Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03-04 / 19.01.2004
Johannes L. Kuppe

Historiographie und Poesie

Kulturgeschichte Russlands

Das beruhigt: Eine Bohlen-geschädigte Leselandschaft bringt doch noch schöne, inhaltsreiche und ästhetische Bücher hervor! Was hier anzuzeigen ist, lässt viele Steißgeburten im aktuellen Publikationsbetrieb vergessen. Der in England lehrende Historiker Orlando Figes hatte uns schon 1998 mit seiner wunderbaren Geschichte der russischen Oktoberrevolution ("Die Tragödie eines Volkes") erfreut - das Beste, was zum Thema bis dahin erschienen ist. Nun also ein weiteres herausragendes Buch, reich bebildert, glänzend geschrieben (jedenfalls herrlich flüssig übersetzt), voller analytischer Überzeugungskraft, aus einem großen Quellenfundus schöpfend und - Russland mit der Seele suchend. Figes schreibt Geschichte, indem er viele Geschichten erzählt, ohne den Faden zu verlieren. Das ist die Wiederkehr großer Erzählkunst.

"Nataschas Tanz" hat auch Mängel, fast möchte man gar nicht davon sprechen. Es beginnt nicht etwa beim Kiewer Rus, sondern mit der Gründung von St. Petersburg, umfasst also nur knapp drei Jahrhunderte, wobei das 20. Jahrhundert etwas zu kurz kommt. Es ist nicht sehr kritisch, da muss man schon den unübertroffenen, aber leider nie übersetzten James Billington ("The Icon and the Axe",1966), parallel lesen.

Kultur der Eliten

Bei Figes geht es um eine Kulturgeschichte der gebildeten Eliten; es fehlt das russische Dorf, die Kleinstadt, das weite russiche Land überhaupt, es fehlt eine Diskussion der Spannung zwischen russischer, sich ständig im status nascendi befindender National- und russländischer Reichskultur, also der Frage aller Fragen bei diesem Thema.

Es überwiegt die Hochkultur, obwohl doch der Titel vom Tanz einer russischen, aber anders akkulturisierten Aristokratin nach einer russischen Volksweise handelt (ein von Leo Tolstoi stammendes Bild). Aber dabei erfahren wir in acht Kapiteln viel Interessantes über die Suche der russischen Intelligenz - der emigrierten und der daheimgebliebenen beziehungsweise zurückgekehrten - nach ihrer Identität, über ihre ewige Suche hinein in die russische Volkskultur, über den Stellenwert von russischer Literatur und - ein Steckenpferd Figes' - über Musik.

Das Buch ist aufklärerisch im besten Sinne und damit sehr politisch. Historiographie und Poesie haben sich bei Figes vermählt. Wer Russland sucht, der findet hier ein großes Stück von ihm.

Orlando Figes

Nataschas Tanz.

Eine Kulturgeschichte Russlands.

Aus dem Englischen von Sabine Baumann und Bernd Rullkötter.

Berlin Verlag, Berlin 2003; 720 S., 39,80 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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