Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 26 / 21.06.2004
Christoph Oellers

Der Torwart muss den Kasten sauber halten

Der FC Bayern und seine Talentschmiede
"Der war nicht scharf geschossen." Max Grüns Linke beschreibt die Flugbahn des Balles, ehe der auf seinen rechten kleinen Finger prallte. Der Finger brach. Für vier Wochen kann er nur links die Hand geben. Max ist Torwart in der B-Jugend des FC Bayern. Mit 17 Jahren hat er die Figur eines Eishockeyspielers. Ein Alptraum für jeden Stürmer, der allein auf ihn zuläuft. Er bleibt cool, bis die Nerven des Gegners versagen. Sein blondiertes Haar hat er gegelt wie zu einem Hahnenkamm, wie David Beckham 2002. Das Elternhaus in der mainfränkischen Provinz verließ er vor zwei Jahren. Sein Talent war den Scouts des deutschen Rekordklubs in der Bezirksauswahl aufgefallen. Nach einem Probetraining wurde sein Traum fürs Erste wahr.

Draußen übt die Mannschaft, deren Kapitän er ist, im kalten Regen. Sie hüpfen einbeinig über den Platz, sprinten und traben, spielen sechs gegen zwei mal mit einer Ballberührung, mal mit zwei Kontakten. Gerade erst haben sie den Kraftraum verlassen, am Abend wartet noch ein Training. Trotzdem geht es zur Sache. Sie grätschen, sie hadern, sie kämpfen. "Am Anfang war das ziemlich hart. Sechsmal die Woche Training war ich nicht gewohnt", sagt Mathias Schwarz. Er ist der Freund von Max, Mittelfeldspieler und erst 16 Jahre alt. Wie Max kam er vor zwei Jahren zu Bayern. Die Jungs kennen sich von der Bezirksauswahl Unterfranken. Der Klub schloss mit ihnen eine Vereinbarung, wonach er Unterkunft, Verpflegung, Taschengeld sowie das Ticket für eine monatliche Heimreise gewährt. Beide wohnen mit elf Jungs im Jugendhaus, einem zweistöckigen Betonwürfel auf dem Trainingsgelände, vis à vis vom eingezäunten Rasen der Profis.

Drinnen hat Christa Schweinberger das Sagen: Seit fast zehn Jahren serviert sie Frühstück, kocht Kaffee, backt Kuchen, achtet streng auf die Gebote hiesiger Disziplin: bis 23 Uhr im Haus zu sein, Mädchen außen vorzulassen sowie den Ball, Lustobjekt schlechthin, vom Zimmer fernzuhalten. "Für Freundin oder so hat man eher weniger Zeit", sagt Max im Mono-Ton. Mathias klingt ähnlich: "Ich will mal was erreichen. Da muss man auf manche Sachen verzichten."

"Die Burschen versuchen mich schon immer wieder zu blitzen." Frau Schweinbergers Stimme färbt ein oberbayerisches Idiom. Sie sitzt an einem nüchternen Allzwecktisch des Aufenthalts-, Eß- und Studierraumes, den ein FCB-Teppich eröffnet. Die Wände schmücken deckenhohe Glasvitrinen, in denen Pokale golden und silbern glänzen. Eine Sofaecke dreht sich um einen Fernseher von der Größe eines Kneipen-kickers. "Natürlich habe ich meine Lieblinge - 100 Pro." Mit verschränkten Armen auf der Tischplatte hält sie sich in einer Habachtstellung. "Aber man merkt mir nicht an, wen ich besonders gerne habe, glaube ich." Wenn sie vom Vergangenen spricht, schon. Der Titel, den ihr die Generation um Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm verlieh, beflügelt sie unverkennbar bis heute. "Die haben mich 'Chefin' genannt." Schweinsteiger und Lahm gewannen vor zwei Jahren die deutsche A-Jugendmeisterschaft, nun kämpfen sie in Portugal um die europäische Fußballkrone. Über Christa Schweinbergers Kopf rumpelt es. "Da räumt jemand brutal auf. Das ist der Matze." Mathias bewohnt im ersten Stock ein Apartment mit Balkon. Da hat er sich aus Tisch und Stuhl einen Hochsitz gebaut, um das Training der Profis besser verfolgen zu können. Sein Händedruck ist nicht stark, nicht schwach, ganz normal. Schüchtern? Eher zurückhaltend, ein guter Beobachter, vielleicht. Er wirkt noch etwas schmächtig. "Als ich das erstemal alleine in diesem Zimmer stand, nachdem meine Eltern gegangen waren, war das schon ein bisschen komisch." Das sei eine große Umstellung gewesen von den wenigen Einwohnern seines Dorfes auf die Münchner Millionendimension. "Schon was ganz anderes als bei uns." Er hätte auch zum VfB nach Stuttgart wechseln können, seine Mutter hätte das lieber gesehen, weil Breitenbuch nur zwei statt jetzt fast vier Stunden weg gewesen wäre. Höchstens einmal im Monat fährt er heim. Auf dem Kleiderschrank klebt der Franzose Zinedine Zidane, dreifacher Weltfußballer. Es macht ihn etwas verlegen, wenn er darauf angesprochen wird. Andererseits ist die Liebe offensichtlich. Wozu darüber Worte verlieren? Mathias will das Abitur. "Ich bin ja nicht schlecht in der Schule." Drei Jahre noch.

Max hat die Mittlere Reife seit letztem Jahr in der Tasche. Im Januar brach er die Fachoberschule ab, weil Training, Nationalmannschaft und Knieverletzung alle Kräfte forderten. "Wir legen Wert darauf, dass jeder einen möglichst hohen Schulabschluss hat, mindestens den bayerischen Realschulabschluss." Florian Cichlar organisiert das schulische Begleitprogramm für die A- und B-Jugend. Montags, dienstags, donnerstags bietet er eine Studierzeit an. "So eine Mischung aus Hausaufgaben machen und Nachhilfe." Ohne Cichlar würden die meisten das Schuljahr nicht heil überstehen. Sechsmal Training, Auswärtsspiele bis nach Saarbrücken und Mainz, dazu viele Lehrgänge mit der Nationalmannschaft. Die liegen überdies gerne in der Schulaufgabenzeit. "Das ist eine Belastung, mathematisch ausgedrückt, die mindestens vervierfacht ist: doppelte Schulaufgaben und doppelter Stoff." Wem dreimal die Woche nicht langen, der kann mit einem der drei Nachhilfelehrer Zusatzschichten fahren. Cichlar lehrt Mathematik und Physik an einer Münchner Privatschule. Der Job hier scheint Passion zu sein. Seit acht Jahren sorgt er sich um etwa 30 Jungen. Sein Augenmerk gilt besonders den Auswärtigen, die im Jugendhaus wohnen. Er übernimmt elterliche Aufgaben: sucht die Schule aus, hält Kontakt zum Direktor, kontrolliert die Leistungen. "Von seiten der Eltern heißt es zunächst immer, das wichtigste für uns ist die Schule." Alle Noten verbucht er in seinem fc-bayernblauen Ordner. "Wenn mir da jemand mal was verheimlicht, werde ich genau so sauer wie ein Vater oder eine Mutter."

Unter Mathias Schwarz reihen sich überwiegend Zweier. Cichlars Augen leuchten, wenn er auf das Schuljahr 2000/2001 zurückblickt. Von seinen 33 Schülern blieb niemand sitzen, A- und B-Jugend gewannen die deutsche Meisterschaft. "Mannschaften, die bei mir zuverlässig und toll sind, die stehen auch weit oben in der Tabelle." Bei der Truppe von Max und Mathias war das im ersten Halbjahr anders herum: In Cichlars Ringbuch hatten Vierer und Fünfer sowie Kringel Konjunktur, die Elterngespräch bedeuten, andererseits verlief die Hinrunde desaströs. Jugendabteilungsleiter Werner Kern sah den Ausnahmezustand gekommen und hielt eine Gardinenpredigt zu FC Bayern, Ehre und Leistungsbereitschaft. "Ich hatte Angst, dass wir absteigen."

Maxens Fingerbruch ist die vierte schwere Verletzung in seiner Zeit bei Bayern. Nach der Januar-Kata-strophe, Kreuzbandan- und Innenbandabriss im rechten Knie, kamen Zweifel auf. "Da hat man schon gedacht: warum ich." Das sei aber nur ein kurzer, "dummer Gedanke" gewesen, den er seiner Mutter verraten habe. "Ich kann mir nichts anderes vorstellen, als Fußball zu spielen."

Sechs gegen zwei. Mathias muss selten in der Mitte dem Ball hinterher jagen. Wie er ihn annimmt, führt, abdeckt, nach kurzem Zögern weiterspielt, die leicht schleppende Bewegung samt gekrümmter Körperhaltung - das erinnert an sein Vorbild auf dem Poster. "Der Matze ist eigentlich ein Zehner", sagt sein erster Bayern-Trainer, Roman Grill. Der könne in den Straf-raum dribbeln, zwei Mann auf sich ziehen und habe die Wahl, wo er hinspielt. Grill hat mit Bleistift ein Rechteck voller Kreuze gemalt, das Kreuz mit der zehn eingerahmt und davon energische Pfeile gezogen. Er springt vom Schreibtisch auf und macht vor, was er meint, dreht sich ein paar Mal um die eigene Achse. "Zack, zack, Täuschung, und dann kann er spielen. Matze hat immer Optionen. Im Unterschied zu mir früher, der froh war, wenn der einfache Pass gelang." Andererseits sei das so eine Sache mit den Optionen. Man hat die Wahl, und Entscheidungen verlangen Zeit, die es im Spiel kaum gibt. Nummer zehn, das ist die Position hinter den Spitzen, Mathias hat aber bei Grill immer den defensiveren Part, die Acht gespielt. "Vorne, das kann er im Schlaf, hinten aber, das muss man ihm jetzt beibringen, damit sich das noch automatisieren kann."

Max und Mathias werden in die A-Jugend übernommen. Die Hälfte ihrer Mitspieler muss sich verabschieden, weil fortan zwei Jahrgänge eine Mannschaft bilden. Der Traum, Profi zu werden, rückt näher. Max ist ein bisschen weiter. Der Kapitän bekommt als einziger seines Jahrgangs schon einen Vertrag. "Weil wir glauben, dass er in zwei Jahren Torwart bei den Amateuren wird", sagt Jugendleiter Kern. Da geht es dann nicht mehr nur um Taschengeld. "Wenn die Leistung stimmt, belohnen wir das. Logisch." Die anderen müssten sich noch beweisen und begreifen, nicht für sich, sondern mannschaftsdienlich und effektiv zu spielen. "Gewinnen wird jetzt immer wichtiger." Kerns Botschaft ist klar: Spätestens in der kommenden Saison hat der Spaß ein Ende.

Max redet schon fast wie ein Profi. Sein Selbstbewusstsein scheint enorm, das nötige Vokabular perlt ihm von den Lippen. "Ja gut. Sicher. Ja klar", antwortet er, wenn es um Erwartungshaltung beim FC Bayern geht. Und in Sachen Nummer eins: "Ich denke mal, dass der Torwart seinen Kasten sauber halten muss, sonst geht jedes Spiel verloren." In Karlstadt bei Würzburg scherzen die Freunde schon, dass er 2006 Oliver Kahn beerbt. Dabei hat Max jahrelang bei seinem Heimatverein Mittelfeld gespielt. "Im Tor war mir das zu langweilig. Da hätte ich mich auch schlafen legen können."

Nach dem letzten ernsthaften Training der Profis unter Ottmar Hitzfeld klettert Mathias von seinem Hochsitz, streift die Vereinskluft über, schnürt die Fußballschuhe und präsentiert sich an einer Ecke des heiligen Profi-Rasens mit Owen Hargreaves dem Photographen. Lächeln und Bällchen zukicken. Natürlich auch reden. Hargreaves kam 1997 mit 16 aus Calgary, Kanada, zu den weltweit präsenten Bayern. "Das war schon ein Traum, sich mit den besten deutschen Talenten messen zu können." Dafür hat er seine Heimat, seine Eltern, seine Freundin verlassen. Ein Schulabschluss fehlt ihm trotz Cichlar. In seinem ersten Profijahr gewann er Champions League und deutsche Meisterschaft. Nun spielt er bei der EM für England. Im Jugendhaus hängt sein Trikot mit der Nummer 23. "Für Mama Schweinberger: danke, dass Sie immer da waren."

Telefon. Mutter Grün ist besorgt ob der Berichterstattung über Max. Schlechte Erfahrungen mit einem Radiosender. Sie sei ja nur vorsichtig. Woher die Narbe auf seinem linken Daumen stamme? "Mit dem Brotmesser abgerutscht. Da ist er aweng ungeschickt." Gut, dass der Fußball noch Mütter kennt.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.