Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 09 / 23.02.2004
Bert Schulz

"Fast schon ein Ideologieersatz"

Reform - vom Bedeutungswandel eines Begriffs
Das erste Reformhaus in Deutschland, 1900 in Wuppertal eröffnet, warb mit dem Namen "Jungbrunnen". Bis heute bietet es seine Waren feil. Nun meint, wer vom Reformhaus spricht, nicht den Deutschen Bundestag - zum Bedauern so mancher Politiker. Schließlich wäre es unbestreitbar angenehm, wenn das Parlament von den Wählern als ein steter Jungbrunnen politischer Ideen angesehen würde. Darüber hinaus wäre es äußerst praktisch, wenn sich die Bürger einfach die von der Politik mit Liebe und Sorgfalt zusammengestellten Reformen aus den Regalen zusammensuchen und mit nach Hause nehmen würden.

Da aber Reformen leider nicht immer praktisch und angenehm sind, ist auch das Verhältnis zwischen Reformangebot und -nachfrage komplizierter; nicht zuletzt, weil schon der Begriff selbst so seine Schwierigkeiten bereitet. Unzweifelhaft erlebte das Wort in den vergangenen Jahren im politischen Sprachgebrauch eine geradezu überwältigende Renaissance. Reform avancierte zu einem Lieblingsbegriff der Politik. Vielleicht, weil er so wunderbar amorph ist, weil er inhaltlich so wenig Ecken und Kanten hat, gleichzeitig aber herrlich markant klingt. Damit erfüllt Reform die Bedingungen, die an einen politischen Begriff Ende des 20. Jahrhunderts gestellt wurden: Er ist prinzipiell einfach zu verstehen, er ist vielseitig auslegbar, und er hat einen hohen Wiedererkennungswert. Hinzu kommt, dass Reform sowohl eine laufende Veränderung, also einen Prozess, aber auch deren Ergebnis bezeichnen kann. Selbst viele Politikwissenschaftler haben Schwierigkeiten mit einer klaren Definition.

Fest steht: Reform ist ein "politisches Schlagwort", wie der Magdeburger Sprachwissenschaftler Armin Burkhardt sagt. Der Göttinger Politologe Franz Walter geht noch einen Schritt weiter: Reform sei für machen Politiker "fast schon zu einem Ideologieersatz" geworden. Um seiner inflationären Verwendung zumindest scheinbar zu entgehen, wird sie unter Journalisten inzwischen auch als "R-Wort" bezeichnet, in Anlehnung an die zur "K-Frage" reduzierten Kanzlerfrage.

Wörter und Unwörter des Jahres

Der entbrannten Vorliebe der Politiker für den flotten Begriff konnten sich auch deren Wähler nicht entziehen. Das lässt sich beispielhaft an der Liste der von der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgewählten "Wörter des Jahres" ablesen. Bereits 1988 erhielt "Gesundheitsreform" diese Ehre, neun Jahre später, zum Ende der Ära Kohl, war es dann der "Reformstau". Auch im vergangenen Jahr enthielten viele der von Bürgern eingereichten Vorschläge für diesen Wettbewerb der Worte den Begriff selbst oder Erweiterungen davon.

Dass sich die Deutschen zunehmend nicht unbedingt leicht mit dem Reformangebot ihrer Politiker - übrigens aller Couleur - taten, zeigt sich an einer anderen Wortliste: Auch bei der Wahl zum "Unwort des Jahres" gehört Reform und ihr direktes Umfeld regelmäßig zum engsten Favoritenkreis. So landete 1996 eine weitere, erneut heftig diskutierte "Gesundheitsreform" fast ganz vorne. Die Jury kritisierte damals die "missbräuchliche Verwendung des positiv besetzten Begriffs Reform".

An der unterschiedlichen Verwendung - oder zumindest der unterschiedlichen öffentlichen Interpretation - des Begriffs "Gesundheitsreform" zwischen 1988 und 1996 lässt sich Zweierlei ablesen. Erstens: Eine angekündigte und selbst eine umgesetzte Reform in einem politischen Bereich muss nicht bedeuten, dass damit dort der Reformbedarf erschöpft ist. Oder anders gesagt: Heute versucht sich die Politik meist schon an der "Reform einer Reform einer Reform" - oder auch noch einer Stufe mehr. Dass diese neuen Anstrengungen mit dem identischen Begriff politisch "verkauft" werden, erschwert die Analyse, wann eine Reform letztlich abgeschlossen ist, ganz abgesehen davon, wann sie als erfolgreich zu gelten hat. In der Tat ist diese Problematik weniger eine Frage der politischen Inhalte, als vielmehr der politischen Sprache: Da die Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Normalität ist, ist der Versuch der Politik, auf diese Veränderungen zu reagieren, eine dauerhafte Notwendigkeit. So folgt auf eine Reform mit großer Sicherheit irgendwann eine neue.

Die zweite Erkenntnis ist, dass sich zumindest für bedeutsame Teile der Bevölkerung die Bedeutung des Begriffs wandelt. Er verliert offensichtlich seine bisherige positive Aufladung. Reform bedeutete ursprünglich "Wiederherstellung", erläutert Armin Burkhardt. Auf der Suche nach der Entstehung des Worts stößt man im ausgehenden Mittelalter auf Reformator Luther, der mit der Reformation letztlich nichts anderes bezweckt habe, als die "Kirche wieder in ihre urspüngliche Form zu bringen", erklärt der Sprachwissenschaftler. Mit Ende des 18. Jahrhunderts wurde Reform dann zum Gegenbegriff von Revolution. Während letztere eine (radikale) Umwälzung einer bestehenden Situation meine, so Burkhardt, ziele erstere nicht auf die völlige Abschaffung eines Systems und stelle es auch nicht in Frage. Reform stehe seit dem 19. Jahrhundert für "kleine oder kleinere Veränderung", die in aller Regel positiv aufgenommen wird.

Während der sozial-liberalen "Politik der Inneren Reformen" zwischen 1969 und 1976 - eine frühere Hochphase des Begriffs - bedeutete das "R-Wort" sogar "in jedem Fall eine Verbesserung für die Menschen", erinnert sich Erhard Eppler, damals Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das habe Folgen bis heute, vor allem für die Sozialdemokraten: "Die meisten Menschen verbinden SPD-Reformen mit Wohltaten", glaubt Eppler, der von 1975 bis 1991 die Grundwertekommission der SPD leitete. Und das wiederum mache es der Partei schwerer als anderen Parteien, ihre Politik erfolgreich zu vermitteln; insbesondere SPD-Mitglieder und -wähler täten sich mit dem Reformbegriff gegenwärtig sehr schwer. Denn, so Eppler: "Im Augenblick bedeutet Reform Umgestaltung, die häufig mit Nachteilen und Opfern verbunden ist."

Armin Burkhardt sieht das ähnlich, will aber die zunehmend negative Einschätzung des Reformbegriffs nicht nur auf die SPD-Anhänger begrenzen. Einige der in den vergangenen Monaten angedachten oder beschlossenen Veränderungen würden entgegen der eigentlich positiven Bedeutung von Reform als "sehr einschneidend" empfunden. Teile der Bevölkerung verstehen das Wort deswegen inzwischen als "Euphemismus", so Burkhardt. "Reform sagt: ?Das ist nicht so schlimm'. Aber für viele ist es schlimm."

Inflationäre Verwendung

Zudem hätte die inflationäre Verwendung des Begriffs zu einer allgemeinen "Reformunzufriedenheit" geführt. Den Bürgern fehle die Verlässlichkeit der Politik: Gesetze würden nachgebessert, Reformen reformiert. "Jeder denkt, nächstes Jahr könnte es schon anders sein", schätzt der Wissenschaftler die Stimmung ein. Wann ist eine Reform denn dann noch eine Reform? Franz Walter fasst die Situation drastisch und simpel zusammen: "Die Eliten schwärmen von Reformen, die Bevölkerung eben nicht." Diese Reformunzufriedenheit könnte letztlich dazu führen, dass der Begriff seine grundsätzlich positive oder zumindest neutrale Bedeutung dauerhaft verliert. Reform dürfte zwar, so etwa im politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch, auch weiterhin wertneutral und schlicht beschreibend benutzt werden. Für die breite Bevölkerung könnte Reform aber als dauerhaft negativ besetzt gelten, glaubt Armin Burkhardt. Damit droht dem Schlagwort ein ähnliches Schicksal wie dem Begriff "Sozialismus", der nach 1989 geächtet wurde und fast ganz aus der Alltags- und politischen Sprache selbst der Sozialdemokraten verschwand - obwohl er immerhin Teil des Godesberger Programms der SPD ist. Was wäre eine wörtliche Alternative, die so schön schwammig und gleichzeitig markant ist? Das inhaltlich treffendste Synonym "Veränderung", ist zwar immerhin neutral, aber leider außerordentlich langweilig. Dazu bedeutet Veränderung immer auch Unsicherheit: Was kommt, kennt man nicht. Neu zusammengesetzte Wortungetüme helfen im politischen Alltagsgeschäft auch nicht weiter.

Letztlich wird deswegen und angesichts der politischen Lage das Angebot an Reformen auf absehbare Zeit nicht geringer werden. Denn, so Erhard Eppler: "Wie soll man es denn sonst nennen?" Ob die Politik sie dann aber noch erfolgreich verkaufen kann, ist mehr als fraglich.

Bert Schulz ist Volontär der Wochenzeitung "Das Parlament" in Berlin.


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