Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 03.05.2004
Alva Gehrmann

Am Tor der Morgenröte

Wie die junge Generation im Baltikum die Zukunft zur Gegenwart macht
Schwungvoll läuft Silver Meikar die Treppen zum Plenarsaal herunter, gleichzeitig tippt er schnell etwas in seinen Laptop, den er mühelos auf dem rechten Arm balanciert. "Mir ist gerade noch etwas eingefallen", sagt er, lächelt und klappt seinen Laptop zu. Silver Meikar ist ein groß gewachsener Mann, er trägt einen schwarzen Kordanzug, dazu eine schicke Krawatte. 26 ist der Politiker und damit der jüngste Abgeordnete im estnischen Parlament (Riigikogu).

Souverän führt er durch das Gebäude: Die Toompea ist eine mittelalterliche Festung in Tallinn, die im 13. und 14. Jahrhundert vom Deutschen Orden erbaut wurde. Silver Meikar mag die Würde des Hauses, die knarrenden Holzfußböden, die Kronleuchter und auch den alten Plenarsaal.

Meikar ist ein typischer Vertreter der neuen Generation: Sie sind jung, machen schnell Karriere, wissen genau, was sie wollen. Seit einem Jahr ist er Mitglied im Parlament, zuvor hat er an der Universität in Tartu Wirtschaft studiert, sich in verschiedenen Initiativen engagiert und war zwei Jahre Geschäftsführer seiner eigenen Internetfirma. Doch das reichte ihm nicht: "Ich will etwas verändern", sagt er. Meikar ist Mitglied der Eesti Reformierakond, der Liberalen Partei, seine Fachgebiete sind Jugend und IT - da kennt Silver Meikar sich aus. Die schnelle Karriere gelang durch viel Engagement, aber auch weil die Zeiten sich geändert hatten.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und damit die Unabhängigkeit Estlands ist eine Chance für junge Menschen wie Meikar. 1991 fing alles bei Null an. Die alten Regeln galten nicht mehr. Also probierte sich die nachfolgende Generation aus, wurde aktiv, ging ihren eigenen Weg. Mit Erfolg: der Justizminister ist gerade mal 29 Jahre alt, der Premierminister 38. Im estnischen Parlament sitzen nicht nur die Jungen. Trotzdem, sagt man, arbeiten in keinem Kabinett so viele Jungpolitiker. Estland gilt als das Musterland der neuen EU-Mitglieder. Über 70 Prozent haben ein eigenes Handy, sie können ihre Parkgebühren per SMS bezahlen, jeder Bürger hat laut Verfassung das Recht auf freien Zugang zum Internet, Steuererklärungen werden online abgegeben und mit der ID-Card, die eine digitale Signatur ermöglicht, bestätigt. Die ID-Card ersetzt heute schon in vielen Bereichen den estnischen Personalausweis.

Vorbilder für den IT-Weg waren Finnland und Schweden. Beide unterstützen den kleinen Nachbarn mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern. Die Esten fühlen sich ohnehin mehr als Skandinavier, denn als Balten. Nur 80 Kilometer ist Helsinki von Tallinn entfernt. "Schon zu Sowjetzeiten konnten wir finnisches Fernsehen empfangen, deshalb wussten wir immer, was in der Welt passiert", sagt Silver Meikar, der 1991 gerade mal 13 Jahre alt war und kaum noch durch die "alte" Zeit geprägt ist. Heute setzt er sich für die nächste Generation ein, will Regionalwahlen ab 16 Jahre einführen. "Je früher die Jugendlichen lernen, dass sie etwas verändern können, umso besser. Dann gewöhnen sie sich daran." Aktiv sein, das ist die Devise. Und sei es nur, eine Initiative gegen das Fällen der Bäume, im Dorf zu gründen.

Die nächste Generation steht schon in den Startlöchern: Helen Hallik zum Beispiel. Sie ist 17. Treffen in der Altstadt, unweit des estnischen Parlamentsgebäudes Toompea, im "Beer House". Helen Hallik bestellt sich eine Cola. Alkohol darf sie offiziell noch nicht trinken, nicht mal ein Bier, denn das ist in Estland erst ab 18 Jahren erlaubt. Helen hat ein Augenbrauen-Piercing, trägt Jeans und T-Shirt, in der Adidas-Tasche sind ihre Schulunterlagen verstaut. Ein ganz normaler Teenager, wie überall in Europa. Bis auf Carhartt-Jeans bekomme sie in Estland alles, sagt sie. Die 17-Jährige ist schon viel herumgekommen, in Europa und der ganzen Welt. In 25 Länder war sie schon. Thailand, Deutschland und Frankreich zum Beispiel. "Mich ärgert, dass manche Franzosen immer noch denken, dass wir ein Teil von Russland sind." Hoffentlich ändere sich das bald. Ebenso die Vorstellung mancher Westeuropäer, Estland sei ein zweitklassiges Land.

Sie ist stolz, eine Estin zu sein. Trotzdem zieht es sie nach ihrem Schulabschluss in die Ferne. Public Relations möchte sie studieren - am liebsten in England. Denn dort soll es die besten Universitäten für das Fach geben. Durch die EU-Mitgliedschaft wird es für Helen Hallik leichter, einen Studienplatz zu bekommen. Mit ein Grund, weshalb sie es gut findet, dass Estland nun Teil der Europäischen Union ist. In der Schule hat sie nur wenig über die EU gelernt. "Es lagen ein paar Broschüren aus, mehr aber nicht." Im Internet jedoch gäbe es viele Websites, auf denen man sich darüber informieren kann. "Wer interessiert ist, bekommt also auch sein Wissen." Jeden Tag liest sie den Politikteil der Tageszeitung, für das Schulfach Sozialwissenschaften braucht sie das. Nur wenige ihrer Freunde interessieren sich für Politik. Sie surfen lieber im Internet, um sich über Stars zu informieren - bis zu sechs Stunden am Tag, oder sie schauen Fernsehen: MTV und Viva. "Das ist nicht so mein Ding, allein schon wegen der Musikauswahl. Ich stehe mehr auf Rock, auf Klassiker wie die Rolling Stones und Led Zeppelin."

Tallinn ist eine schöne Stadt. Zahlreiche mittelalterliche Gebäude, die liebevoll hergerichtet sind, finden sich direkt neben modernen Cafés. Sobald man die Hauptstadt verlässt, sind jedoch noch die Sowjetspuren zu sehen. Hässliche, verramschte Plattenbauten, wie es sie wohl in jedem Ostblockland gibt, auch in Lettland und Litauen.

In Lettland sind heute noch ein Drittel der Bevölkerung Russen, viele leben dortier als Staatenlose. Die Balten haben ein gespaltenes Verhältnis zu den ehemaligen Besatzern. Das vereint die drei Länder, die es ansonsten nicht mögen, als "die Balten" in einen Topf geworfen zu werden. Jede Nation hat ihre eigene Sprache, und kaum ein Lette, Este und Litauer lernt die Sprache des anderen. Man unterhält sich auf Englisch. Russisch wäre auch möglich, doch viele weigern sich diese Sprache zu sprechen. Mindestens drei Sprachen fließend spricht die junge Generation, auch Deutsch ist ein beliebtes Unterrichtsfach.

Stefans Bagienskis unterhält sich neben Lettisch und Englisch auch auf Polnisch. Vor über 200 Jahren kam seine Familie von Polen nach Lettland. Der 18-Jährige lebt in Ventspils, einer lettischen Küstenstadt, und macht gerade seinen Schulabschluss. Nebenbei arbeitet er als Kameramann bei "Ventspils televizija", einem Lokalsender. Jede lettische Stadt hat ihren eigenen Sender.

Kameramann werden, das ist sein Traum. Deshalb wird sich Stefans Bagienskis nach seinem Schulabschluss auf der polnischen Filmhochschule in Lodz bewerben. In Lettland gibt es noch keine. In seiner Freizeit dreht er gerade einen Spielfilm. Regie führt ein Deutscher, der an der Universität in Ventspils deutsche Literatur unterrichtet. "Einige Szenen aus dem Film will ich für meine Filmhochschulbewerbung nutzen", erzählt Stefans Bagienskis. Das Filmteam hat so gut wie kein Geld, deshalb wird viel improvisiert. Wie immer. Denn nur wenige Letten können sich das leisten, was sie wollen und brauchen. Manches ist auch einfach nicht in greifbarer Nähe: etwa ein Kamerakran. Also basteln sie sich einen aus Ersatzteilen. Und tatsächlich, der Kran funktioniert: Ein Schwenk über das Publikum, die Band spielt einen Song, fertig ist die Szene.

"Ich mach, was ich will", das ist das Lebensmotto von Stefans Bagienskis. Vor der EU hat er Angst. Lettland habe sich gerade erst von einem großen System befreit, nun befürchtet er, werde das Land von einem neuen unterdrückt. "Manchmal glaube ich, die Letten sind nur Letten, wenn sie unterdrückt werden." Heute, wo sie endlich unabhängig seien, würden viele Letten ins Ausland starren. "Sie schauen nur nach dem, was neu ist - lernen Englisch und studieren Wirtschaft -, und vergessen dabei ihre Herkunft."

Wirtschaft will auch Paulius Matuleviscius studieren, wenn er seinen Schulabschluss in der Tasche hat. Der 15-Jährige lebt in Vilnius, der litauischen Hauptstadt. Er wisse zwar noch nicht genau, in welchem Job er arbeiten werde, aber mit Betriebswirtschaft habe er später bestimmt gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt - in Litauen ebenso wie in ganz Europa. Sein Englisch ist sehr gut, bereits ab der ersten Klasse wird die Sprache unterrichtet. Er lernt auch Russisch, doch das spricht Paulius Matuleviscius nicht gerne. Überhaupt mag er die Russen nicht. Obwohl in Litauen gerade mal sechs Prozent der Bevölkerung Russen sind, habe er mit denen nur schlechte Erfahrungen gemacht. "In der Schule sind sie es, die uns die Handys und das Geld stehlen."

Paulius Matuleviscius lächelt verlegen, schaut seine Freundin an, die direkt neben ihm im Café sitzt. "Wir haben uns im Chatroom kennen gelernt", erzählt er. Beide surfen und chatten gerne im Internet. Doch sie hocken nicht nur vor ihren Computern, manchmal spazieren sie durch die Stadt. Er findet Vilnius schön, die litauische Hauptstadt ist berühmt für ihre zahlreichen Kirchen. Besonders gläubig ist er trotzdem nicht. "Ich finde die Institution Kirche nutzlos." Da ist er eine Ausnahme: denn die meisten Litauer sind gläubige Katholiken. Auch die Jungen. So sieht man immer wieder Jugendliche durch die Straßen laufen, die gerade noch angeregt über ihre Mathe-Klausur oder Eminem plaudern und dann plötzlich innehalten: etwa am "Tor der Morgenröte". Hier steht ein berühmtes Gnadenbild der heiligen Jungfrau Maria. Sie bekreuzigen sich, machen einen Knicks, dann plaudern sie weiter.

In Lettland und Estland wäre das undenkbar. Die beiden Länder sind eher protestantisch geprägt, feiern aber ebenso gerne Mittsommernacht, ein Fest mit heidnischen Wurzeln. Dafür sind die Menschen dort abergläubisch. Selbst die sonst so hightech-verliebten Esten halten sich an die zum Teil seltsamen Regeln. So darf man in der Wohnung nicht pfeifen, weil sonst das Haus abbrennt. Wer sein T-Shirt falsch herum anzieht, der läuft Gefahr, kurz darauf verprügelt zu werden.

Trotz des Neuanfangs gibt es also in den drei Ländern auch alte Regeln und Traditionen, die erhalten bleiben. Die jungen Letten, Litauer und Esten picken sich einfach das heraus, was ihnen gefällt. Mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union erhöhen sich ihre Auswahlmöglichkeiten.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.