Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
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Brigitte Voykowitsch

Kampf ums Überleben statt Emanzipation

Die meisten Inderinnen sind sozial benachteiligt

Ein Bild von Kalpana Chawla hängt nicht nur in Instituten für Frauenstudien indischer Universitäten. Auch bei Posterverkäufern, auf Märkten und an Straßenrändern gehört ihr Konterfei zum üblichen Repertoire. Kalpana Chawla, die 1961 im Bundesstaat Haryana geboren wurde, war schon zu Lebzeiten zu einem Idol geworden.

Sie hatte es verstanden, sich gegen Bedenken und Widerstände in ihrer Familie durchzusetzen, hatte zunächst Technik in ihrer eigenen Heimat und dann Luftfahrttechnik in den USA studiert. Danach wurde sie Forscherin bei der US-Luftraumbehörde NASA. 1997 war sie erstmals an Bord der Raumfähre Columbia ins All geflogen. Doch mehr als zwei Weltraumflüge sollte Kalpana Chawla nicht erleben. Im Februar 2003 kam sie zusammen mit den anderen Crewmitgliedern ums Leben, als die Columbia beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühte. Obwohl Kalpana Chawla ihre Karriere in den USA machte und auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, gilt sie Inderinnen und Indern als ein Symbol dafür, was indische Frauen vermögen - vorausgesetzt, sie bekommen oder erkämpfen sich die Chance dazu. Auch in Indien mangelt es nicht an Frauen, die Karriere machen. Sie arbeiten als Ärztinnen, Anwältinnen, Richterinnen (auch am Obersten Gerichtshof), Ingenieurinnen, Softwarespezialistinnen, Pilotinnen, Unternehmerinnen, Botschafterinnen, Abgeordnete, Ministerinnen und sogar Chefministerinnen.

Mit Indira Gandhi regierte zwischen 1966 und 1977 sowie zwischen 1980 und 1984 eine Frau als Premierministerin. Sie entstammte der elitären politischen Familie der Nehrus: Großvater Motilal spielte eine wichtige Rolle im Indischen Nationalkongress (der späteren Kongresspartei), Vater Jawaharlal Nehru wurde der erste Premierminister des 1947 von den Briten unabhängig gewordenen Indiens. Indira Gandhi ist damit so wenig repräsentativ wie die bisherigen Regierungschefinnen von Pakistan und Bangladesch, die allesamt führenden politischen Familien angehör(t)en. Viel ungewöhnlicher ist da der Aufstieg von Mayawati, einer Frau aus einer ehemals unberührbaren Kaste, die bereits mehrfach das Amt der Chefministerin im Bundesstaat Uttar Pradesh inne hatte.

Diese Erfolgsgeschichten sagen freilich wenig aus über den Grad an Autonomie, den die Frauen innerhalb ihrer Familie genießen, oder über die Gewalt, die sie dort erleiden. Vor allem aber können sie nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der berufstätigen Frauen in Indien insgesamt bis heute sehr niedrig ist. In Berufssparten mit einem hohen Einkommen finden sich zudem fast ausschließlich Frauen aus den hohen Hindukasten, die rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Daran dürfte sich so schnell nichts ändern. So stellte die am angesehenen Indian Institute of Management (IIM) in der IT-Hochburg Bangalore lehrende Sozialwissenschafterin Mira Bakhru in einer Studie fest, dass die Zahl der Studentinnen am IIM zwar steigt, diese Studentinnen aber aus einem noch elitäreren Umfeld kommen als ihre männlichen Kommilitonen. Uma Chakravarti, emeritierte Professorin für Geschichte am Miranda House College in Neu Delhi, betont: "Es sind einfach die oberen Kasten, die seit 100 Jahren Zugang zu englischer Bildung haben."

Auch heute besucht jedes vierte Mädchen - und jeder zehnte Junge - gar keine Schule, heißt es im jüngsten Bericht über menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2005, der Indien lediglich auf Platz 127 unter den untersuchten Staaten reiht. Laut dem indischen Zensus 2001 sind immer noch 46 Prozent aller Inderinnen Analphabetinnen (1991 waren es 60 Prozent). Das unabhängige Indien bemühte sich zwar besonders um die Förderung von Hochschulen. Eine allgemeine Grundschulpflicht besteht - entgegen allen geäußerten Absichten - jedoch bis heute nicht. Bildung und medizinische Versorgung sind für gut ein Drittel der Bevölkerung unerreichbar.

Dazu kommt eine weitere Besonderheit des indischen Arbeitsmarktes: Nur sieben Prozent der berufstätigen Männer sind im organisierten Sektor aktiv, haben also eine feste Anstellung mit entsprechenden Sozialleistungen. Bei den Frauen sind es gar nur vier Prozent. 93 Prozent der berufstätigen Männer und 96 Prozent der berufstätigen Frauen sind im nicht organisierten oder informellen Sektor beschäftigt, also als Selbstständige im Klein- und Kleinstgewerbe, im Klein- und Kleinsthandel oder als unqualifizierte Arbeitskräfte in vertraglich kaum oder gar nicht abgesicherten Verhältnissen, die keinerlei soziale Leistungen beinhalten.

Insgesamt sind von den 1,1 Milliarden Inderinnen und Indern offiziell 400 Millionen erwerbstätig, davon 124 Millionen Frauen. In den ländlichen Gebieten sind offiziell 30 Prozent und in den städtischen Räumen knapp zwölf Prozent der Frauen erwerbstätig. Angesichts der Größe des Landes muss jede Aussage über Indien allerdings als grobe Verallgemeinerun gelten. So sind in den nordöstlichen Bundesstaaten Mizoram und Nagaland rund 40 Prozent der Frauen erwerbstätig, während es in den unterentwickelten Bundesstaaten Uttar Pradesh oder Bihar, aber auch im wohlhabenden Pandschab im Westen nur etwa zehn Prozent sind.

Diese offiziellen Zahlen werden allerdings regelmäßig in Frage gestellt. Gerade im informellen Sektor müsse man davon ausgehen, dass ein Gutteil der von Frauen geleisteten Arbeit nicht dokumentiert wird, stellte die Weltbank schon 1991 fest. Die renommierte Ökonomin Devaki Jain hatte schon zuvor die Verbindung zwischen "Mythos, Methodologie und Realität" betont. Die Annahme, dass Frauen in erster Linie für Haushalt und Familie verantwortlich seien, bestimme demnach die Fragestellung, die wiederum die Ergebnisse beeinflusse. Frage man Frauen nach ihrer hauptsächlichen Tätigkeit, so würden viele den Haushalt nennen, weil er tatsächlich viel Zeit in Anspruch nehme, diese Betonung aber auch dem Selbstverständnis der Frau entspreche. Feldstudien belegen hingegen, dass Frauen, die sich in einer statistischen Erhebung als Hausfrauen definierten, zeitweise bis zu zehn Stunden am Tag Feldarbeit in familieneigenen oder fremden Betrieben leisten respektive in fremden Haushalten Putz- und anderen gering geschätzten Tätigkeiten nachgehen.

Auch die Korrektheit vieler Daten zu den Heimindustrien muss in Frage gestellt werden. Frauen fertigen zu Hause eine Vielzahl von Produkten wie Armreifen aus Glas, T-Shirts und andere Textilien oder Zigaretten; wegen der Auslagerung dieser Produktion aus Betrieben und der Auftragsvergabe über eine Kette von Subunternehmen ist eine exakte Erfassung der beteiligten Arbeitskräfte oft nur schwer möglich.

Devaki Jain nennt einen weiteren Bereich, in dem die von Frauen neben ihrer normalen Hausarbeit geleistete Arbeit statistisch unsichtbar bleibt. So zeigen Studien, dass Frauen aus landbesitzenden Familien zur Erntezeit für die zusätzlich angeheuerten Feldarbeiter kochen und Essen servieren: "Aber sie zählen nicht als Arbeitskräfte, obwohl sie eine wichtige produktive Tätigkeit vollführen."

Angesichts der vorherrschenden Armut - etwa 20 Prozent der Inderinnen und Inder leben unter, weitere zehn bis 20 Prozent nur knapp über der Armutsgrenze - muss man nach Ansicht von Jain viel genauer untersuchen, wie diese Armen, und vor allem die Frauen, darunter überleben. Gerade sie sind tagtäglich zum Erwerb von Einkommen gezwungen. Auch Betteln oder das Sammeln von kostenlosen Produkten wie Holz und genießbaren Pflanzen in Wäldern müssten entsprechend registriert werden.

Die Armut sinkt trotz des beachtlichen Wirtschaftswachstums im vergangenen Jahrzehnt nur sehr langsam. Wirtschaftswachstum und vor allem technologischer Fortschritt haben zudem für Frauen bisweilen nur geringe positive oder gar negative Auswirkungen. Frauen aus ärmeren Schichten müssen häufig zum Einkommen beitragen, um das Überleben der Familie zu sichern. Sie können sich bestimmte, für die Mittelklasse typische Moralvorstellungen nicht leisten. Steigt eine Familie aber ökonomisch auf, werden kulturelle Einstellungen wirksam, denen zufolge eine Erwerbstätigkeit der Frau außer Haus als unangemessen und bedrohlich für die weiblichen Tugenden gilt. Will eine Familie ihren gehobenen Status unter Beweis stellen, wird Frauen oft die Berufstätigkeit untersagt. Ihre ausschließliche Rolle als Hausfrau und Mutter wird zum Symbol der finanziellen Sicherheit und Moral der Familie. Das ändert sich auch mit einer besseren Bildung der Frauen nicht so rasch. Studien belegen, dass Berufschancen für Frauen erst steigen, wenn sie nach dem Abitur eine fachspezifische Ausbildung erwerben.

Auf dem Land haben dagegen Entwicklungen wie die Grüne Revolution und die Mechanisierung der Produktionsprozesse zu einer Marginalisierung von Frauen geführt. Frauen sind traditionell dort besonders integriert, wo es manuelle Arbeit zu verrichten gilt. Wird etwa ein Feld manuell bewässert, so leisten die Frauen einen Großteil der Arbeit. Sobald jedoch eine moderne Bewässerungsanlage gebaut wird, übernehmen Männer die Verantwortung.

Derselbe Verdrängungsmechanismus lässt sich beim Übergang von manueller Düngung oder manuellem Getreidedreschen zu Kunstdünger und Dreschmaschinen nachweisen. Moderne Geräte werden von Männern bedient und auch hergestellt. Der Wechsel von einer Subsistenz- zur Marktwirtschaft hat dazu geführt, dass die Produkte direkt vom Landwirtschaftsbetrieb auf den Markt gelangen. Das Einkommen geht in der Regel an die Männer. Früher wurden dagegen die Feldfrüchte zunächst zu Hause gelagert, und Frauen tauschten sie gegen andere Waren ein, womit sie mehr Kontrolle über das Haushaltsvermögen besaßen. In der Landwirtschaft sind aber dem Zensus von 2001 zufolge 64 Prozent der erwerbstätigen Frauen beschäftigt, in der Viehwirtschaft neun Prozent, als Haushaltskräfte und im Einzelhandel jeweils knapp über drei Prozent, in der Textilproduktion 2,8 und im Bildungssektor 2,7 Prozent.

Diese Zahlen sind wichtig, wenn man über den Aufstieg von Frauen in der prestigereichen IT-Industrie oder über einzelne, vielleicht sogar unverheiratet gebliebene Karrierefrauen in anderen Branchen liest. Auch bei den großen indischen IT-Firmen sind nur ein Fünftel der Beschäftigten Frauen. Ausgeglichener ist das Geschlechterverhältnis höchstens in den Call-Centern. Die gläserne Decke haben aber nur ganz wenige Inderinnen durchbrochen. Die große Mehrheit von ihnen sieht sich neben allen kulturellen und patriarchalen Einschränkungen einer weiteren Hürde gegenüber - der hohen allgemeinen Arbeitslosigkeit respektive Unterbeschäftigung.

"Eine Frau zu sein, heißt in Indien vieles. Es bedeutet, dass man ein Reservoir an Tradition und Kultur ist und, im Gegensatz dazu, ein Vulkan an brodelnder Energie, Kraft und Power, die eine ganze Generation dazu motivieren kann, ihre Werte, Ziele und sogar ihre Vorstellungen von zivilisiertem Leben zu ändern", schrieb das Magazin Femina 1973 in einem Artikel über Indira Gandhi. 33 Jahre später benötigen nicht wenige Inderinnen ihre gesamte Energie tagtäglich für das reine Überleben.

Brigitte Voykowitsch war von 1991 bis 2000 außenpolitische Redakteurin beim Wiener "Standard" und arbeitet seit 2002 als freie Print- und Radiojournalistin in Wien.


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