Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 20 / 10.05.2004
Igal Avidan

Aus der Haft entlassen, aber nicht frei

Der israelische Atomspion Mordechai Vanunu

Was ist ein Handy? Wie funktioniert ein Laptop? Was fängt man mit einer DVD an? Praktische Fragen wie diese sind es, die den israelischen Atomspion Mordechai Vanunu nach 18 Jahren Haft beschäftigen. Mag sein, dass er sich während der Haft über neue Unterhaltungselektronik informieren konnte, über Staatsgeheimnisse wohl kaum. Was der ehemalige Atomtechniker über Israels Atomprogramm weiß, hat er bereits der "Sunday Times" verraten, bevor ihn Mossad-Agenten nach Israel entführten.

Zur Erinnerung: 1976 begann der junge Mann marokkanischer Abstammung im Atomforschungszentrum Dimona in der Negev-Wüste als Techniker zu arbeiten. Um die monotonen Nachtschichten zu kompensieren, begann er 1980 das Studium der Geographie und Philosophie an der benachbarten Beer-Sheba-Universität. Kant und Aristoteteles, Nietzsche und Sartre beeinflussten das Denken des ehemaligen Religionsschülers, der in seiner Jugend mit der rassistischen Kach-Partei sympathisierte. Er wurde Aktivist einer jüdisch-arabischen Studentengruppe, nahm an Demonstrationen gegen den Libanonkrieg teil und meldete sich beim kommunistischen Studentenbund an. Während seines Militärdienstes (als Reservist) im Libanon-Krieg 1982 weigerte er sich, an Kampfhandlungen teilzunehmen. Auf Studentenpartys äußerte er sich gegen Israels Atomwaffenpolitik.

Seine Vorgesetzten in Dimona und der Inlandsgeheimdienst (Shabak) erfuhren davon und begannen, ihn zu beschatten. Man versuchte ihn, anscheinend ohne großen Erfolg, als Informanten zu gewinnen. Aus diesem Grund sollte allein der Shabak über Vanunus Beschäftigung in Dimona entscheiden. Das aber ignorierte man in dort, Vanunu wurde befördert und im Oktober 1985 entlassen. Mit 60 Fotos, die er heimlich im Atomzentrum aufgenommen hatte, fuhr er nach Australien, wo er zum Christentum übertrat und versuchte, seine Geschichte über die Atomwaffen an die Medien zu verkaufen. Schließlich gelang ihm das Geschäft mit der "Sunday Times".

Kurz vor der Veröffentlichung der sensationellen Geschichte am 6. Oktober 1986 erfuhr der Mossad davon. Mit seinem Foto in der Tasche streiften Agenten durch London, bis die Agentin "Cindy" ihn zufällig vor einem Schaufenster am Leicester Square entdeckte und sich neben ihn stellte. Der schüchterne Mann wagte das Gespräch, "Cindy" (bürgerlicher Name Cheryl Bentov) stellte sich als amerikanische Jüdin vor, ließ sich zum Kaffee einladen. Am 30. September berichtete der "Sunday Mirror", dass Vanunu ein unzuverlässige Spinner sei, der Lügen über das israelischen Atomprogramm verbreiten wolle. Vanunu ließ sich auf Cindys Einladung ein - sie hatten bereits einige romantische Begegnungen -, mit ihr nach Rom zu fliegen, wo "ihre Schwester" eine Wohnung besitze. In Rom warteten auf ihn Mossad-Agenten, die ihn per Schiff nach Israel verfrachteten. 1987 wurde er in einem geheimen Prozess der Spionage und des Verrats für schuldig gefunden und zu 18 Jahren Haft verurteilt, davon elf Jahre in Isolation. Er wurde zum Helden von Atomkraftgegnern, Pazifisten und Feinden Israels.

Schon vor Vanunus Entlassung, begannen Israels Sicherheitsbehörden, allen voran der Sicherheitsbeauftragte des Verteidigungsministeriums, Yechiel Chorev, eine gezielte Medienkampagne gegen ihn. Im Februar berichtete "Jedioth Acharonot", dass Vanunu jeden palästinensischen Terroranschlag feiere und die israelische Fahne zu verbrennen versuche. Ein psychologisches Gutachten, das den Medien zugespielt wurde, schreibt ihm einen "krankhaften unkontrollierbaren Trieb und wahnsinnige Ambitionen zu, seine Erkenntnisse über Israels Atomwaffenarsenal publik zu machen". Da Vanunu sich als Guru der Anti-Atomwaffen-Bewegung verstehe, befürchten Experten, er stelle eine Bedrohung für die Sicherheit des Judenstaates dar.

Aus diesem Grund wurde Vanunus Freiheit durch Auflagen stark eingeschränkt: Keine Kontakte zu Ausländern, keine Interviews, keinen Pass und kein Annähern an Grenzübergänge und ausländische Vertretungen. Selbstverständlich darf er Israel nicht verlassen. Die 2.500 Briefe und 70 Ordner, die er in seiner Zelle schrieb, wurden beschlagnahmt. Jetzt fordert Vanunu deren Rückgabe, um vor dem Obersten Gericht gegen die Einschränkungen seiner Freiheit zu klagen.

Vanunus triumphaler Auftritt bei seiner Freilassung vor 250 Anhängern und Fernsehteams aus aller Welt war nur der Beginn einer Blamage Israels und dessen Politik der Verschleierung des Nuklearpotentials. Weitere werden sicherlich folgen, solange Vanunu seine Bürgerrechte nicht wieder erlangt. Die Presse wird seinen Auftritt vor Gericht verfolgen, wo er als Märtyrer den Eindruck erwecken will, er habe weitere Geheimnisse zu verraten. Hätte Israel ihn ziehen lassen, würde er bald in der Anonymität verschwinden. Israel könnte seine Atompolitik weiter unauffällig betreiben. Solange der Iran Israels Vernichtung auf seine Fahnen schreibt, wird Israel Atommacht bleiben dürfen und seine atomaren Einrichtungen internationalen Kontrollen entziehen können. Diese Haltung akzeptieren die USA und Großbritannien. Gleichzeitig arbeiten Jerusalem und Washington zusammen, um zu verhindern, dass der Iran Massenvernichtungswaffen erlangt.

Dennoch wächst die Kritik an Israels Politik der "bewussten Vernebelung", dessen Ziel es ist, keinen Anreiz dafür zu liefern, dass islamische Staaten nach Atomwaffen streben. So wird im Juli der Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA), Mohammad El-Baradei, Israel zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit besuchen (seine zwei früheren Besuche waren geheim). Baradei versucht seit Jahren, die Atomwaffen aus dem Nahen Osten zu entfernen.

In Israel stellen Geheimdienstexperten wie Yossi Melman die Frage, ob statt Vanunus nicht viel mehr ehemalige Sicherheitsbeamte den Staat Israel gefährdeten, die ihn für die Atomare Forschungsanlage in Dimona rekrutierten und beschäftigten, wissend, dass er zum radikalen Aktivisten wurde? Wie konnte er Israel mit den Fotos des Atomreaktors verlassen? Ist es Zufall, dass der Sicherheitsbeauftragte Chorev, der Vanunu praktisch unter Hausarrest stellt, früher Sicherheitsbeamter in Dimona war und eventuell für dessen Aktivitäten mitverantwortlich ist? Später war Chorev Mitglied einer Untersuchungskommission, die keine Schuldigen für die Panne im Nuklearreaktor fand.

Ein Handy darf Mordechai Vanunu nicht besitzen und im Internet darf er auch nicht surfen. Er will sich einer vordringlichen Aufgabe widmen: eine Frau zu finden. Er ist vorsichtig. Die letzte Frau, der er verfiel, entpuppte sich als Mossad-Agentin. Igal Avidan


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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