Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 29-30 / 12.07.2004
Aschot Manutscharjan

Diese Radioaktivität würde für einige Tschernobyls reichen

Russlands stellvertretender Umweltminister Sergej Antipow zur Entsorgung von Atom-U-Booten

So genannte "investigative" Journalisten berichten inzwischen nur noch selten aus den militärischen Sperrgebieten Russlands. Immerhin gelang es ihnen in den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges, Bilder von ausgemusterten russischen Atom-U-Booten, die in den Häfen vor sich hin rosteten, in die Wohnzimmer der interessierten Weltöffentlichkeit zu transportieren - dank einer gelungenen Regie aus Moskau übrigens. Die Texter aus dem Off verstanden es hervorragend, Ängste zu schüren, indem sie Hunderte schwimmende Tschernobyls im Norden Europas präsentierten, die unsere Sicherheit bedrohten. Gerne wurden russische Admiräle und Umweltschützer ins Bild gerückt, um die Horrorszenarien zu bestätigen und zum rechtzeitigen Einschreiten aufzufordern. Kurzum: Russland erpresste via TV die Welt, allen voran die umweltbewussten und geographisch benachbarten Europäer. Gleichwohl legten westliche Politiker lange Zeit eine gewisse Hartleibigkeit an den Tag, indem sie Russland zu verstehen gaben, es möge seine nuklearen Abfälle doch bitte selbst entsorgen. Die Antwort aus Moskau: "Wir haben kein Geld", kam prompt. Obwohl Russland weiterhin Mittel für den Bau neuer Atom-U-Boote ausgibt.

"Die Lage hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der UdSSR verschärft, als klar wurde, dass die Masse der Atomwaffen, darunter die Atom-U-Boote, nicht mehr gebraucht würden", sagte der stellvertretende Minister für Atomenergie, Sergej Antipow, dieser Zeitung. Seit 1998 ist sein Ministerium für die Entsorgung der russischen nuklearen Waffenarsenale zuständig. "Wir haben bislang 193 russische Atom-U-Boote außer Dienst gestellt. Als sie gebaut wurden, hatte man weder Geld noch Zeit an ihre Entsorgung zu denken", betonte Antipow. Nicht nur Russland, sondern die ganze Welt habe jetzt das Problem, "was aus diesen Waffen wird".

Im Unterschied zur Geheimniskrämerei während des Kalten Krieges betreibt Moskau heute eine offene Informationspolitik: Die "Friedhöfe für Atom-U-Boote" enthalten derart viel radioaktives Material, dass es für einige Katastrophen à la Tschernobyl ausreichen würde, hört man allenthalben. Auch die Möglichkeit, dass Nuklearabfall in die Hände von Terroristen gelangen könnte, trägt nicht zur Beruhigung der Öffentlichkeit bei. Deshalb entschlossen sich die führenden Wirtschaftsnationen nach dem 11. September zum Handeln. Auf dem G-8-Weltwirtschaftsgipfel 2002 in Kananaskis vereinbarten die Staats- und Regierungschefs, global gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vorzugehen. Endlich man bereit, "Russland zu helfen", sagte Antipow.

Im Rahmen des G-8-Projektes, das im April 2004 in Kraft getreten ist, wurde ein internationales nukleares Umweltschutzprogramm für Russland MNEPR (Multilateral Nuclear Environmental Programme in the Russian Federation) ins Leben gerufen. Auch Deutschland beteiligt sich bis 2012 mit 1,5 Milliarden Euro. Bislang hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit für die kommenden sechs Jahre 300 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Ausgegeben werden die Gelder für den Bau eines Zwischenlagers in der Saida-Bucht bei Murmansk. Dort sollen die Atomreaktoren sicher aufbewahrt werden. Auch der Transport der Reaktoren zur nahe gelegenen Nepra-Werft, wo sie zerlegt werden, wird von Deutschland finanziert. Den Kernbrennstoff entfernen die Russen sicherheitshalber vorher.

In den Aufgabenbereich Antipows fällt auch die Durchführung von nuklearen Umweltprojekten in Russland, MNEPR (Multilateral Nuclear Environmental Programme in the Russian Federation). Am Rande einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Auswärtige Politik in Berlin betonte er, dass Deutschland ein besonders guter Partner beim nuklearen Umweltprogramm sei. "Die Deutschen sind pragmatisch. Zudem machen sie keine leeren Versprechungen, sondern sie setzen das Vereinbarte auch um. Wir sind den Deutschen sehr zu Dank verpflichtet und würden es gern sehen, wenn auch andere Staaten in ähnlicher Weise helfen würden."

Auf die Frage, warum Russland diese Aufgabe nicht allein löse, räumte Antipow, dass die Kapazitäten seines Landes dazu nicht ausreichen. Es gebe daür weder das nötige Geld noch sichere Lagerstätten. Die Reaktoren müssten mindestens 50 bis 70 Jahre auf Grund ihrer hohen Radioaktivität zwischengelagert werden. Erst danach könnten sie umweltschonend entsorgt werden.

In Bezug auf die Lage in den russischen Pazifik-Häfen, informierte Antipow, dass ein Teil der Atom-U-Boote, die entsorgt werden müssen, noch dort in Marinestützpunkten vor Anker lägen. Das wichtigste sei, dass die U-Boote beim Abtransport nicht versehentlich versenkt würden. "Wollen wir die Atom-U-Boote im Wasser liegen lassen, dann müssen wir gegen die Korrosion ankämpfen. Das kostet viel Geld. Besser wäre es, alle Reaktoren auszubauen und an Land zu entsorgen."

Auf die Frage nach stark radioaktiv verstrahlten Gebieten antwortete Antipow: "Nukleare Abfälle werden auf zwei früheren Basen der russischen Marine gelagert. Dort lebt niemand. Wichtig ist, dass die Strahlung nicht in die Atmosphäre gelangt. Deshalb haben wir die globale Partnerschaft ins Leben gerufen und den internationalen Vertrag für ein nukleares Umweltschutzprogramm in Russland unterschrieben."

Von den genannten 193 außer Dienst gestellten Atom-U-Booten müssten noch 62 entsorgt werden. Antipow versicherte, dass bis 2010 alle Atom-U-Boote entsorgt werden sollen. Der nukleare Abfall werde direkt in das russische nukleare Entsorgungszentrum "Majak" transportiert und nicht wie früher in den Häfen oder an der Küste gelagert und nicht mehr im Meer entsorgt. "Wir haben die Londoner Konvention über das Verbot der Entsorgung in den Weltmeeren unterschrieben. Sie ist noch nicht ratifiziert, da Havarie-Fälle und technische Probleme noch nicht endgültig geklärt sind."

Auf die Frage, wie geschützt die Atom-U-Boote vor dem Zugriff von Terroristen seien, versicherte der stellvertretende Minister, dass die Atom-U-Boote, die noch im Dienst sind, stärker bewacht werden als die ausgemusterten. Die Flotte müsse sich nicht nur vor Terroristen schützen, sondern auch vor möglichen Militäraktionen. Antipow verneinte die Frage, ob nukleare Abfälle an andere Staaten verkauft würden. "Russland hat keinem Staat beim Bau von Atombomben geholfen, weder mit waffenfähigem Material noch mit Technologie. Ich versichere, dass wir das russische Atomwaffen-Programm nie exportiert haben." Berichte über Nuklearexporte aus Russland träfen nicht zu. "Am lautesten schreien diejenigen, die selbst Dreck am Stecken haben. Möglicherweise liegt das auch im Interesse bestimmter Wirtschaftskreise, die ihre Geschäfte unter Ausschluss der Öffentlichkeit machen wollen." Antipow hält es jedoch für ausgeschlossen, dass irgendeine Atommacht derartige Gerüchte über russischen Nuklearhandel in die Welt setzt, um von eigenen Waffenexporten an Dritte abzulenken.

Pakistan habe zwar bestimmte Kenntnisse über Atomwaffenproduktion weitergegeben, aber es habe sich dabei um Technologie auf sehr niedrigem Niveau gehandelt. "Es hilft mir nicht, wenn ich weiß, wie ein Mercedes aussieht. Bauen kann ich ihn deshalb noch lange nicht. Dafür braucht ein Staat ein enormes technisches Potential."

Eine Zusammenarbeit Russlands mit Iran in Bezug auf ein Atomwaffenprogramm bestritt Antipow. "Unsere Zusammenarbeit mit Iran dient eindeutig nur friedlichen Zielen. Wir helfen dem Land, ein Atomkraftwerk zu bauen. Die Technologie für den Bau eines Kernkraftwerkes kann nicht für Waffenprogramme genutzt werden. Das ist ausgeschlossen. Die Internationale Atomenergiebehörde kontrolliert die Anlage sehr streng. Jeder Schritt, jede Operation, jeder nuklearer Brennstab ist unter Kontrolle." Auf die Besorgnisse Washingtons gegenüber diesem Geschäft angesprochen, betonte der Umweltpolitiker: "Die USA wollten nicht, dass Russland das Kernkraftwerk in Iran baut. Schließlich ist es ein gutes Geschäft. Sie würden gerne selbst diesen Auftrag übernehmen. Diese Horrorszenarien sind Luftblasen. Es handelt sich um einen normalen Konkurrenzkampf, der leider mit äußerst schmutzigen Mitteln geführt wird."

Antipow zeigte sich überzeugt, dass eine Terrorgruppe keine Atomwaffen einsetzen werde. "Der Zugang zu Nuklearwaffen ist derart kompliziert, dass das selbst eine sehr starke Gruppe nicht schaffen kann. Diese Waffen werden von verschiedenen, voneinander unabhängigen Ebenen kontrolliert." Das sei bei allen Atommächten der Fall. Die Gefahr eines Atomkrieges, wie sie der russische Militärstratege Kokoschkin für dieses Jahrhundert voraussagt, wollte Antipow nicht generell ausschließen. "Solche Gefahr bewegt sich nicht auf der Null-Ebene. Deshalb ist vor allem die internationale Politik gefragt." Aschot Manutscharjan


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