Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
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Brigitte Voykowitsch

Frauen sind Opfer - und Täterinnen

Mädchen werden häufig abgetrieben oder nach der Geburt getötet

Als Kistamma eine Tochter zur Welt brachte, schlug sich ihre verzweifelte Schwiegermutter auf die Stirn und fragte, wie sie das ihren Angehörigen erklären sollte. Ihr Ehemann weigerte sich, sie im Krankenhaus zu besuchen. Und als sie nach Hause kam, zeigten die Verwandten keinerlei Interesse an dem Baby. Kistamma kümmerte sich um das Mädchen, so gut sie konnte. Doch sie selbst hatte zu wenig Milch in der Brust, und die Familie war nicht bereit, Milch für das Mädchen zu kaufen. Im Alter von nur vier Wochen starb es. Zu Beginn von Kistammas nächster Schwangerschaft stellte die Familie ihres Mannes klar, dass es diesmal ein Junge sein müsste. Ihr Mann informierte sie, dass es Kliniken gab, wo man das Geschlecht des Fötus frühzeitig ermitteln konnte. Der Ultraschall ergab, dass auch dieses Kind ein Mädchen war, worauf der Mann Kistamma zu einer Abtreibung zwang. Widerstand war nicht möglich. Kistamma musste sogar befürchten, von ihrem Mann verstoßen zu werden oder zumindest eine zweite Ehefrau neben sich dulden zu müssen, weil sie auch drei Jahre nach der Hochzeit noch immer keinen Stammhalter geboren hatte.

Dieser Fall, der sich noch in den 90er-Jahren im südindischen Bundesstaat Andhra Pradesh ereignete, ist auch heute noch bei weitem keine vereinzelte Erfahrung. Die kulturell tief verwurzelte Präferenz für Söhne hat dazu geführt, dass seit der Einführung des Ultraschalls in Indien eine wachsende Zahl von angehenden Eltern so bald wie möglich das Geschlecht des Fötus bestimmen lässt und sich dann zur Abtreibung eines weiblichen Fötus entschließt. Laut einer Studie der britischen medizinischen Fachzeitschrift "Lancet" sollen jährlich bis zu 500.000 weibliche Föten abgetrieben werden; seit 1994, jenem Jahr, in dem Tests zur Geschlechtsbestimmung von Föten per Gesetz verboten wurden, sollen insgesamt fünf Millionen weiblicher Föten abgetrieben worden sein. Der indische Ärzteverband bestreitet diese Zahlen; sie seien um 50 Prozent zu hoch.

Fest steht, dass laut dem indischen Zensus von 2001 auf 1.000 neu geborene Jungen nur 927 Mädchen kommen. In einigen Teilen Indiens sind es gar nur 750 Mädchen pro 1.000 Jungen. Der weltweite Durchschnitt beträgt hingegen 1.050 Mädchen pro 1.000 Jungen. In Indien ist das Geschlechterverhältnis bei Neugeborenen von 972 Mädchen pro 1.000 Jungen im Jahre 1901 auf 927 zu 1.000 im Jahr 2001 kontinuierlich gesunken.

Die auch in anderen Teilen der Welt vorherrschende Präferenz für Söhne hat in Indien mehrere Gründe. Mädchen, die aus Tradition immer noch sehr früh, häufig schon als Kleinkinder, spätestens aber mit dem Beginn der Pubertät verheiratet werden, sind dann Teil der Familie des Ehemannes. Söhne hingegen bleiben traditionell bei den Eltern und sind für die Versorgung der Eltern im Alter zuständig. Dazu kommt der Glaube, dass ein Sohn den Scheiterhaufen der toten Eltern entzünden muss, damit deren Seelen erlöst werden und Frieden finden können.

Angesichts der späteren Kosten für eine Tochter investieren viele Familien zudem gerne ein paar tausend Rupien für Test und Abtreibung. "Besser heute ein paar tausend Rupien zahlen als später ein paar hunderttausend": Mit Werbesprüchen wie diesem wird auf die enorme finanzielle Belastung verwiesen, die eine Tochter darstellt. Denn ungeachtet des 1961 gesetzlich verankerten Verbots von Mitgiftzahlungen sind die Mitgiftforderungen in den vergangenen vier Jahrzehnten exorbitant gestiegen.

Die Mitgiftforderungen wie auch die Abtreibungen weiblicher Föten stehen in engem Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung. Eine Reihe von Soziologen und Feministinnen stellt das vorherrschende Entwicklungsparadigma seit langem in Frage. Die Grüne Revolution und der Übergang von einer Subsistenzwirtschaft zu einer kapitalistischen, exportorientierten Landwirtschaft haben für Frauen zum Teil äußerst negative Folgen gehabt. So wurde noch im 19. Jahrhundert, bevor die britischen Kolonialherren massiv in die Wirtschaft des Subkontinents einzugreifen begannen, teils auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in Teilen Indiens ein Brautpreis bezahlt. Denn Frauen spielten als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Mitgift war eher auf die hohen Kasten beschränkt. Die von den Frauen traditionell in der Landwirtschaft geleisteten Arbeiten waren manueller Natur. Sobald Düngen, Dreschen oder Bewässern jedoch mit modernen technischen Geräten durchgeführt wird, übernehmen Männer die Kontrolle.

Zugleich lässt sich in Indien nachweisen, dass ein ökonomischer Aufstieg von einzelnen Personen oder von Gruppen dazu führt, dass diese tendenziell die Gebräuche der oberen Schichten übernehmen, um damit ihren höheren sozialen Status zu verankern. Viele Gruppen, die noch vor wenigen Generationen einen Brautpreis bezahlten, sind so zur Forderung nach Mitgift übergegangen.

Mit der 1991 eingeleiteten Wirtschaftsliberalisierung in Indien hat sich ein für Frauen besonders verheerender Mix aus überkommener Schlechterstellung des weiblichen Geschlechts, einer rapide wachsenden Konsumkultur und neuen technischen Möglichkeiten ergeben. Wurde noch vor wenigen Jahrzehnten die Mitgift mit einer einmaligen Leistung von Sachwerten oder Geld erledigt, so wird von vielen Familien die Institution der Mitgift heute als eine Möglichkeit betrachtet, sich alle Wünsche nach Konsumgütern über ein größeres Auto bis hin zur Gründung eines Unternehmens von der Familie der Frau finanzieren zu lassen. Nach offiziellen Angaben werden jährlich rund 6.000 Inderinnen Opfer von so genannten Mitgiftmorden: Sie werden getötet, weil ihre eigenen Eltern nicht in der Lage sind, den ständig neuen Forderungen der Familien, in die diese Frauen eingeheiratet haben, nachzukommen. Da Männer aber in der Regel eine höhere Bildung aufweisen und Frauen selbst bei gleicher Bildung und Arbeit tendenziell weniger verdienen, fühlen sich viele Familien berechtigt, für ihren Sohn eine exorbitant hohe Mitgift einzufordern.

Dazu kommt, dass die Gesetze gegen Geschlechts-tests und Mitgift nicht durchgesetzt werden. Dies ist auf mangelnden politischen Willen zurückzuführen, aber auch darauf, dass sich auch unter den Gesetzesvollziehern nicht wenige Gegner der jeweiligen Gesetze befinden. Nur in ganz wenigen Fällen ist es bislang zu einer Verurteilung gekommen. Die unzähligen mobilen Kliniken im ganzen Land zu kontrollieren, ist zudem fast ein Ding der Unmöglichkeit. Natürlich gibt es einzelne Regierungsinitiativen wie jene in Tamil Nadu, die Eltern die finanzielle Förderung eines Mädchens bis hin zu einer universitären Bildung garantieren. Auch Nichtregierungsorganisationen bemühen sich seit Jahren mit Aufklärungskampagnen, Straßentheater und anderen Aktionen darum, einen Gesinnungswandel zu bewirken. Doch all diese Bemühungen sind wenige Tropfen auf einen glühend heißen Stein. Zu groß ist der soziale Druck in die Gegenrichtung, zu groß auch die Konsumgier.

Die hohe Zahl von abgetriebenen weiblichen Föten "zertrümmert jedenfalls den Mythos, wonach gebildete Menschen, die der Mittelklasse und vielleicht auch einer hohen Kaste angehören, aufgeklärter sind, nicht zu solch brutalen Akten neigen und Jungen und Mädchen als gleichwertig betrachten", sagt Ranjana Kumari vom Centre for Social Research in Neu Delhi. Frauen sind dabei, wie so oft in repressiven patriarchalen Systemen, Opfer und Täterinnen. Unter dem Druck der Familie, in die sie eingeheiratet haben, stimmen Frauen Abtreibungen weiblicher Föten zu und rechtfertigen diese mit dem schlechten Los, das das Mädchen oder sie selbst erwartet hätte. Als Schwiegermütter sind sie immer wieder die treibenden Kräfte hinter einem Mitgiftmord an der Schwiegertochter. Bildung und Berufstätigkeit von Frauen allein ändern an dieser Situation wenig. Ein Wandel wird sich nach Ansicht von Entwicklungsexperten nur einstellen, wenn mehr Frauen die vorherrschenden Werte und Normen in Frage zu stellen wagen. So wie Nisha Sharma es vor drei Jahren tat. Als ihr Bräutigam und dessen Mutter knapp vor der Trauung plötzlich zu der vereinbarten Mitgift weitere riesige Forderungen stellten, griff die Technikstudentin kurzerhand zum Handy und rief die Polizei. Nishas Vater zeigte sich erleichtert über die nicht zustande gekommene Ehe. "Wer weiß, wie sie meine Tochter behandelt hätten. Vielleicht hätten sie sie umgebracht."

Nisha Sharmas Fall ging durch alle Medien; er soll auch einige andere Frauen zu ähnlichen Entscheidungen ermutigt haben. Doch es sind einige wenige gemessen an all den Fällen, in denen hohe Mitgift bezahlt wird - oder aus Sorge vor späteren Mitgiftkosten weibliche Föten abgetrieben werden.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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