Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
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Vi Vien Baldauf

Nicht hübscher - nur alltagstauglicher

Westliche Produkte sind in Indien beliebt, trotzdem verzichten Jugendliche nicht auf Traditionen

In hohen Tönen dudelt Mahima Sonis Handy. Es ist das Lied von Indiens zurzeit angesagtestem Pop-Sänger Himesh. Als sie auf den Bildschirm schaut, geht ein Grinsen über ihr smartes Gesicht. Flink tippt sie auf dem Bett im Studentenwohnheim sitzend eine SMS an die Freundin. Schon piepst eine andere Melodie aus dem Nachbarzimmer. "Hallo Mama!", freut sich ein Mädchen und die Tür schlägt schallend zu.

Normalerweise stehen in einem typisch indischen Studentenwohnheim, wie dem "Girl's Hostel" in Bhopal, alle Türen offen. Will man aber einmal alleine sein, werden sie verriegelt. Notfalls setzen sich einige der 25 Bewohnerinnen auf die Stufen vor der Tür, wenn andere das Telefonat nicht mithören sollen. Wie Hühner auf der Stange kauern die Mädchen dann dort, auf Hindi in das Headset murmelnd.

Der indische Mobiltelefonmarkt hat sich in kürzes-ter Zeit rasant entwickelt. Vor zwei Jahren nutzten 45 Millionen Inder ein Handy. Heute sind es schon 100 Millionen, die mobil telefonieren, so das Ministerium für Telekommunikation und Technologie in Delhi. Ein Leben ohne Mobiltelefon ist für die Studentinnen im "Girl's Hostel" nicht mehr vorstellbar. Freunde schicken nahezu ständig Kurznachrichten oder so genannte "missed calls" als Zeichen, dass sie aneinander denken. Täglich rufen Familienangehörige an, um sich zu erkundigen, wie es ihnen ergeht in der Stadt des nordindischen Bundesstaates Madhya Pradesh. Das Handy wird auch zunehmend zum Ersatz von "Local Guardians". Das sind Verwandte oder Freunde der Familie, die sich dort aufhalten, wo die Mädchen studieren. Früher suchten Eltern Studienorte für ihre Kinder danach aus, wo Local Guardians wohnen. Heute reicht ihnen meist ein Anruf auf dem Mobiltelefon. Besonders Mädchen wachsen in Indien sehr behütet auf und werden von der Familie mehr bewacht als Jungen. Es wundert daher nicht, dass alle 25 Studentinnen ein von den Eltern geschenktes Mobiltelefon besitzen, seitdem sie ins Wohnheim gezogen sind.

Fast die Hälfte der Studentinnen, die im "Girl's Hostel" leben, belegen einen Ingenieurstudiengang. "Ich will einen anspruchsvollen und gut bezahlten Job, der Zukunft hat", sagt Mahima. Die 21-Jährige ist im dritten Studienjahr des Bachelor of Information Technology (BIT). Frauen wie Mahima, die einen Bildungsweg in naturwissenschaftlichen Fächern einschlagen, kommen aus der Mittelschicht. Ihre Eltern haben genug Geld, um der Tochter Studiengebühren, Unterhaltskosten für Wohnheim, Essen und ihren Motorroller zu bezahlen, den sie seit zwei Jahren fährt. Ihr Taschengeld gibt Mahima für Klamotten, Kosmetik oder hin und wieder für ein Kinoticket aus.

Wieder klingelt ihr Handy. "Kommst du mit Shoppen?", fragt ihre Freundin. Mahima freut sich über eine Pause während ihrer Examensvorbereitung und stimmt zu. In engen Jeans, Highheels und passendem Top, ihre Täschchen kokett über die Schulter gelegt, spazieren sie los. Nicht weit von ihrer Unterkunft befindet sich der "Ten Number Market", eine kleine Einkaufsmeile. Die beiden schlendern entlang der dicht aneinander gedrängten Shops. Wenn sich ihre Blicke mit denen vorbeigehender Jungs treffen, schauen sie gekonnt neckisch weg. In einer überdachten Passage stapeln sich in den Läden Seifen, Cornflakes, bunte Stoffrollen und indische Süßigkeiten. Die Freundinnen bleiben an einem "Grocery-Shop" stehen, der alles verkauft, was eine typische Drogerie bietet. "Ich brauche Haarwaschmittel", meint Mahima. Sie kann sich zwischen den Shampoos der Westmarken Revlon, Lagny und Garnier nicht entscheiden. "Die riechen alle drei so gut!", schwärmt sie.

Gerade bie Alltagsprodukten wie diesen zeigt sich, wie traditionelle indische und industrielle westliche Produkte auf dem Markt konkurrieren. Ihre Konsumenten: Die städtischen Ober -und Mittelschichten. Laut offiziellen Angaben zählen 200 bis 250 Millionen Inder - von 1,1 Milliarden insgesamt - dank einem Jahreseinkommen von rund 1.300 Euro zur Mittelschicht. Und die kauft sich gerne westliche Kosmetikprodukte, auch wenn Garnier und Co. nicht billig sind.

Allerdings haben nicht alle Produkte auf den indischen Markt Erfolg: Tönungen und Haarcolorationen zum Beispiel sind in den Läden, wenn überhaupt, nur spärlich zu finden. Die Mädchen im Wohnheim pflegen sich die Haare mit Henna. Mahima denkt nicht im Traum daran, sich die tief schwarzen, langen Haare zu färben. Auch Haarspülungen lassen die Mädchen links liegen. Alle zwei Tage massieren sich die Studentinnen gegenseitig die Haare bevorzugt mit Kokosnuss- oder Senföl. Dies ist zwar eine klebrige und oft unangenehm riechende Prozedur, zumal das Öl über Nacht einziehen muss. Am nächsten Morgen wird alles mit Shampoo ausgewaschen. Danach ist das Haar seidenweich. Das Öl soll es vor Staub und der austrocknenden Sonne schützen.

Diese Überzeugung hat ihre Wurzeln in der Weltanschauung der Inder. Sie betrachten die Erde als Mutter Natur. Alles, was die Natur als Mutter gibt, ist zum Wohle des Menschen, ihres Kindes. So ziehen die meisten Inder natürliche Stoffe von Pflanzen den chemisch hergestellten Produkten vor. Auf dieser Weltsicht beruht auch Indiens 5.000 Jahre alte Lebens- und Gesundheitslehre: Ayurveda. Sie fußt auf dem indischen Grundprinzip von Reinheit und Unreinheit. Ein gesunder Körper ist rein, ein kranker Körper ist unrein. Heilung kann nur durch Reinigung vollzogen werden. In der ayurvedischen Medizin werden pure und ungemischte Substanzen verwendet, wie etwa Aloe-Saft für Haut und Haar. Miteinander vermischte Stoffe gelten daher als eher unrein.

In Bhopal wird es langsam dunkel. Nach zwei Stunden Shoppen wollen sich Mahima und ihre Freundin am Kiosk noch etwas zu Trinken kaufen. Säfte sind in Indien sehr teuer, Softdrinks umso beliebter. Coca-Cola, Fanta und Sprite sieht man kaum in den Regalen. Dafür werben Bollywood-Schauspieler und indische Superstars auf meterlangen Leinwänden für Limonaden mit spritzigen Namen, wie Limca und Thumps Up. Der weltweit größte Softdrinkproduzent Coca-Cola hat somit auch indische Kehlen erobert, denn diese Marken gehören dem US-amerikanischen Großunternehmen, sein Marktanteil liegt bei etwa 60 Prozent.

Zurück im Wohnheim schauen die Mädchen fern. Sie zappen oft zwischen indischen Soaps und Musikkanälen, wie MTV oder CHANNEL [V] India hin und her. Was dabei ins Auge fällt, sind die äußerst knapp bekleideten Damen in fast allen Szenen dieser Sender. Der Widerspruch zur Realität, in der die Männer dominieren und die Frauen weder Schultern noch Fußfesseln zeigen dürfen, ist offensichtlich. Mahima will ihre Kultur respektieren - sie würde aber gerne auch mal kürzere Röcke und ärmellose Tops tragen, wie die indischen Stars im Fernsehen. Das geht natürlich nicht. Sie würde zu viele aufdringliche Blicke auf sich ziehen. Indische Männer schauen nicht, sie starren. Doch manchmal traue sie sich schon eine Dreiviertel-Hose anzuziehen, die ihre schmalen Knöchel an den Füßen in Absatzpantoletten hervor schauen lasse, sagt sie.

Aber auch in der Frage der Kleidung zeigt sich, dass im Wettstreit der Kulturen der Westen nicht unbedingt gewinnt. So weiß Mahima noch nicht, was sie zum Geburtstag von Anti, der guten Seele des Wohnheims, tragen soll. Anti ist für die Mädchen Mutterersatz und Verwaltungschefin in einem. Dabei geht es nicht darum, welche Jeans und welches Top am besten aussehen würden, sondern welche Farbe der traditionelle Salwar Kaamiz - ein Ensemble aus Pluderhose, knielangem Hemd und Schaltuch - haben soll. Der Anlass verlangt Respekt und Ehre, die gegenüber Älteren in Indien immer gezeigt werden. Noch edler ist nur der Sari, das älteste und farbenprächtigste Kleidungsstück der indischen Frau, durchwirkt mit Goldfäden und Pailletten. Viele halten es für den "most sexiest dress" einer Inderin.

Auf die Frage, ob Mahima Jeans und T-Shirt gegenüber traditioneller indischer Kleidung bevorzugt, zögert sie nicht lange: "Auch wenn ich oft enge Hosen und Tops anziehe, mag ich sie nicht lieber, als meine Salwar Kaamize. Für uns Inderinnen ist westliche Mode nicht attraktiver oder hübscher. Sie ist vor allem bequemer und alltagstauglicher." Die anderen Mädchen bekräftigen dieses Argument. Sie erzählen von schaurigen Geschichten. Schon oft habe sich der Zipfel eines Sari-Rockes oder das Ende eines Schales von einem Salwar Kaamiz in einem Mopedreifen verfangen und schlimme Unfälle verursacht.

Bhopal ist mit seinen zwei Millionen Einwohnern eine Kleinstadt für indische Maßstäbe. In den Metropolen wie Bombay, Delhi oder Kalkutta, sind Saris und Salwar Kaamize fast aus dem Straßenbild verschwunden. Westliche Firmen wie Esprit, Nike oder Adidas haben die Fastfood essende Mittelschicht-Jugend schon erobert. Colorierte Haare und breite Sonnenbrillen gelten als schick und trendy. Während in Bhopal noch die Backstreet Boys als bekannteste US-Band gefeiert werden, wird in den Discos von Delhi der Mix von Shakira mit indischen Beats aufgelegt.

Die Autorin studiert Ethnologie, Journalistik und Anglistik an der Universität Leipzig.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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