Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12-13 / 15.03.2004
Frauke Hamann

Lebensbedrohliche Erinnerungen

Traumaerfahrungen nach erlittener Gewalt

Die junge beruflich erfolgreiche Frau, die ihren Körper nicht spürt, sich Verletzungen zufügt und schließlich nicht mehr arbeitsfähig ist, begreift im Verlauf einer Traumatherapie die Ursache - der Großvater hat sich an ihr als Kind vergangen. Wege aus der Angst schildert Fälle wie diesen: "Frühes Leiden wird zur körperlich ausgedrückten Krankheit, die aktuelles Leiden verursacht."

Die Gesellschaft hat sich der Diskussion traumatischer Ereignisse und ihrer Ursachen gestellt, wie nicht zuletzt die Debatte über die Holocaustopfer und ihre Nachkommen belegt. Ereignisse wie Kriege, Katastrophen, Folter, Verbrechen oder schwere Unfälle wirken traumatisch und halten die Betroffenen gefangen. "Dass aber die frühe sexualisierte Gewalt und die Vergewaltigung von Frauen die gleichen oder noch gravierendere seelische und körperliche Folgen haben, wurde lange nicht erkannt."

Mit dieser These beginnt Inge Olbrichts Buch. Die Autorin war bis vor kurzem Chefärztin der Psychosomatischen Abteilung einer Klinik in Bad Wildungen, wo sie 1987 eine Therapiegruppe für sexuell traumatisierte Patientinnen einrichtete, die ausschließlich von Therapeutinnen betreut wurde. In "Wege aus der Angst" begründet sie ihr Konzept geschlechtshomogener Gruppen, analysiert Ursachen und Folgen von Traumata, schildert Therapieansätze und -erfahrungen. Ihr ist bewusst, dass der Trauma-Begriff derzeit inflationär verwendet wird und sexueller Missbrauch medienwirksames "Modethema" geworden ist.

Olbricht ächtet den Begriff "sexueller Missbrauch", weil er verharmlose und letztlich die Täter schütze. Vergewaltigungen oder Kindesmisshandlungen seien keine Sexualakte, sondern besonders schwere Menschenrechtsverletzungen, ein Vehikel für die Macht- und Zerstörungswünsche von Tätern (etwa 80 - 90 Prozent der Täter sind Männer), seien "sexualisierte Gewalt". Mit den gängigen Begriffen würden die Entwicklungsstörungen, Angsterkrankungen und Depressionen von Frauen zu individuellen Problemen gemacht und nicht als Zeichen personaler und strukturellen Gewalt in der Gesellschaft aufgefasst.

Olbricht stellt die schwerwiegenden Folgen sexueller Gewalt dar und beschreibt, was im Gehirn bei einer traumatisierenden Erfahrung geschieht. Dann stellt sie ein Drei-Phasen-Modell der Traumatherapie vor. Die Traumaerfahrung fällt aus dem üblichen Lebenskontext heraus, kann nicht als Wirklichkeit erkannt werden. Sie ist deswegen nicht im biographischen Gedächtnis gespeichert und damit durch die Erinnerung abrufbar. Je nach Trauma und Persönlichkeit können Wochen, Monate oder Jahre vergehen, bis sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt: "Noch heute werden Zusammenhänge zwischen Trauma und Lebensgeschichte oft nicht hergestellt, wenn Inhalte und Symptome erst Jahre später auftauchen."

Die Therapeutin beschreibt die gravierenden körperlichen Auswirkungen von Traumatisierungen. Die Beziehungen zum eigenen Körper sind nachhaltig gestört, da der Körper "als Speicher das Trauma enthält". Selbstverletzungen und Suchterkrankungen treten vermehrt auf, das Risiko eines Suizidversuches ist zwölfmal höher. Traumatisierte seien stets in der Erwartung der erneuten Katastrophe. Das Beispiel der Dichterin Sylvia Plath, die mehrere Suizidversuche unternahm und schließlich starb, zeige, dass Überlebende ständig in der Gefahr sind, an ihrem Überleben zu scheitern.

Doch Olbricht weiß auch: "Das Trauma gibt es nicht." Sie schildert die Selbstheilungsversuche sexuell traumatisierter Patientinnen, macht deren Handlungs- und Kommunikationssignale sichtbar. Konsequent weist sie die von ihr entwickelten Wege aus der Angst: Es sei schädlich, die "Versöhnung" mit dem Täter anzustreben. Die Autorin plädiert für geschlechtshomogene Therapiegruppen, die eigene soziale Systeme darstellten - nur so könnten traumatisierte Frauen für sich selbst als Individuen sichtbar werden.

Olbricht hat sich in ihrer Arbeit auf Frauen konzentriert, die massiv unter den seelischen und körperli-chen Folgen von Gewalt leiden. Sie zeigt, dass dabei neue Konzepte und eine besondere Kombinationen von Therapieverfahren und -techniken entwickelt werden müssen. Die Fachdebatte ist unabgeschlossen, die Definitionen sind im Fluss. Mit "Wege aus der Angst" stellt Inge Olbricht ihre reichen Erfahrungen zur Diskussion.

Inge Olbricht

Wege aus der Angst. Gewalt gegen Frauen, Ursachen - Folgen - Therapie.

C. H. Beck, München 2004; 240 S., 18,40 Euro

Frauke Hamann arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.