Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
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Subrata K. Mitra

Die Hindu-Bombe

Auf dem Weg in den Club der Atommächte

Die Atomtests von 1998 haben Indien technisch gesehen in den Kreis der Atommächte gesetzt. Indiens Zugehörigkeit zum Club der Fünf - den USA, China, Frankreich, England und Russland -, deren offizieller Status als Atommächte und Zugang zu spaltbarem Material durch Verträge und Sanktionen gesichert ist, bleibt aber stark umstritten. Dabei muss die indische Nuklearisierung an sich als Teil einer größeren Dynamik verstanden werden, die neben den südasiatischen Akteuren Indien und Pakistan auch China und die USA als Hauptinteressenvertreter des internationalen Systems in dieser Frage einbindet. Das von US-Präsident George W. Bush und dem indischen Premierminister Manmohan Singh Ende Februar unterzeichnete Abkommen über eine Kooperation bei der zivilen Nutzung der Atomenergie wirft zudem ein neues Licht auf die Problematik: Es ermöglicht die Aufhebung der Embargos über Indien, sobald der Vertrag vom amerikanischen Kongress ratifiziert ist.

Die Vorstellung von Indien als Atommacht verursacht im Westen nach wie vor Unbehagen. Vor allem bei Indiens "kleineren Nachbarn", aber auch in den USA und innerhalb internationaler Organisationen ist man besorgt, dass regionale Konflikte in diesem Teil der Welt in einen groß angelegten Atomkrieg ausarten oder dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von nicht-staatlichen Akteuren gelangen könnten. Eine Folge dieser Einstellung: Da die indischen Atomtests von 1998 mit ausdrücklicher militärischer Absicht durchgeführt wurden, führten sie zur Verhängung zahlreicher Sanktionen gegen das Land. Ausschlaggebend war dabei die Furcht vor der Entstehung eines "Hindu-Fundamentalismus mit atomaren Krallen" - die Tests wurden von einer hindu-nationalistischen Regierung veranlasst. Man sprach fortan auch von der "Hindu-Bombe".

In der aktuellen Debatte um die Entwicklungen in Indien lassen sich nun zwei gegensätzliche Sichtweisen formulieren: Zum einen könnte die Anerkennung des Atommacht-Status' Indiens, einen Nicht-Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrages (NVV) und andere Länder mit ähnlichen Absichten - wie den Iran - ermutigen, Kernwaffen besitzen oder herstellen zu wollen, und damit die Weltsicherheit gefährden. Zum anderen bestünde die Chance, dass mit Indien als Mitglied im Club der Atommächte das globale Nichtverbreitungssystem effektiver würde. So argumentiert etwa Indiens Außenstaatssekretär Shyam Saran.

Warum überhaupt hat Indien das Risiko internationaler Missbilligung und Sanktionen auf sich genommen, indem es sich öffentlich der Kernkraft zuwandte? Das indische Atomprogramm wurde bereits 1946 unter dem Kernphysiker Homi J. Bhabha ins Leben gerufen. 1948 wurde die Atomenergiekommission (AEC) gegründet, und 1956 sowie 1960 die ersten beiden zivil genutzten Kernreaktoren in Betrieb genommen. Obwohl die Kapazität zur Produktion von Kernwaffen vorhanden war, entschieden sich die politischen Führer seinerzeit gegen die Ausschöpfung dieser Option. Gründe waren ihre moralischen Verpflichtungen, beruhend auf der nach Ende der britischen Kolonialherrschaft verfolgten unabhängigen Außenpolitik, auf Blockfreiheit, Abrüstung und dem Streben nach Partizipation in internationalen Organisationen.

Vor allem der Grenzkrieg mit China 1962 begründete jedoch in Indien die Tendenz, Kernwaffen auch als ultimatives Symbol für den Großmacht-Status anzusehen. Als unter Premierministerin Indira Gandhi der indisch-pakistanische Krieg 1971 und die Parlamentswahlen desselben Jahres gewonnen waren, tes-tete das Land 1974 in einer ersten "friedlichen nuklearen Explosion" in Pokhran seine Kapazitäten auf diesem Gebiet. In den 80er-Jahren entwickelte Indien dann eine Nuklear-Doktrin der "verzögerten Abschreckung", unter der das Arsenal einsatzbereiter Kernwaffen zwar sehr gering war, selbige jedoch sehr kurzfristig hergestellt werden konnten.

Die Tatsache, dass Indien mit einem offiziellen Atombombentest bis 1998 wartete, muss zum einen den unklaren Vorteilen eines solchen Tests zugeschrieben werden - schließlich war zu erwarten, dass Pakistan dem indischen Beispiel folgen würde, was Indiens relativen Vorteil im Hinblick auf konventionelle Waffen aufgehoben hätte. Zum anderen lag es an dem seit den 90er-Jahren verstärkt spürbaren Druck, den Atomteststoppvertrag zu unterschreiben und damit die Chance aufzugeben, einen solchen Test durchzuführen und dem Kreis der Atommächte beizutreten.

Die Befürworter eines nuklearen Indiens waren sich dieser Gefahr bewusst und nahmen erfolgreich Einfluss auf die hindu-nationalistisch dominierte regierende National Democratic Alliance-Koalition (NDA): 1998 wurde die Atombombe getestet und rasch zu einem Symbol indischer Souveränität und Unabhängigkeit stilisiert. Heute geht man davon aus, dass sowohl Indien als auch Pakistan genügend nukleare Sprengköpfe und Auslieferungs-Kapazitäten besitzen, um die Hauptbevölkerungszentren des jeweils anderen Landes mehrfach zerstören zu können. Nichtsdestoweniger verfügen beide lediglich über militärische Ausstattungen in diesem Bereich, die im Stand ihrer Entwick-lung weit hinter denen Chinas zurückliegen.

Doch nicht nur die NDA sowie weite Teile der indischen Öffentlichkeit befürworten die Nuklearisierung, sondern auch die Mitte-Links Koalition mit der United Progressive Alliance (UPA) unter Führung von Premierminister Manmohan Singhs, die die NDA-Regierung 2004 abgelöst hatte. Wie dringend notwendig seiner Meinung nach der Ausbau der Atomenergie für Indien ist, erklärte Singh in einer Regierungserklärung im vergangenen März. Demnach erhöhen Indiens Bestrebungen nach mehr wirtschaftlichem Wachstum den Druck auf die schon jetzt defizitäre Energiesituation enorm. Die Möglichkeit, auf Kohle als Energiequelle zurückzugreifen, sei aber wegen der negativen Umwelteinflüsse sowohl für Indien selbst als auch für seine Nachbarländer nicht erstrebenswert. Atomenergie stelle deshalb eine gute Möglichkeit dar, Indiens Energiebedarf zu decken. Der Zugang zum Atomenergiehandel würde außerdem einen wichtigen Markt für kommerzielle Handelsunternehmen schaffen, die dadurch eine eigene Dynamik für weiteres Wachstum generieren können. Dies und die Aufhebung des internationalen Embargos, das Indiens ziviles Atomenergieprogramm bisher behindert hat, sei demnach essenziell für anhaltenden Aufschwung und die Verbesserung der Lebensbedingungen der rund 270 Millionen Inder, die noch immer unter der Armutsgrenze leben.

Verstanden werden muss diese beständige Unterstützung des Atomprogramms aller indischen Regierungen auch unter dem Aspekt der steten, immer noch gefürchteten internationalen Bedrohung. Vor allem der Nachbar China wird als latente Gefahr wahrgenommen. Aber auch Pakistan und einige andere Staaten im Umkreis werden mit Argwohn beobachtet.

Außenpolitisch verursachte die Entscheidung, sich der Kernenergie zuzuwenden, zahlreiche Probleme. Sie bedeutete eine radikale Abkehr von der früheren Außen- und Verteidigungspolitik des Landes. Als früher Befürworter der Vereinten Nationen sucht die indische Diplomatie nach Wegen und Mitteln, Indiens Einfluss in der internationalen Politik zu steigern. Sie setzt sich auch intensiv für einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat ein. Das Atomprogramm hat viele dieser Initiativen gefährdet, weil es einen Verstoß gegen internationale Kontrollregeln, Sicherungsmaßnahmen und atomare Abrüstung bedeutet.

Einer formellen Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages hat sich Indien bisher mit der Begründung verweigert, dieser sei diskriminierend. Das Land hat sich dennoch in der Praxis sehr genau an die Vorgaben der Nichtverbreitung gehalten. Es hat zudem effektive institutionelle Strukturen entwickelt, sein Atomprogramm unter ziviler Kontrolle zu halten: Im Januar 2003 beschloss die Regierung, ein nationales Führungsgremium für den Nuklearsektor mit den höchsten Amtsbefugnissen für Atomwaffen einzurichten - die Nuclear Command Authority (NCA). Gleichzeitig wurde der Posten eines Oberbefehlshabers als verantwortlicher Entscheidungsträger für Atomkraftentwicklung und Kriegsführung geschaffen.

Das Atomprogramm ist also integraler Bestandteil der nationalen Pläne, es hat bedeutende Auswirkungen auf Wirtschaft, Sicherheit, Umwelt und die nationale Identität. Indien ist zudem strategischer Partner der USA und der Europäischen Union. Vor diesem Hintergrund scheint es schwierig, Indien die nuklearen Aspirationen abzusprechen.

Auf dieser Basis hat der amerikanische Außenstaatssekretär Nicholas Burns im März in Delhi das Nuklearabkommen mit Indien befürwortet und eine Anerkennung Indiens als Kernwaffenmacht eingeräumt. Auch US-Außenministerin Condoleezza Rice führte vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats ähnliche Argumente an. In ihrer Rede Anfang April, die in indischen Medien ein großes Echo fand, erwähnte sie die drei wichtigsten Punkte der Debatte. Zunächst hätten die Sanktionen Indien offensichtlich nicht von der Nuklearisierung abgehalten, sondern es lediglich isoliert. Ferner würden Initiativen zur zivilen Energienutzung die internationale Sicherheit voranbringen und gleichzeitig die Handelsmöglichkeiten für Amerika erweitern. Das Abkommen zur zivilen Atomenergienutzung mit Indien wäre demnach eine "strategische Errungenschaft", "gut für Amerika, gut für Indien und gut für die internationale Gemeinschaft".

Der Nuklearvertrag mit Indien würde, so Rice, nicht zu einem Wettrüsten in Südasien führen, zumal er die Unterstützung Englands, Frankreichs, Russlands und des Leiters der Internationalen Atomenergiebehörde habe. Es sei möglich, das bilaterale Abkommen durch eine Abänderung in das Atomenergiegesetz von 1954 aufzunehmen und nicht zwangsläufig gegen die Regelungen zur Nichtverbreitung von Kernwaffen zu verstoßen. Und schließlich sei Indiens Bilanz bei der Nichtweiterverbreitung von Kerntechnologie makellos.

Nach anfänglich sehr positiven Reaktionen auf das Abkommen in den amerikanischen Medien zeichnen sich jedoch inzwischen weitere öffentliche Debatten in Indien und den USA ab. Vor allem unter dem Aspekt des kontinuierlichen Ansehensverlustes Präsident Bushs und den schon heute von seinen politischen Gegnern anvisierten Wahlen 2008 wird eine reibungslose Annahme des Abkommens im amerikanischen Kongress immer unwahrscheinlicher. Kostenintensive und teure Schritte zur Trennung der zivilen und militärischen Anlagen werden von Indien jedoch nur angegangen werden, wenn eine relative Sicherheit besteht, dass der Kongress das Abkommen tatsächlich billigt. Diese Sicherheit wird der Kongress jedoch möglicherweise von eben dieser Trennung als Voraussetzung abhängig machen.

Damit das jüngste Nuklear-Abkommen ein Erfolg wird, ist es also notwendig, dass Beteiligte beider Seiten, wie auch die internationalen Interessenvertreter, durch die Regierungen Indiens und der Vereinigten Staaten über die bekannten und stillschweigend vereinbarten Sachverhalte aufgeklärt werden. Darüber hinaus muss das Nichtverbreitungsregime des Atomwaffensperrvertrages durch die Beseitigung diskriminierender Inhalte in seiner Legitimität gegenüber den nicht über Kernwaffen oder Kerntechnologie verfügenden Staaten gestärkt werden.

Subrata K. Mitra ist Professor für Politikwissenschaft Südasiens am Südasien-Institut der Universität Heidelberg.


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