Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 33-34 / 09.08.2004
Susie Reinhardt

In Zeiten der Bastelbiografie verzichten immer mehr Frauen auf Nachwuchs

Wahlfreiheit mit Nebenwirkungen

Deutschland hat mit weniger als 1,3 Kindern pro Frau eine der niedrigsten Geburtenraten in Europa. Inzwischen bleibt fast jede Dritte des Jahrgangs 1965 kinderlos, unter Akademikerinnen sind es bereits rund 40 Prozent, die nicht Mutter werden. Was sind die Gründe?

Die Zeiten des Babybooms sind lange vorbei. Seit Mitte der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts fallen in vielen europäischen Ländern die Geburtenraten steil ab. Die Pille machte es Frauen möglich zu wählen, ob Sex zur Mutterschaft führen soll oder nicht. Zudem leben wir in Zeiten der Bastelbiografie. Der vorgezeichnete Lebensweg für Frauen ist in unserer Gesellschaft Geschichte. Heute kann jede weitgehend selbst bestimmen, ob sie ihre Kraft in Beruf, Familienleben, politische Arbeit oder andere Interessen investieren möchte.

Aber wie entsteht überhaupt der Kinderwunsch, und wann setzen Menschen ihn in die Tat um? Die amerikanischen Sozialpsychologen Hoffman und Hoffman entwickelten ein Value-of-Children-(Kinderwert)- Modell, das diese Frage beantworten soll: Zunächst einmal wirken äußere Einflüsse wie die Haltung der Gesellschaft gegenüber Kindern, Rahmenbedingungen und Barrieren sowie die finanzielle und soziale Stellung auf die Entscheidung zur Familiengründung ein. Wichtig ist außerdem der Wert, den Kinder für uns persönlich bedeuten und die vermuteten "Kosten" der Elternschaft (nicht nur die finanziellen). Dazu prüfen wir, ob es Lebensbereiche gibt, die in Konkurrenz zum Kinderwunsch stehen. Und schließlich spielt es eine Rolle, ob wir uns alternative Lebensziele - also ein Leben ohne Nachwuchs - überhaupt vorstellen können.

Harter Schnitt in der Biografie

Folgt man dieser Theorie, dann spricht für Frauen einiges gegen Kinder. Das beginnt beim Wunsch nach beruflicher Entwicklung, den viele hegen, der aber mit einer Mutterschaft heftig kollidiert. Während für Väter trotz der Familiengründung vieles beim Alten bleibt, bedeutet das Baby für die Mutter einen harten Schnitt in der Biografie. Nicht einmal fünf Prozent der Väter nehmen Elternzeit in Anspruch, informierte die Bundesfamilienministerin Renate Schmidt im Juni 2004. Es sind also weiterhin Mütter, die sich den Bruch in der beruflichen Entwicklung zumuten. Viele verbringen Jahre in der Babypause, einige finden nie zurück in den Beruf.

Aber das ist nicht alles. Sobald eine Mutter im Job aussetzt, schleicht sich die traditionelle Rollenverteilung ein, wie Familienforscher berichten. Bald ist eine Mutter für alle ungeliebten, prestigearmen Hintergrundarbeiten zuständig, weil sie ja sowieso zu Hause ist. Wenn sie statt des Computers die Waschmaschine bedient, verdient sie kein eigenes Geld mehr, wird finanziell vom Familienernährer abhängig. Als Betreuerin des Babys wird sie in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt, im flexiblen und mobilen Lebensstil behindert.

Zu diesen "Kosten" der Elternschaft kommen schlechte Nachrichten aus der Familienforschung. Kinder sind ein Risiko für die Partnerschaft, legt eine Studie der Forscher Fthenakis, Kalicki und Peitz nahe: Danach sprechen Paare ab dem letzten Drittel der Schwangerschaft immer weniger miteinander. Und wenn, dann drücken sie darin immer seltener Zuneigung oder Wertschätzung für den anderen aus. Streits werden häufiger und heftiger. Aktuelle Studien über Paare mit und ohne Kind belegen, "dass die Verschlechterung der Partnerschaftsqualität durch die Geburt des ersten Kindes deutlich beschleunigt wird", so die Wissenschaftler.

Wenn Elternschaft zu viele Nachteile bringt, werden Menschen keinen Kinderwunsch entwickeln oder nach reiflichen Überlegungen auf Nachwuchs verzichten, erklärt das Value-of-Children-Modell. Wir wissen aber nicht, was die Zukunft bringt. Entscheidend ist daher, welche Lebensveränderungen wir durch Kinder vermuten und ob wir glauben, dass uns ein Familienleben glücklich machen wird. Es geht also um persönliche Vorteile, die sich Menschen durch Kinder - oder eben durch Kinderlosigkeit - erhoffen. Dass Kinderlose als Egoisten gelten, ist ein altes Vorurteil, das sich bis heute hält. Dabei offenbart eine psychologische Studie, dass Frauen ebenso eigennützige Ziele mit der Mutterschaft verfolgen. Beide, die Kinderlose und die angehende Mutter, verbinden nämlich ihre Entscheidung in der Kinderfrage mit der Suche nach "Selbstverwirklichung". Mütter sagen ja zum Kind, weil sie das Baby als Vehikel für dieses Ziel betrachten; Kinderlose entscheiden sich gegen das Kind, weil sie den Nachwuchs als Hemmschuh für die eigene Entwicklung einschätzen.

Nun sind nicht alle Motive zur Familiengründung wohl überlegt und rational gesteuert. Frauen entscheiden die Kinderfrage auch durch einen inneren Vergleich mit der eigenen Mutter, stellt die Psychologin Christine Carl fest. Ebenso können Botschaften aus der Herkunftsfamilie Frauen in Richtung pro Kind lenken (Kinder sind das höchste Glück einer Frau!) oder sie contra Kind beeinflussen (Sei nie von einem Mann abhängig!). Die Herkunftsfamilie, Freunde und Bekannte, häufig auch Frauenärzte, nehmen außerdem indirekt Einfluss, indem sie nachfragen, ob denn schon was "unterwegs" ist, auf die biologische Uhr hinweisen oder berichten, wie sehr Kinder das Leben bereichern.

In ihrer Studie über gewollt Kinderlose stieß die Psychologin Carl auf drei verschiedene Typen von Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen auf Nachwuchs verzichten: Die Frühentscheiderinnen kennen gar keinen Kinderwunsch. Sie fällen schon in jungen Jahren ihr Votum kontra Mutterschaft und lassen sich in der Kinderfrage auch nicht vom Partner umstimmen, falls dieser Kinder möchte. Meist benutzen sie sehr sichere Verhütungsmittel. Einige befürchten, dass Kinder sie in ihrer Selbstverwirklichung gefährden, manche zweifeln an der eigenen Fähigkeit zur Erziehung, viele legen großen Wert auf ihren Beruf.

Die Spätentscheiderinnen wollen zunächst Mutter werden, zögern den Zeitpunkt für eine Schwangerschaft aber immer wieder hinaus. Um Mitte 30 ändern sie ihre Meinung und entscheiden sich gegen die Mutterschaft, oft nach langem Überlegen und Hadern. Eigene Kinder kollidieren für sie nicht nur mit beruflichen Wünschen. Sie möchten außerdem die gute Partnerschaft nicht durch Nachwuchs gefährden. Carl vermutet, dass bei diesen Frauen der Kinderwunsch vor allem gesellschaftlich geprägt ist.

Andere Kinderlose finden, dass ihnen zur Familiengründung hauptsächlich der passende Partner fehle. Die Aufschieberinnen geben an, sich Kinder zu wünschen - und tun trotzdem vieles, um keine zu kriegen. Anders als die Spätentscheiderinnen ändern sie aber ihre Meinung nicht. Bei ihnen wird die Kinderfrage schließlich durch die biologische Uhr entschieden. Als Grund, warum sie kinderlos geblieben sind, nennen sie retrospektiv, und fast immer ohne Reue, die äußeren Umstände.

Die Entscheidung in der Kinderfrage ist also von vielfältigen Einflüssen und Faktoren abhängig. Egoismus, Beziehungsunfähigkeit oder der Wunsch als Doppelverdienerpaar (DINKS) ein Leben in Luxus zu führen, sind häufige Vorurteile gegen Kinderlose - aber selten die wahren Motive. Wenn Frauen heute nicht Mutter werden wollen, dann weil sie gar keinen Kinderwunsch kennen und schon immer andere Lebenspläne verfolgt haben. Oder weil sie, trotz Nachwuchswünschen, meinen, dass die Schattenseiten der Mutterschaft überwiegen: Stattdessen wollen sie sich dem Beruf oder anderen Interessen widmen, unabhängig und selbstbestimmt leben, ungestörte Zweisamkeit in der Partnerschaft genießen und diese mit einer modernen Rollenverteilung führen.

Der Glaube an den Mythos, dass eine Frau erst durch ein Kind ein vollständiges Wesen ist, bröckelt. Auch wenn Mutterschaft immer noch das Normschicksal einer Frau ist - beginnen sich andere weibliche Lebensentwürfe zu etablieren. Kinder oder keine? Frauen dürfen selbst wählen, schließlich müssen sie mit der Entscheidung leben. Susie Reinhardt

Susie Reinhardt ist Diplom-Psychologin. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Hamburg.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.