Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
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Interview mit Dirk Matter

"Deutsche Firmen sind zu stur"

In Indien wird sehr hart und sehr lange verhandelt - vielen Deutschen liegt das nicht im Blut

Dirk Matter, Geschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer (DIHK) in Düsseldorf, über die Vorteile des indischen Marktes, die Unterstützung durch die Politik und warum viele deutsche Firmen wenig flexibel sind, wenn es darum geht, ihre Produkte an die Befindlichkeiten des indischen Marktes anzupassen. "Die Geschäftsmentalitäten sind ganz anders als in Deutschland. Indien ist in dieser Hinsicht eher orientalisch geprägt", erklärt Matter die Schwierigkeiten am dortigen Markt.

Das Parlament    Wenn Sie an Indien als Wirtschaftsstandort denken: Welche drei Begriffe fallen Ihnen ein?

Dirk Matter     Reform, Boom, Arbeitskräfte.

Das Parlament    Sind Reformen in Indien noch mehr als bloße Ankündigungen?

Dirk Matter     Das Land hat seit 1991 umfangreiche, sehr tiefgreifende Reformen durchgeführt - Reformen, die ihren Namen auch verdienen. Man hat viel ideologischen Ballast über Bord geworfen, die Wirtschaft wurde liberalisiert und für den Weltmarkt geöffnet. Indien hatte seit der Unabhängigkeit 1947 eine Wirtschaftspolitik verfolgt, die - anders als viele andere asiatische Staaten - nicht so stark exportorientiert war. Auch der aktuelle ökonomische Boom ist vor allem durch eine gestiegene Inlandsnachfrage getrieben.

Das Parlament    Der Boom ist also mehr als ein Luftblase?

Dirk Matter     Auch mit dem Begriff Boom wird ja manchmal etwas verschwenderisch umgegangen. Aber im Fall Indiens trifft er zu: Die Wirtschaftsdaten sind ausgezeichnet. Das Wachstum ist sehr hoch, derzeit um die acht Prozent. Damit liegt das Land weltweit in der Spitzengruppe - ein Ergebnis der liberalen Wirtschaftsreformen. Das Land boomt an allen Ecken und Enden. Man sieht das zum Beispiel an der Verbreitung des Mobiltelefons: Derzeit werden ungefähr 2,5 Millionen Handys verkauft - pro Monat. Das ökonomische Wachstum wird also von breiten Bevölkerungsschichten getragen.

Das Parlament    Einwohner - und damit Arbeitskräfte - hat das Land ja genug...

Dirk Matter     Ja. Indien hat zwar auch Rohstoffe, aber das große Potenzial sind die meist recht gut ausgebildeten Arbeitskräfte. Allein in den technischen Studiengängen verlassen jedes Jahr rund 300.000 Absolventen die Hochschulen - zehn Mal mehr als in Deutschland. Und die Kommunikationsprobleme mit Indern sind wesentlich geringer als zum Beispiel mit China: Zumindest alle akademisch gebildeten Menschen sprechen Englisch.

Das Parlament    Warum sollten sich deutsche Firmen in Indien engagieren?

Dirk Matter     Indien ist einer der kommenden Mega-Märkte. Sicherlich sind die Zahlen noch niedrig im Vergleich zu China. Aber nach unseren Einschätzungen gibt es keine Gründe, warum Indien keine erfolgreiche Aufholjagd starten sollte.

Das Parlament    Und wieso nutzen dann so wenige deutsche Firmen diese Chance? Die Direktinvestitionen sind zum Beispiel in den vergangenen Jahren gesunken, der deutsche Handel mit Indien ist nur so groß wie der mit Luxemburg...

Dirk Matter     Die neuesten Zahlen für 2005 zeigen wieder ein deutliches Ansteigen der deutschen Investitionen. Man muss bei diesen Zahlen auch sehen, dass die Inder mit sehr strengen OECD-Richtlinien arbeiten. Als neue ausländische Investition zählt nur das so genannte fresh money, also jenes Geld, das wirklich von Europa nach Indien transferiert wird. Das ist nicht zu vergleichen mit chinesischen Statistiken, die sämtliche Aktivitäten der Ausländer zählen. In Indien gibt es eine ganze Reihe deutscher Konzerne, die schon sehr lange in dem Land sind, gute Gewinne machen und einen großen Teil ihrer Investitionen aus dem Indiengeschäft selbst finanzieren. Das tatsächliche Engagement der deutschen Firmen ist wesentlich größer als das, was die Investitionszahlen vermuten lassen. Und es ist stärker mittelständisch dominiert als bei anderen Ländern; deshalb ist auch das Volumen nicht so hoch. Aber bei der Anzahl der Kooperationsprojekte liegen wir im internationalen Vergleich auf Platz zwei.

Das Parlament    Dennoch: Vor dem Deutschlandbesuch des indischen Premiers im Frühjahr gab es massive Kritik an der deutschen Wirtschaft, dass diese den indischen Markt ignoriere. Eine Studie der Stiftung Politik und Wirtschaft vom August 2005 stellt fest, dass "Deutschland hinsichtlich der Investitionstätigkeit in den vergangenen Jahren hinter andere Staaten zurückgefallen ist". Alles Quatsch?

Dirk Matter     Es stimmt schon: Indien war bisher kein Schwerpunktland für deutsche Investitionen. Die deutschen Firmen haben sich zunächst auf andere Länder konzentriert: auf die EU-Beitrittsländer in Osteuropa. Und wer an Asien dachte, dachte immer erst an China.

Das Parlament    Hat sich das geändert?

Dirk Matter     Das hat sich deutlich gewandelt. Das Interesse der deutschen Wirtschaft ist größer geworden, gerade in den vergangenen zwei Jahren. Und: Wir gehen davon aus, dass in China eine gewisse Sättigung eintreten wird. Denn die deutschen Firmen, die unbedingt auf diesen Markt wollten, sind dort mittlerweile vertreten.

Das Parlament    Auf welche Hindernisse müssen sich deutsche Firmen gefasst machen, wenn sie Joint Ventures mit indischen Firmen eingehen oder Teile ihrer Produktion verlagern?

Dirk Matter     Die Geschäftsmentalitäten sind ganz anders als in Deutschland. Indien ist in dieser Hinsicht eher orientalisch geprägt. Dort wird meist sehr hart und sehr lange verhandelt. Vielen Deutschen liegt das nicht so im Blut wie unseren indischen Freunden. Deutsche Firmen tun sich oft auch schwer, sich an diese unterschiedlichen Marktgegebenheiten anzupassen. Da vermisst man manchmal ein bisschen die Flexibilität.

Das Parlament    Was verstehen Sie unter mangelnder Flexibilität?

Dirk Matter     Manchmal sind deutsche Firmen einfach zu stur. Sie hoffen, ihre Produkte einfach ohne Produkt-Änderungen absetzen zu können. Nur: Viele davon sind High-Tech-Produkte mit einem hohen Automatisierungsgrad. Der deutsche Arbeitgeber sucht im Regelfall eher Maschinen, mit denen er möglichst viele Arbeitskräfte ersetzen kann. Diese Form der Rationalisierung ist in Indien relativ unwichtig; die menschliche Arbeitskraft ist noch so preiswert, das man hier keine Vollautomatisierung anstreben sollte. Deutsche Firmen müssen lernen, ihre Produkte besser an indische Gegebenheiten anzupassen - auch, um mit dem Preis besser hinzukommen. Denn aufgrund der unterschiedlichen Preisstrukturen können ausländische Produkte nicht gegen einheimische Konkurrenz antreten. Die deutschen Maschinen sind gut - aber für Inder extrem teuer. Eine Übertechnisierung muss unbedingt vermieden werden.

Das Parlament    Wie groß ist das Problem der Korruption in Indien für deutsche Firmen? Indien galt in dieser Hinsicht als - vorsichtig ausgedrückt - sehr flexibel?

Dirk Matter     Indien ist ein Land, in dem es Korruption gibt - es wäre Unfug, das zu leugnen. Aber es hat sich einiges getan: Früher brauchten Investoren noch zahlreiche Lizenzen von unterschiedlichen Behörden - da spielte Bestechung manchmal eine Rolle. Heute, nach der Liberalisierung, braucht man weniger Papiere von staatlichen Stellen. Aber im kleinen Bereich gibt es Korruption weiterhin, oft in der Form von "give and take" - der eine tut einen Gefallen und der andere ist dann einen Gefallen schuldig. Und auch im lokalen Bereich - wenn man einen Strom- oder Telefonanschluss braucht - ist es durchaus üblich, das mit nützlichen Ausgaben zu beschleunigen.

Das Parlament    Deutsche Unternehmer in Indien berichten, dass während eines Cricket-Spiels schon mal alle Arbeitnehmer zu Hause bleiben. Sehr sympathisch, aber ökonomisch natürlich höchst problematisch. Wie bereiten Sie deutsche Unternehmen auf solche Situationen vor?

Dirk Matter     Sehr unterschiedlich. Etwa durch Beratungsgespräche, durch Fachliteratur, in der solche Aspekte angeschnitten werden. Indien ist kein Zwergland, das sich nach anderen Regionen der Welt ausrichtet. Wir sollten nicht erwarten, dass sich die Inder den deutschen Gepflogenheiten anpassen. Indien ist ein Subkontinent und ruht in sich selbst. Und: Cricket hat oberste Priorität in Indien, bei wichtigen Spielen erlahmt das öffentliche Leben.

Das Parlament    Deutschland exportiert vor allem Produkte aus den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik sowie Chemie und Pharma. Umgekehrt importiert Deutschland aus Indien vor allem Textilien, aber immer mehr auch Chemie- und Pharmaprodukte. Hat sich in diesem Bereich eine Konkurrenz durch billigere indische Produkte entwickelt?

Dirk Matter     Die Inder haben viele Jahre darunter gelitten, dass ihr Exportkorb sehr einseitig auf so genannte traditional items - also Textil- und Bekleidungsprodukte, Leder, Gewürze und so weiter - ausgerichtet war und immer noch ist. Darüber hinaus versucht man in modernere Produkte, unter anderem im Pharma-Bereich, einzusteigen. Indien ist einer der großen Produzenten von Generika, also Nachahmerprodukten. Aber auch andere Produkte kommen verstärkt aus Indien, etwa im Bereich Maschinenbau. Hier zeigen sich die positiven Seiten der Globalisierung: Dass die Inder jetzt in der Lage sind, zumindest einfache Produkte im Bereich Maschinenbau oder elektrotechnische Geräte herzustellen. Aber gerade Chemie ist ein Beispiel, dass der Handel in beide Richtungen geht. Globalisierung ist keine Einbahnstraße.

Das Parlament    Also doch ein Beispiel, dass Indien zu einem Konkurrenten geworden ist?

Dirk Matter     In gewissen Bereichen sicherlich.

Das Parlament    Interessant an Indien ist auch der Hochtechnologie-Sektor. Entwickelt sich hier eine Konkurrenz zu dem viel gepriesenen Entwicklungs- und Forschungsstandort Deutschland und müssen auch gut ausgebildete deutsche Akademiker deswegen um ihre Arbeitsplätze bangen?

Dirk Matter     Bisher waren die indischen Unternehmen im Bereich Forschung und Entwicklung international nicht stark. Entwicklung ist teuer und rechnet sich nicht immer - und da Inder durchaus erzkapitalistische Unternehmer sind, haben sie nicht so sehr den Drang, viel Geld in Forschung und Entwicklung zu stecken. Stark geworden sind die Inder in der IT- und Software-Industrie, anfangs vor allem eine reine Auftragsarbeit im Umfeld großer Konzerne, vor allem aus den USA, die das ausgezeichnete Arbeitspotenzial schon frühzeitig erkannten. Inzwischen - nach gut 20 Jahren - sind die indischen Firmen selbst sehr stark geworden und fangen an, Software-Produkte zu entwickeln. Das kann in fünf bis zehn Jahren zu einer massiven Konkurrenz werden. Indische Firmen drängen aber auch verstärkt in die Bereiche Maschinenbau und Automobil - das sind Herzstücke der deutschen Industrie. Die Folge: So genannte Kompetenzzentren werden nach Indien verlagert, auch aus Deutschland.

Das Parlament    Ist der Zug für deutsche Firmen also schon abgefahren?

Dirk Matter     Nein. Noch ist der indische Markt offen und der Kuchen nicht verteilt. Die Deutschen haben noch alle Chancen. Und: Das deutsche "Engineering" genießt höchstes Ansehen in Indien.

Das Parlament    Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat bei einem Staatsbesuch in Indien vor vier Jahren gesagt, dass die deutsche Politik Indien zu lange ignoriert hat zugunsten von südostasiatischen Ländern und China. Würden Sie sich von der Politik mehr Unterstützung wünschen?

Dirk Matter     Es wäre unfair zu sagen, es habe an Unterstützung durch die Politik gemangelt. Es gab rege politische Kontakte zwischen deutschen und indischen Politikern. Der Kanzler war dort, der Außenminister, die Wirtschaftsminister sind regelmäßig nach Indien gefahren. Zur 50-Jahr-Feier der Deutsch-Indischen Handelskammer am 30. August kommen der deutsche Wirtschaftsminister und sein indischer Kollege. Und Kanzlerin Angela Merkel hat ja auch angekündigt, die Einladung des indischen Premiers anzunehmen und kommendes Jahr nach Indien zu fahren.

Das Interview führte Bert Schulz.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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