Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 09 / 23.02.2004
Hans Thie

Der gnadenlose Sachzwang

Die Bundesregierung steckt im Dilemma ihrer Reformpolitik
So sehr mit dem Rücken zur Wand stand die deutsche Sozialdemokratie in der Nachkriegsgeschichte wohl noch nie. Was ihr jetzt noch bleibt, erscheint wie ein verzweifelter Versuch politischer Besitzstandswahrung: Das Regierungsmandat sichern, den Genossen, die sich demnächst zur Wahl stellen müssen, noch ein bisschen Hoffnung geben, den harten Kern der Anhänger zusammenhalten und zu diesem Zweck vorerst die Grausamkeiten stoppen. "Die da oben können nicht mehr, und die da unten wollen nicht mehr" - die SPD präsentiert ein Schauspiel, dessen Ende niemand kennt. Ob es reicht, auf die Darstellungskunst von Franz Müntefering zu setzen und auf jede Kurskorrektur zu verzichten, ist allerdings zweifelhaft.

Der Kardinalfehler sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik ist offenkundig. Sie hat sich dem jahrelang medial inszenierten Vierklang verschrieben: "Zu hohe Steuern und Abgaben = schrumpfende Gewinne = kaum Investitionen = hohe Arbeitslosigkeit." Rückblickend kann man von einem Akt der Verblendung sprechen. Denn im Taumel der Entrüstung hat sich das Volk, einst denkend und dichtend, von der Vernunft verabschiedet und einer Propaganda hingegeben, die allen Tatsachen widerspricht. Im internationalen Vergleich ist die Bundesrepublik ein Niedrigsteuerland. Andere große Industrieländer in Europa, wie Frankreich, Italien und Großbritannien haben sehr viel höhere Steuerquoten. Schaut man sich genauer an, welche Gruppe in Deutschland in welcher Weise belastet wird, erweist sich die "unerträgliche Steuerlast" von Selbstständigen und Kapitalgesellschaften als pure Dichtung. Während der Anteil der Lohn- und Verbrauchssteuern am gesamten Aufkommen seit den 70er-Jahren ständig gestiegen ist, hat sich der entsprechende Anteil von Gewinnen und Vermögen im gleichen Zeitraum halbiert.

Diesen Trend haben SPD und Grüne mit ihren "großen Steuerreformen" noch weiter beschleunigt und Zustände geschaffen, die in keinem Steuerparadies zu finden sind. Kapitalgesellschaften haben im Jahre 2001 per saldo keinen Cent Körperschaftsteuer gezahlt, sondern 426 Millionen Euro vom Staat zurück erhalten. Längst sind auch die Gewerbesteuern, die den Kommunen zufließen, eingebrochen. Die Folgen dieser Erosion öffentlicher Kassen waren absehbar. Statt, wie von Schröder und Eichel erhofft, kräftig zu investieren und für Beschäftigung zu sorgen, konzentrieren sich die Unternehmen auf weitere Rationalisierungen. Nicht mehr Arbeitsplätze, sondern verringerte Einnahmen des Staates sind das Resultat der Steuersenkungen für Großunternehmen und Vermögensstarke. Im Tagesrhythmus erleben sozialdemokratische Wähler, wie Theater, Museen, Sozialstationen und Schwimmbäder geschlossen werden. Die öffentlichen Investitionen, ehemals die Stärke des Modells Deutschland, sind, gemessen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, nur noch halb so hoch wie in den USA, wo staatliche Wirtschaftsaktivitäten traditionell keine große Rolle spielen.

Auch bei der sozialen Sicherung hatte die SPD nicht den Mut, einen wirklichen Neubeginn zu wagen. Statt sich zu fragen, wie gesellschaftliche Solidarität auf ein zukunftsfestes Fundament gestellt werden kann, hat die SPD-geführte Bundesregierung die "Beitragsstabilität" zum alles beherrschenden Heiligtum erklärt und entsprechend immer wieder Opfer verlangt. Für sozialdemokratische Stammwähler sind die Konsequenzen grotesk. Die Altersbezüge werden erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik real gesenkt, während die Lebensversicherer, die in den vergangenen drei Jahren über 100 Milliarden Euro an der Börse verbrannt haben, mit der Hilfe des Kanzlers rechnen können. Patienten tragen die Last der Gesundheitsreform, während Pharmaindustrie und Ärzte weitgehend geschont werden. Die Leistungsbezüge von Arbeitslosen werden stärker beschnitten werden als je zuvor, während Einkommensmillionäre mittels Steuersenkung einen Scheck über mehrere zehntausend Euro erhalten.

All das war nicht angenehm, aber notwendig - diese Botschaft der Basis zu verkünden, ist nun Münteferings wichtigste Aufgabe. Glaubhaft könnte er das nur tun, wenn er etwas anzubieten hätte. Als ehrliche Haut, die er angeblich ist, müsste Müntefering zugeben, dass die Entschlackung des Sozialstaats bislang kaum für neue Beschäftigung gesorgt hat. So bliebe den Sozialdemokraten im Moment eigentlich nur der nackte Zynismus: Die Überzähligen müssen so willig und billig werden, dass Besserverdienende massenhaft auf Dienstpersonal zurückgreifen. Gärtner und Chauffeure, persönliche Sekretäre für die trockene Korrespondenz und Hostessen für die feuchten Vergnügen - jeder gut situierte Haushalt muss seine Arbeitgeberpflichten wahrnehmen. Eine Luxuslimousine selbst zu fahren, wäre beispielsweise als das zu brandmarken, was es ist: ein beschäftigungspolitischer Skandal. Gebot der Stunde wäre die Enttabuisierung des wohlverdienten Luxuskonsums, das freie Bekenntnis zu all den Helfern, die ein hochproduktiver Mensch benötigt, wenn er sich ganz auf seine Funktion in der Gesellschaft konzentrieren will.

"Wir präsentieren Euch, ob in der Neuen Mitte oder im alten Establishment, die Erwerbslosen hand- und mundgerecht, aber bitte, jetzt müsst Ihr auch zugreifen" - diese Konsequenz der eigenen Politik können Sozialdemokraten natürlich nicht aussprechen. Der absurde Zirkel permanenter "Sozialreformen" wird deshalb zwangsläufig seine Fortsetzung finden, weil die Nutznießer gekappter Masseneinkommen und gestrichener Transferleistungen ihr Konto pflegen, statt sich auf ihre höfische Pflicht zu besinnen. Während die Amerikaner seit Jahrzehnten wissen, dass Not und Verschwendung zwei Seiten einer Medaille sind und nur zusammen das Schiff auf Kurs halten können, werden auf der deutschen Titanic die Mannschaftsdecks geplündert und die Kronleuchter vergessen.

Statt diesen absurden Kurs weiter zu verfolgen, wäre es an der Zeit, wieder die ganze Palette politischer Optionen zu diskutieren. Jenseits von Moral und Ethik könnte man auch in der SPD nach der Logik der Regierungspolitik fragen. Wenn die Wissensgesellschaft unsere Zukunft ist und damit der Staat zwangsläufig zum größten Investor wird, weil nur er langfristig und massenhaft für Bildung und Forschung sorgen kann - weshalb werden dann mit Steuergeschenken an Unternehmen und Betuchte die öffentlichen Kassen geplündert? Wenn die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert werden sollen - weshalb werden nicht schon jetzt sämtliche Bürger und Einkommensarten in die Pflicht genommen? Wenn künftig der Anteil der Erwerbsfähigen an der Bevölkerung sinkt - weshalb werden den jüngeren Generationen, denen die Last der demografischen Zeitenwende zufällt, nicht alle nur denkbaren Entwicklungschancen geboten?

Unbehelligt von solchen Einwänden begeben sich Schröder, Müntefering und Clement in einen politischen Wettbewerb, in dem sie nichts gewinnen kön-nen. Nach wie vor lautet ihre Standardformel volkswirtschaftlicher Weisheit: Ohne tiefgreifende Reformen gibt es keine Hoffnung auf einen konjunkturellen Aufschwung. Dass "spürbare Schnitte ins soziale Netz" mit einer Belebung der Konjunktur nichts zu tun haben, entzieht sich offenbar einer Gedankenwelt, in der Sabine Christiansen als volkswirtschaftliche Autorität akzeptiert wird. Und so marschiert er weiter, der Sachzwang, der keine Gnade kennt, nur noch die Alternative, entweder mit einem Abbau des Sozialstaats das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen oder mit Besitzstandswahrung die Kräfte der Wirtschaft zu lähmen. Eine Logik, die sich auf die Vokabeln "Beschleunigen" und "Bremsen" beschränkt, bewirkt aber nicht nur kurzfristig das Gegenteil dessen, was sie angeblich will. Fatal ist vor allem, dass sie die langfristigen Herausforderungen verdeckt, die zu lösen sind, und die Richtungsentscheidungen vernebelt, die zu treffen sind, wenn die Gesellschaft, in der wir leben, eine Zukunft haben soll: Abschied von der Hoffnung auf die Zauberkraft eines ungebändigten Wachstums, Abschied von der Illusion grenzenloser Verfügbarkeit der Natur und Abschied von der Spaltung der Arbeitswelt in Überbeschäftigte und Arbeitslose, in Hochverdiener und Dienstboten. Positiv formuliert: Eine Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit versöhnt, die auf intelligente Weise Erwerbsarbeit und Eigenarbeit kombiniert und in der die Bürger nicht allein an ihrer Verwertbarkeit gemessen werden. Hätte die SPD-Führung den Mut, den interessegeleiteten Kassandrarufen zu widerstehen und ein wirkliches Umbauprojekt zu präsentieren, müsste sich die Partei um die Zukunft nicht sorgen.

Was das etwa für die Rentenversicherung bedeutet, liegt auf der Hand. Entweder zwei Schritte zurück - das hieße, die gesetzliche Rente im Namen der Beitragsstabilität kontinuierlich auf eine Minimalversorgung zurecht stutzen und parallel eine private Säule aufbauen, die sich bereits jetzt, siehe Lebensversicherungen, als brüchig erwiesen hat. Oder einen kräftigen Schritt voraus - hin zu einer Bürgerversicherung nach dem Schweizer Modell, die sämtliche Bürger und Einkommensarten einbezieht und für einen sozialen Ausgleich sorgt, indem Beitragsbemessungsgrenzen fallen und strikte Mindest- und Maximalrenten festgelegt werden. Heiner Geißler, das alte Streitross, hat kürzlich seine Partei vor einer solchen Konfrontation gewarnt. Sein Kalkül ist ganz einfach: Wenn die CDU auf einen Gegner trifft, der den Vorwärtsgang einlegt, hätte sie schlechte Karten. Sie könnte dann nicht mehr die Bundesregierung mit noch radikaleren Vorschlägen zum Sozialabbau angreifen, sondern müsste ihr eigenes unpopuläres Konzept begründen. Hans Thie ist Wirtschaftsredakteur der Wochenzeitung "Freitag" in Berlin.


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