Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
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Sophie Mühlmann

Drache und Tiger auf Tuchfühlung

Politisch ziehen Indien und China oft an einem Strang

Drache und Tiger sind keine Feinde. Sie sind beide machtvoll und hungrig, doch sind sie keine direkten Gegner - nicht in der Fabelwelt und ebenso wenig auf der internationalen Bühne. China und Indien - mit den plakativen Symbolen Drache und Tiger - werden zwar oft als Antagonisten bezeichnet, als Konkurrenten um die Vormachtstellung in Asien, als Nebenbuhler um das bessere Verhältnis zu Amerika und erbitterte Wettstreiter um vorderste Plätze unter den Wirtschaftsmächten. Doch haben sie die längste Zeit ihrer Geschichte neben- und nicht gegeneinander existiert; sie haben sich gegenseitig beflügelt, manchmal angestachelt, doch nur selten bekämpft. Die zwei Staaten sind eher Rivalen als Widersacher. Und zurzeit ziehen die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde pragmatisch am selben Strang.

In der Vergangenheit haben die benachbarten Kulturnationen ihre Gedanken und Lehren ausgetauscht und bereits vor Jahrhunderten voneinander profitiert. Aus Indien kam der Buddhismus über den Himalaja und entfaltete sich in China zu großer Blüte, chinesische Ärzte und Gelehrte trugen wiederum ihr Wissen auf den Subkontinent. Erst die Kolonialmächte haben die beiden Länder gegeneinander ausgespielt und den regen Austausch ausgetrocknet. Mit Indiens Unabhängigkeit und der Gründung der chinesischen Volksrepublik traten Tiger und Drache schließlich aus der Isolation heraus wieder aufeinander zu.

Jawaharlal Nehru, Indiens erster Premierminister, maß als einer der ersten der neuen kommunistischen Regierung in China nach 1949 große Bedeutung bei, sah er sie doch als entscheidendes Bollwerk gegen den westlichen Imperialismus. Die beiden jungen sozialistischen Regime und aufstrebenden asiatischen Mächte unterstützten sich damals gegenseitig. 1954 unterzeichnete Nehru zusammen mit Mao Tse-Tung in Peking einen Vertrag über friedliche Koexistenz. Sein Traum: "Hindi-Chini Bhai Bhai" - die indisch-chinesische Brüderschaft. Dieser Traum zerplatzte, als Indien 1959 dem Dalai Lama und 1.000 seiner Anhänger Zuflucht gewährte, nachdem die chinesische Volksarmee einen Aufstand in Tibet brutal niedergeschlagen hatte. Und schließlich, drei Jahre später, führten die beiden sogar gegeneinander Krieg: Zwar dauerten die Militäraktionen um das Territorium Ladakh, die Peking 1962 vom Zaun gebrochen hatte, nur knapp einen Monat und endeten in einem Waffenstillstand, doch führten sie zu jahrzehntelangem tiefen Misstrauen. Teile der 3.500 Kilometer langen Grenze blieben bis vor kurzer Zeit umstritten; erst im vergangenen Jahr wurde der Disput auf politischem Wege beigelegt.

Die Wunden, die dieser kurze Grenzkrieg schlug, sind inzwischen verheilt - das erklärte zumindest der indische Präsident A. P. J. Abdul Kalam im Februar in einer Rede in Singapur. Im Juni unterzeichneten Indiens Verteidigungsminister Pranab Mukherjee und sein chinesischer Amtskollege General Cao Gangchuan dann zum ersten Mal ein Memorandum über regelmäßige Kontakte der beiden Verteidigungsministerien und Armeeführungen sowie gemeinsame Manöver.

Seit dem Ende des Kalten Krieges arbeiten China und Indien bereits an einer breiten politischen und wirtschaftlichen Partnerschaft, die mit jedem Jahr enger wird. Im Frühjahr 2005 reiste Chinas Premierminister Wen Jiabao zu einem offiziellen Staatsbesuch in das Nachbarland - die erste Indienreise eines chinesischen Staatschefs seit fast zehn Jahren. "China und Indien", so der indische Außenminister Shyam Saran im Januar in Schanghai, "sind zu groß, um sich gegenseitig zu vereinnahmen, oder von irgendeinem anderen Land vereinnahmt zu werden." Auch er sprach von einer "strategischen und kooperativen Partnerschaft für Frieden und Wohlstand".

Wohlstand ist das Schlüsselwort: Langsam aber sicher verwandelten sich China und Indien in den vergangenen drei Jahrzehnten von Armuts- in relative Wohlstandsländer. Nachdem sich beide - jedes für sich - in den 80er-Jahren vom rigiden sozialistischen Wirtschaftsmodell abgewandt haben, wachsen die Volkswirtschaften auf beiden Seiten des Himalajas, und mit ihnen der bilaterale Handel. Im vergangenen Jahr summierte sich dieser auf 18,7 Milliarden US-Dollar, fast 40 Prozent mehr als 2004. China, so erwarten Experten, wird schon bald die USA als Indiens wichtigsten Handelspartner ausstechen. Indische High-Tech-Unternehmen gründen Zweigstellen in China. Die Firma Infosys zum Beispiel eröffnete jüngst ein Software-Entwicklungszentrum in Schanghai und stellte 200 chinesische Ingenieure ein. Gleichzeitig entdecken chinesische Unternehmen Indien als gigantischen Markt für ihre Produkte. Autos und elektrische Geräte "made in China" werden zunehmend auf den Subkontinent exportiert.

Um den wirtschaftlichen Fortschritt und das fragile regionale Machtgleichgewicht nicht zu stören, werden potenzielle Konfrontationen von den Regierungen pragmatisch umschifft. So sind beide Staaten beispielsweise auf den Import von Rohöl angewiesen: Indien muss 70 Prozent seines Bedarfes einführen, China immerhin 40 Prozent. In der Vergangenheit haben die beiden Länder bereits heftig um Anbieter aus Übersee gestritten, woraus China in den meisten Fällen, wie zuletzt in Nigeria, Kasachstan und Myanmar (Burma), als Sieger hervorging. Anfang des Jahres sind sie aber übereingekommen, in der Ölfrage zu kooperieren statt zu konkurrieren. "Jede Imitation des ,Great Game' zwischen Indien und China wäre eine Gefahr für den Frieden", erklärte Indiens Ölminister Mani Shankar Aiyer nach der Unterzeichnung eines entsprechenden Vertrages im Januar.

Dabei gäbe es durchaus noch anderen Zündstoff zwischen Delhi und Peking. Zum Beispiel Pakistan: China hat Indiens Erzfeind lange finanziell und militärisch unterstützt, nicht zuletzt, um einer indischen Expansion nach Norden und Westen einen Riegel vorzuschieben. Dennoch scheinen Pekings enge Bindungen zu Islamabad nie ein Hindernis für die neue Annäherung zwischen China und Indien zu sein.

Konfliktpotenzial gibt es also genug. Doch im Augenblick drücken beide die Augen zu: Peking hält sich aus der Kaschmirfrage heraus, im Gegenzug mischt sich Indien in der Tibetfrage nicht ein. China unterstützt gar Indiens Wunsch nach einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Das ist nicht ganz uneigennützig, denn damit blockiert Peking Japans Ambitionen. Doch alles in allem fassen sich die beiden Staaten zurzeit überwiegend und bewusst mit Samthandschuhen an. Denn schließlich gibt es doch immer ein Risiko, dass der eine oder andere von ihnen eines Tages den Nationalstolz über die Kooperationsbereitschaft stellt. Oder dass es einer dritten Macht gelingt, einen Keil zwischen China und Indien zu treiben.

Den USA - womöglich im Konzert mit europäischen Partnern - könnte es ja gelingen, die beiden Nuklearmächte noch einmal zu ihrem eigenen geopolitischen oder wirtschaftlichen Vorteil gegeneinander auszuspielen, just wie es in Kolonialzeiten geschah. Washingtons Atomdeal mit Indien etwa hätte das Potenzial eines Funkens am Pulverfass, das unter der chinesisch-indischen Freundschaftspragmatik liegt. Die USA fördern und unterstützen das indische Atomprogramm - unter klarem Bruch sämtlicher früherer außenpolitischer Maximen - um ein Gegengewicht zu China zu schaffen. Peking war über diesen Schritt "not amused". Doch noch überwiegen die gemeinsamen Interessen beim chinesischen Drachen und indischen Tiger. Beide Staaten treten seit ihrer Gründung für eine multipolare Weltordnung ein. Durch ihre enge Zusammenarbeit, das erklärten beide Außenminister deutlich bei gegenseitigen Staatsbesuchen im vergangenen Jahr, möchten sie auch dem wachsenden politischen und ökonomischen Einfluss der USA in Asien, und besonders in Südostasien, einen Riegel vorschieben.

Diese Region zwischen den beiden Großen war schon immer der Schmelztiegel für indische und chinesische Einflüsse - ein äußerst attraktives Gemisch für Kolonialisten und Geschäftemacher. Aus Indien kamen Hinduismus und Buddhismus und die frühen Staatensysteme, aus China kamen die Siedler und vor allem die Händler, die das pulsierende Handelsnetz schufen, das die Region noch heute prägt. Die Volksrepublik China war zunächst strategisch an Südostasien interessiert, unterstützte kommunistische Aufstände und Regime während des Kalten Krieges. Neuerdings gibt sich Peking allerdings diplomatischer.

Indien verfolgt seit den 90er-Jahren eine ostwärts gerichtete Politik und baut seinen Einfluss in Südostasien seit kurzem massiv aus. Inzwischen wetteifern beide Staaten um die lukrativen Konsummärkte, die zwischen ihren Grenzen liegen. Bis vor wenigen Jahren blickten die südostasiatischen Länder eher zu den USA, von denen sie wirtschaftlich und oft auch militärisch abhingen. Inzwischen wenden sie ihre Aufmerksamkeit zunehmend den beiden asiatischen Großmächten zu.

China wie Indien schmieden regionale Allianzen, doch beide vermeiden militärisches Säbelrasseln in der Region. So knüpfte Peking zum Beispiel strategische Partnerschaften mit verschiedenen ASEAN-Staaten. Diese verpflichteten sich unter anderem, in einem potenziellen Konflikt Dritter mit China keine Position zu beziehen. Indien wiederum erbot sich jüngst, sich an den militärischen Patrouillen gegen Terroristen und Piraten in der Straße von Malakka zu beteiligen. Und beide setzen ihren Fuß in die Hinterhöfe des jeweils anderen: Indien verschaffte sich Einlass in den exklusiven Kreis der angestrebten Ostasien-Gemeinschaft und nahm am ersten Gipfel im Dezember vergangenen Jahres in Kuala Lumpur teil. China gelang es wiederum mit Hilfe von Nepal, Bangladesch und Pakistan, als Beobachter und Dialogpartner beim Gipfeltreffen der Südasiatischen Gemeinschaft für Regionale Kooperation (SAARC) im vergangenen November dabei zu sein. Die anderen asiatischen Länder dürfen von einer zunehmenden Kooperation zwischen den beiden Großmächten nur profitieren: Sie können als Vermittler fungieren, als neutrales diplomatisches Territorium oder als Märkte und Produktionsstätten für die hungrige, wetteifernde Wirtschaft von Drache und Tiger.

2006 wurde offiziell zum sino-indischen Freundschaftsjahr erklärt. Seit dem 6. Juli ist sogar die alte Seidenstraße wieder geöffnet: Nach mehr als 40 Jahren haben China und Indien den historischen Nathu-la-Pass wieder passierbar und den Warenaustausch zwischen Tibet und Sikkim möglich gemacht. China hatte sich seit 1975 hartnäckig geweigert, Indiens Einverleibung Sikkims anzuerkennen - jetzt ist es soweit. Ein Symbol: der Handel versetzt Berge.

Sophie Mühlmann ist Asien-Korrespondentin der "Welt" und "Welt am Sonntag" in Singapur.


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