eingeladen haben, um über Ostdeutschland zu sprechen!

Tatsächlich befinden sich Ost und West in einem erheblichen Wandlungsprozess und den haben wir - auch im Westen - noch lange nicht bewältigt. Es besteht deshalb weder Anlass zur Resignation noch zu westdeutscher Überheblichkeit. Ich sage sogar: Ostdeutschland kann vom Westen nicht mehr viel lernen. Aber ohne den Westen geht es zwangsläufig auch nicht. Diese These zielt auf das politische Konzept, das dem Aufbau Ost zugrunde liegt.

Nach 12 Jahren Einheit, nach 12 Jahren des Aufbaus ändert sich unweigerlich der Deutungsrahmen. Bisher haben wir von Übergangsproblemen gesprochen, haben auf Alt- und Erblasten der DDR verwiesen. Bislang galt, dass die Entwicklung Ostdeutschlands sich allmählich auf westdeutsches Niveau zubewegt und zubewegen muss. Das westdeutsche Niveau galt über Jahre hinweg als "das Maß aller Dinge". Wir hatten uns angewöhnt, den Stand der deutschen Vereinigung am Fortschritt der ostdeutschen Anpassung an westdeutsche Standards zu messen. Das war das Grundmuster.

Wir pflegten im Grunde genommen - um es mit einem Wort von Richard von Weizsäcker zu sagen - eine "Utopie des status quo": Für den Osten war es ein ehrgeiziges Ziel, für den Westen ein teures Unterfangen. Der Import des Modells (West-)Deutschland bedeutete Orientierung auf der einen, der Export ein unverhofftes Maß an Selbstbestätigung auf der anderen Seite.

Diese Vorgabe verschaffte politische und rechtliche Stabilität. Die westdeutsche Bereitschaft, sich auf das kaum noch zu erwartende Experiment der deutschen Vereinigung einzulassen und den Osten in außerordentlichem Maße zu unterstützen, ist eine große Leistung, die wir dankbar anerkennen.

Uneingeschränkt kann gelten: der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie, rechtsstaatlicher Verwaltungen und einer unabhängigen Justiz nach dem westdeutschen Muster sind ein Erfolg.
Die ökonomische Bilanz sieht im Vergleich zur politischen problematischer aus - und das nicht erst seit 2001, sondern bereits seit 1997. Während sich die ostdeutsche Wirtschaft zunächst nach dem wirtschaftlichen Kollaps bis ins Jahr 1995 mit zweistelligen Wachstumsraten entwickelte, ist der Osten seit 1997 gegenüber dem Westen sogar wieder zurückgefallen.

Die strukturelle Schwäche der Wirtschaft der neuen Länder ist noch derart groß, dass sie selbst bei einer konjunkturellen Aufwärtsphase nicht mit der Wirtschaft in den alten Bundesländern mithalten könnte. Seit dem jüngsten Abschwung ist das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt zum ersten Mal seit zehn Jahren rückläufig. Und selbst für das Jahr 2002 dürfte nach einem Bericht des Instituts der Deutschen Wirtschaft "die Stagnationslinie nur knapp überschritten werden".

Fazit: Die Schere zwischen Ost und West schließt sich nicht weiter. Die Hoffnung auf schnelle Angleichung hat sich als Illusion erwiesen.

Man darf in Rechnung stellen, dass wir aus dem Einigungsprozess eine ungeheure Staatsverschuldung übernommen haben, die - trotz intensiver Bemühungen - nicht über Nacht abgebaut werden kann. Kein anderes EU-Land ist in einer vergleichbaren Situation. Keines teilt sich ökonomisch in zwei so gegensätzliche Regionen: die eine gilt im allgemeinen als Lokomotive für ganz Europa, die andere ist nach EU-Kriterien eine der ärmsten ganz Europas. Das kann nicht folgenlos bleiben - es sei denn, man schriebe den Osten einfach ab.

Allerdings würde das erst recht und dauerhaft Kosten verursachen. Es zeichnet die Bundesrepublik doch aus, dass wir uns anstrengen, den östlichen Teil vom Tropf nehmen zu können. Die Alternative wäre doch, der EU eine für lange Zeit zu subventionierende Region zu übergeben.

Auch und gerade mit Blick also auf die Regeln, die wir uns in der EU gegeben haben, erweisen sich bisherige Zielvorstellungen von der Angleichung des Ostens als Wunschvorstellungen. Auf dem Wege der bloßen Nachahmung wird der Osten Deutschlands jedenfalls mit dem Westen nicht gleichziehen können.
Mein Rat lautet deshalb, das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse zwar nicht aufzugeben - es hat schließlich Verfassungsrang - , aber über die Mittel und Methoden neu nachzudenken - und dies alles mit Blick auf das sich erweiternde Europa.

Doch wir tun uns schwer damit. Die Probleme sind nicht immer offensichtlich. Viel hat sich in den ostdeutschen Ländern verändert. Die Tiefe des gesellschaftlichen Umbruchs verschwindet unter einer Oberfläche, die dem Westen immer ähnlicher wird. Das Straßenbild zeigt renovierte Fassaden, bekannte Reklame, volle Auslagen, notorischen Parkplatzmangel. Auf der Suche nach "dem Osten" mag der Westbesucher erst an der Sprache, an der Art des Umgangs, vielleicht am selten freundlichen Ton fündig werden. Manch ein Besucher meint, nur die Menschen passten noch nicht ins vertraute (westliche) Bild.

Uns Ostdeutsche, das haben wir inzwischen eingesehen, verbindet die Geschichte mehr, als uns selbst manchmal lieb ist. Der Kern der ostdeutschen Identität, eine ausgeprägte Betonung von Gleichheit und Gerechtigkeit, gilt nicht selten als verstaubt und unmodern, als "mentales Problem". Ich sehe darin mehr eine Chance. Die in der ostdeutschen Gesellschaft ausgebildeten Kulturmuster sind kein Zukunftshemmnis schlechthin - die gemeinschaftsbezogenen Einstellungen der Menschen, ihre tragfähigen, nicht nur ökonomisch begründeten "Beziehungsnetze", ihr Improvisationstalent. Ich sehe in diesen Kulturmustern eine große nutzbare soziale und mentale Kompetenz.

Allerdings brauchen wir eine neue Philosophie, ein zukunftsorientiertes Konzept für Ostdeutschland, ein politisches Leitbild, so dass wir die Leistungen und Erfolge, die sozialen und mentalen Kompetenzen der Ostdeutschen ins rechte Licht rücken können.

Also weg vom Nachahmungskonzept und hin zu neuen Weichenstellungen. Die Stichworte für die Zukunftsfähigkeit des Ostens sind "mehr Chancen", "höhere Eigenverantwortung", "gelingende Integration der kommenden Generation". Nichts davon ist wirklich "ostspezifisch", aber alles hängt davon ab.

Diese Stichworte für die Zukunftsfähigkeit verweisen uns direkt auf die drei großen Herausforderungen der Zukunftsgestaltung:

Erstens haben wir noch einmal neu nachzudenken über die Demokratiegestaltung in Ostdeutschland, über die wirkliche Aneignung und Nutzung demokratischer Institutionen.

Zweitens ist dringend die Frage zu diskutieren, wie in der zweiten Phase des Aufbaus Ost eine echte wettbewerbs- und zukunftsfähige Wirtschaft geschaffen werden kann.

Und drittens ist zu überlegen, wie Ostdeutschland beides - politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität - nicht trotz, sondern vermittels des europäischen Einigungsprozesses fördern kann.

Erstens zur Demokratiefrage: Sie stellt sich nur beim ersten Blick vor allem dem Politiker. Auch Investoren verlangen nach stabilen rechtlichen Rahmenbedingungen, nach dem Staat als Garanten von Stabilität. Ich denke dabei an den Zustand der Gesellschaft, an ihre Fähigkeit zu Wandel und Ausgleich, zu Innovation und Gerechtigkeit, zur Selbstregulation ihrer Konflikte, zur Entfaltung ihrer geistigen und materiellen Potentiale.

Das bisher dominierende Muster des Aufbaus Ost - nämlich Alimentierung statt Selbstorganisation - führte in vielen Bereichen zur Blockade selbsttragender Prozesse, zu einer Lähmung von Initiative und Kreativität. Die neue Zukunftsdebatte Ost muss nicht nur auf die Reform vorhandener Institutionen zielen, sondern damit auch Verfahren verbinden, die Passivität und Lähmung und eine spezifisch ostdeutsche Larmoyanz überwinden helfen.

Der Sinn und Zweck von demokratischen Institutionen ergibt sich aus der Fähigkeit, sie anzuwenden. Passiv übernommene Regeln und Gesetze, die sich als nicht passfähig zu den Verhältnissen oder lähmend für Engagement erwiesen haben, gehören auf den Prüfstand.
Helmut Schmidt hat vor einiger Zeit gefordert, die Fülle der für den Osten lähmenden Richtlinien und Paragraphen zu lichten. Das könnte es sein - aber nur, wenn dies nicht wiederum von oben, sondern von unten, nach Maßgabe der Verhältnisse vor Ort geschieht. Das heißt konkret: Deregulierung, wo es den Akteuren hilft. Neue Regeln, wo die Verhältnisse strukturelle Benachteiligungen darstellen.

Wo der Geist einer Bürgergesellschaft lebendig ist, wo freiwillige Kooperation und regionale Netzwerke funktionieren, gedeiht auch Unternehmergeist, wächst der Mut zur Selbständigkeit.

Dieses soziale Kapital der Bevölkerung - das lehrt uns die Geschichte - ist kein politisch-kultureller Schnörkel, sondern das Unterpfand freier wirtschaftlicher Entwicklung.

Der Lernprozess in Sachen Demokratie ist allerdings langwierig und kompliziert. Die Demokratie und die rechtsstaatlichen Prinzipien als kostbares Angebot für Freiheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erkennen, bedarf der immer neuen Vermittlung demokratischer Werte, des Ausprobierens demokratischer Verfahren, der dauerhaften Beteiligung möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger. Diesem Lernprozess müssen wir weiter die Wege ebnen - innerhalb wie außerhalb der klassischen Parteienlandschaft.

Zu viel Kreativität und Fantasie ist brach liegen geblieben bei dem Versuch, jeweils nur zu kopieren, was im Westen funktioniert. Wenn die Politik mehr Eigenverantwortung, eine neue Mündigkeit fordert, wenn die Menschen nicht mehr darauf warten sollen, dass alles von oben und von anderen geregelt wird, jenes unselige autoritäre Erbe aus DDR-Zeiten oder sogar noch aus früheren Zeiten, dann heißt das, statt Resignation oder Larmoyanz zu pflegen - Selbstbehauptung zu üben. Mut und demokratisches Engagement sind in den neuen Ländern gefragt - mehr denn je.

Das von mir schon mehrmals erwähnte Grundmuster der Nachahmung war alternativlos, war die Bestätigung des status quo "West". Es verdrängte gleichzeitig das Bewusstsein der Reformbedürftigkeit im Westen. Ich nenne als Stichpunkte das Gesundheitswesen, die Hochschulen, die Bildung, die Arbeitsverwaltung. Alle diese Bereiche sind doch nicht erst seit heute reformbedürftig, sondern waren es schon 1990.

Das heißt: Wir haben reformbedürftige Systeme auf den Osten übertragen. Das lässt sich nicht rückgängig machen, aber es wäre eine Chance, wenn die Ostdeutschen aufgefordert, eingeladen würden, aus dieser Erfahrung der Übernahme "kränkelnder" Systeme selber Reformvorschläge zu entwickeln. Wenn sie damit auch noch Gehör fänden, wären sie nicht mehr länger in der Situation des Lehrlings, sondern gleichberechtigte Beteiligte an gesamtdeutschen Reformen.

Nun zur zweiten großen Herausforderung: dem Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft: Wie kann die Wirtschaftskraft im Osten derart wachsen, dass Subventionen überflüssig werden?

Für einen "zweiten Anlauf" für die ostdeutsche Wirtschaft ist das positive Signal des Solidarpakts II ein wichtiger Pfeiler. Solidarpakt II und Länderfinanzausgleich sind nicht zu unterschätzende Leistungen der Bundesregierung und der Länder. Sie bilden den verlässlichen Rahmen für die weitere Entwicklung, ein Fundament. Dieses allein reicht aber nicht aus. Eine auf lange und mittlere Sicht konzipierte Struktur- und Standortpolitik muss hinzukommen.

Die Vorschläge, die ich zu unterbreiten habe, sind so oder anders durchaus schon im Gespräch. Sie zu wiederholen, schadet nicht. Man muss sie gelegentlich in der politischen Auseinandersetzung pointieren. Denn entgegen mancher Ratlosigkeit gibt es meines Erachtens genug Chancen, die wirtschaftlichen Probleme zu meistern, wenn man sich über einige Grundsätze verständigt und sich auf diese konzentriert.

Erstens: Wir müssen uns an realistischen Zielen orientieren.
Der entscheidende Indikator für die ökonomische Leistungsfähigkeit ist das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner. Ostdeutschland lag 1991 bei etwas 30 % und seit 1996 mehr oder weniger unverändert bei gut 60 % des westdeutschen Niveaus. Anzustreben wäre zumindest ein Niveau von 80 % des westdeutschen Bruttoinlandsproduktes pro Einwohner in den nächsten 10-15 Jahren. Dann hätten die ostdeutschen Länder Anschluss gefunden an die westdeutschen Länder in ihrer Bandbreite, unabhängig von den Unterschieden zwischen dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Regionen und Länder.

Eine solche realistische Zielstellung bedeutet nicht den Verzicht auf "Angleichung" oder besser "Aufholen", denn Verzicht hieße, Ostdeutschland ökonomisch aufzugeben, gewissermaßen einer passiven Sanierung das Wort zu reden. Diese würde gesamtwirtschaftlich aber teurer. Arbeit zum Kapital zu bringen, statt Kapital zur Arbeit macht die Infrastruktur - Schulen, Straßen, Wohnungsbestände - zu teuren Überkapazitäten, nachdem sie gerade in den letzten zehn Jahren mit so viel Geld modernisiert wurden.

Zweitens: Öffentliche Investitionen vorziehen.
Das festgestellte Infrastrukturdefizit des Ostens muss schneller als geplant behoben werden. Im Rahmen des bis 2019 ausgelegten Solidarpakts ist es wichtig, dass ab 2004 zunächst größere Investitionen erfolgen und später weniger ausgegeben werden kann. Neben Verkehr und kommunalen Diensten gibt es bei Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen den größten Nachholbedarf. Solche Investitionen lägen auch auf der Linie einer aktiven Strukturpolitik in Richtung Forschung und Technologie. Und je eher und intensiver wir investieren, desto schneller sinkt - so hoffe ich - die Abwanderungsquote. Was helfen uns gut entwickelte Regionen in 15 Jahren, wenn sie menschenleer sind?!

Drittens: Weiter Investoren für Ostdeutschland gewinnen - durch Standortprofilierung.
Angesichts der Ertragsschwäche ostdeutscher Unternehmen ist ein selbsttragender Aufschwung aus eigener Kraft immer noch nicht denkbar. Ostdeutschland braucht mehr Großunternehmen. Sie sind Motor für Zulieferer, für regionale Wertschöpfungsketten, für Export und für Innovation. Aus dieser Sicht ist es natürlich verheerend, wenn die Möglichkeiten staatlicher Investititonsförderung aus EU-rechtlichen Gründen beschnitten werden.
Der Weg, der politisch offenbar gefunden wurde, die zusätzliche Beschränkung der staatlichen Investitionsförderung auf 2004 zu verschieben, ist durchaus eine Erleichterung: Investieren Sie jetzt in Ostdeutschland. Die Region braucht diesen neuen Schub! In zwei Jahren könnte die öffentliche Investitionsförderung zudem deutlich niedriger ausfallen.

Die Profilierung als Wachstumsregionen erfordert aber auch Abschied zu nehmen von der Vision einer gleichmäßigen Entwicklung aller Regionen. Gefördert werden sollten mehr regionale Branchennetzwerke, die sich zu Clustern oder Kompetenzzentren zusammenschließen. Dies können sich dadurch Vorteile beim Ressourcenmanagement, beim Einkauf und bei der Vermarktung verschaffen. Sie können sich eine ständige Management-Beratung und Ausbildungsinfrastruktur leisten. All das wirkt als Standortfaktor für neue ansiedlungswillige Unternehmen.

Es gibt dafür gute Beispiele: Chemnitz ist mir hier besonders gegenwärtig, weil ich dort öfter zu Beginn der 90er Jahre war und die Anfangsschwierigkeiten gesehen habe. Inzwischen ist Chemnitz wieder ein attraktiver Maschinenbaustandort - eben durch die Schaffung solcher Netzwerke und den Zusammenschluss kleinerer Unternehmen. Ich nenne andere Beispiele: den Biocon-Valley-Verbund in Mecklenburg-Vorpommern, der die Zusammenarbeit leistungsfähiger Unternehmen der Biotechnologie und der Medizintechnik in der Region organisiert. Ich nenne das Netzwerk mitteldeutscher Kunststofftechnik in Standorten Böhlen, Schkopau und Leuna, sowie Biotechnologie und Medien im Raum Halle-Leipzig. Ich nenne den Forschungsverbund der Biotech-Wirtschaft und den biotechnologischen Forschungsverbänden in Berlin-Brandenburg. Ich nenne den Solarverbund Ost mit dem Kompetenzzentrum in Freiberg. Es gibt genug positive Beispiele dafür, diese Verbundformen systematisch zu unterstützen und nicht mehr an einer flächendeckenden Erfolgsgeschichte festzuhalten. (Zukunftsweisend ist auch das Programm Futour 2000 - ein spezielles Förderprogramm für technologieorientierte Exostenzgründungen.)

Viertens: Wissenschaft und Forschung ausbauen.
Die Strukturpolitik muss an Vorhandenem anknüpfen - neben den regionalen Wachstumspolen besonders an den Potentialen der Hochschulen und Forschungszentren. Ostdeutsche Hochschulen haben weniger Studenten, dafür aber bessere Studienbedingungen (z.B. modernere Labore), kürzere Studienzeiten, niedrigere Abbrecherquoten.

Die Hochschulen stehen an der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Forschungssystemen, aber auch an der zwischen Wirtschafts- und Beschäftigungssystem. Hier wird wertschöpfungsrelevantes Wissen erzeugt und Beschäftigungsfähigkeit hergestellt. Politisch werden sie aber nur über die erste Schnittstelle gesteuert. Für die regionale Strukturpolitik stellen sie so etwas wie einen Umweltfaktor dar. Hochschulpolitik muss aber ein Element der regionalen Strukturpolitik werden, weil es für Ostdeutschland nach den Versuchen der Wiederbelebung industrieller Kerne vor allem ein zukunftsträchtiges Leitbild gibt: die mittelständisch geprägte innovative Region. Diese braucht intelligente und innovative Kapazitäten, Gründerpersönlichkeiten und Spitzenqualifikationen - Angebote, für die unsere Hochschulen ganz wesentlich mit zuständig sind.

Fünftens: Niedriglöhne und Produktivität schließen einander aus.
Ostdeutschland ist immer noch - und für viele kleine und mittlere Unternehmen oft notwendigerweise - Niedriglohngebiet. Langfristig und grundsätzlich hat Ostdeutschland als Niedriglohngebiet jedoch keine Chance, weil eine Wirtschaft, die auf moderne Technologien setzt, damit unvereinbar ist. Die Abwanderung von Fachkräften würde zunehmen und eine Produktivitätsangleichung käme nicht zustande. Im Wettbewerb mit den osteuropäischen Niedriglohnanbietern haben ostdeutsche Unternehmen schon heute die schlechteren Karten.

Sechstens: Den ökologischen Strukturwandel für den ländlichen Raum nutzen.
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern habe schon einen beachtlichen Anteil an ökologisch bewirtschafteter, landwirtschaftlicher Nutzfläche, weil hier Großbetriebe auf ökologischen Landbau umgestellt wurden. Es fehlt aber an Verarbeitungs- und Vertriebskapazitäten. Die Agrarwende sollte hier Ansätze bieten, neue Wertschöpfungsketten zu erschließen. Auch die Bio-Energie-Gewinnung könnte wegen der großen Flächen wirtschaftlicher genutzt werden als anderswo.

Siebentens: Neue Formen der Arbeitsmarktpolitik entwickeln.
Die angekündigte Einführung der Kombilohns ist ein Schritt, um Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Bedeutsamer ist die Reform der Arbeitsförderung nach dem neuen Job-Aqtiv-Gesetz. Dieses könnte für die besonderen Ost-Probleme neue Spielräume bringen. (Programm "Jump": Ausbildungslehrprogramm für 250.000 junge Menschen; zusätzlich gibt es ein Ausbildungsprogramm Ost für 50.000 Ausbildungsplätze.)

Achtens: Regionale und betriebliche Modelle gegen Abwanderung junger, qualifizierter Menschen entwickeln.
Die starken Geburtsjahrgänge der achtziger Jahre treffen nach ihrer Ausbildung auf eine besonders ungünstige Konstellation des ostdeutschen Beschäftigungssystems, die sogenannte "zweite Schwelle". Um diese durchlässig zu machen, brauchen wir Übergangslösungen. Abwanderung zu vermindern oder Rückkehroptionen zu stärken ist eine Zukunftsaufgabe. Denn die kommende ostdeutsche Generation ist - allen Vorurteilen zum Trotz - ehrgeizig, mobil und leistungsbereit. Besonders trifft das auf die jungen Frauen zu, die gegenwärtig - um ihrer Berufschancen willen - am stärksten abwandern.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, wäre eine provisorische Einbindung Ausgelernter mit dem Ziel gleitender Übergänge zwischen den Generationen in den Betrieben denkbar. Damit würde auch der Überalterung der Beschäftigten in ostdeutschen Unternehmen entgegengewirkt werden. Also ich plädiere für Beschäftigungsbrücken - gewissermaßen als Verbindung auch von Alters- und Jugendteilzeit. Denn wir brauchen die jungen Menschen, die jetzt nach Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg oder Nordrhein-Westfalen abwandern. Sie fehlen uns, wenn die jetzigen älteren Jahrgänge - übrigens auch starke Jahrgänge - in Rente gehen.

Mecklenburg-Vorpommern hat sich ein Programm einfallen lassen, um junge mobile Menschen, die in den Westen gehen, zu motivieren, in ihre Heimat in ihre Firmen zurückzukehren. In dieser Frage der "Heimatbindung" sind Kommunen und Betriebe gleichermaßen zuständig und in ihrer Fantasie gefragt.

Ich komme zum letzten Schwerpunkt meiner Überlegungen: Wer über die Chancen Ost nachdenkt, wird sehr schnell bei der Erweiterung der Europäischen Union landen. Sie steht in naher Zukunft bevor.

Ostdeutschland gerät dann aus der europäischen Randlage in die Mitte der EU. Und ich behaupte: Gerade darin liegt unsere Chance. Ostdeutschland liegt eben nicht am unteren Ende des Stiefels, sondern mittendrin.

Gewiss: Wirtschaftlich gesehen birgt die Osterweiterung auch Risiken: So fallen - nach einer Schonfrist - die Barrieren für den freien Verkehr von Dienstleistungen und Arbeit zwischen Regionen, die sich ökonomisch dramatisch voneinander unterscheiden. Und auf diese Entwicklung müssen wir uns vorbereiten. Wenn wir uns abschotten, fegt die wirtschaftliche Dynamik des Erweiterungsprozesses über Ostdeutschland wie ein Sturm hinweg. Und Stürme hinterlassen, wie man weiß, ebenfalls Schäden. Die Erweiterung sollte aber doch auch für Wachstum und Wohlstand sorgen.

Augenblicklich gelten die allgemein niedrigeren Löhne in Ostdeutschland noch als Chance im Wettbewerb mit Westdeutschland. Mit der Erweiterung werden die neuen Mitgliedsländer im Osten auf längere Sicht den Wettbewerb um niedrige Löhne gewinnen. Das heißt zum Beispiel, dass die teilweise noch vorhandene Orientierung für Ostdeutschland als Niedriglohngebiet obsolet wird.

Wir brauchen ein Leitbild für unsere Region, das ich mit dem Begriff "europäische Verbindungsregion" beschreibe. An dieser Stelle will ich noch einmal den Westen als Beispiel nennen: hier, in der Nähe Frankreichs, in Rheinland-Pfalz, in NRW schöpft man einen erheblichen Teil der Wirtschaftskraft aus der Region, die immer die unmittelbaren europäischen Nachbarn einschließt. Mit welchen Waren und Dienstleistungen das geschieht, wird an den Grenzen zu Polen und Tschechien anders sein. Als europäische Verbindungsregion eröffnen sich offensichtlich Chancen für Ostdeutschland: Damit würden Prioritäten gesetzt, etwa in der regionalen und überregionalen Verkehrs- und Raumplanung, in der Förderung von Dienstleistern, die ihre Kunden und Märkte in der neuen gesamteuropäischen Arbeitsteilung suchen, und natürlich auch bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung. Worauf es ankommt, ist, dass jetzt die neuen Konzepte und Strategien entwickelt und umgesetzt werden, dass sich Ostdeutschland auf diese Rolle als Verbindungsregion aktiv vorbereitet.

Es geht darum, Ostdeutschland als Anbieter von Dienstleistungen und Produktionen zu qualifizieren, die sowohl im Osten als auch im Westen der zukünftigen EU nachgefragt werden. Ostdeutsche können außerdem Erfahrungen einbringen, über die man im Westen so nicht verfügt: Erfahrungen aus Zeiten des rasanten Umbruchs, Kompetenzen, die auch für Osteuropäer noch lange wichtig sind.

Es ist an der Zeit, Weichen zu stellen: Weg vom "Weiter so" und hin zu einer neuen innovativen Politik für Ostdeutschland."

24.790 Zeichen

Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2002/pz_020323
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