Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 33-34 / 09.08.2004
Ulrike Gropp

Vom Ende der Gesundheit

Die heranwachsende Generation
"In meiner Klasse haben eigentlich fast alle irgend eine Allergie", sagt der neunjährige Leipziger Schüler Paul. "Das ist doch ganz normal, ich kenne kaum jemand, der nicht gegen irgendwas allergisch ist." Der Drittklässler selbst leidet an Asthma Bronchiale und muss nach eigenem Bekunden "ziemlich oft zum Arzt". Beim Sport darf er nur die wenig anstrengen den Übungen mitmachen, "weil ich sonst schrecklichen Husten und keine Luft mehr kriege". Paul empfindet sich deshalb als ein Kind, das "nicht richtig krank, aber auch nicht richtig gesund" ist - eine Erfahrung, die er und seine Eltern mit einer wachsenden Zahl von Familien teilen.

Neben den ganz "normalen" Kinderkrankheiten haben Allergien, Neurodermitis und Übergewicht bis hin zur Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen inzwischen eine Verbreitung erreicht, die sogar die bislang für dieses Thema wenig sensible Öffentlichkeit schockiert. Sind Arztbesuche, Medikamenteneinnahme und Therapien inzwischen die Normalität bei Familien mit Kindern, oder wird da etwa wieder nur einmal gewaltig übertrieben?

Unabhängig von der Antwort auf diese Frage steht das Thema im Raum: Welche gesundheitspolitische Zukunft haben Kinder und Jugendliche zu erwarten, wenn sie in einigen Jahrzehnten in großer Zahl auf ein marodes oder unbezahlbares Gesundheitssystem

angewiesen sein werden, das dann bereits mit der Behandlung der Alterskranken überlastet sein wird? Was geschieht, wenn aus kranken Kindern lebenslang Kranke werden?

Bei Experten gilt es als ausgemacht, dass eine fragile

Gesundheit in früher Kindheit die Nachfrage nach ärztlicher Hilfe und die häufige Inanspruchnahme des medizinischen Systems quasi einübt. Und dass die Medizin aus kränkelnden Kindern so lange "verlässliche Patienten" machen wird, wie Ärzte am Kranksein und nicht an der individuellen, größtmöglichen Gesundheit ihrer Patienten verdienen. In diese Richtung gehen Überlegungen wie die des Hamburger Psychiaters und Sozialmediziners Klaus Dörner, der in seinem 2003 erschienenen Buch "Die Gesundheitsfalle" unserem Medizinsystem ein katastrophales Zeugnis ausstellt. Und zu nicht weniger als einem Paradigmenwechsel aufruft: "Wir müssen bereit sein, Gesundheit nicht mehr als unseren einzigen Lebenszweck zu begreifen."

Ganz so weit ist man in der Politik noch nicht. Doch als die deutsche Verbraucherministerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) kürzlich die Folgekosten ernährungsbedingter Krankheiten auf 71 Milliarden Euro jährlich bezifferte, und zeitgleich der Fall eines Fünfjährigen bekannt wurde, der an Altersdiabetes leidet, ging ein Rauschen durch den Blätterwald. Die Lebensmittelindustrie sah sich anscheinend in Erklärungsnot angesichts des eigentlich seit längerem nachgewiesenen Zusammenhangs zwischen Ernährungsgewohnheiten und der Zahl von acht Prozent fettleibigen Kindern (hinzu kommen noch die "einfach übergewichtigen").

Flugs signalisierte sie der Ministerin Kooperationsbereitschaft. Vielleicht auch deshalb, weil Wissenschaftler den jetzt Heranwachsenden erstmals eine geringere Lebenserwartung als ihren Eltern voraussagen und das frühzeitige Ableben einer Konsumentengeneration zu befürchten steht. Vom Imageverlust ganz zu schweigen, der sich für die Branche ergibt, wenn das allgegenwärtige öffentliche Essen und Trinken immer häufiger sichtbar macht, dass zwischen den 1,5 Literflaschen mit Softdrinks in der Schultasche und dem kindlichem Übergewicht des Konsumenten eben vielleicht doch ein Zusammenhang besteht. Auch wenn Mattias Horst vom "Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde" das Gesprächssignal an die Ministerin mit dem Hinweis abschwächte, dass die Branche "jede Verantwortung" zurückweise, schließlich gebe es "keine gesunden und keine ungesunden Produkte, nur auf die Dosierung" käme es an.

Angesichts dieser Meinungslage sieht es (noch) nach einem aussichtslosen Kampf um die Gesundheit der Heranwachsenden aus, befürchtet die Grundschullehrerin Annette Flaig. "Was vermögen wir in der Schule mit unseren Versuchen zur Gesundheitserziehung, wenn Gesellschaft und Eltern etwas anderes vorleben", fragt die Pädagogin, "das Vorbild der Familie wirkt stärker als alles, was wir machen können". Sowohl in ihrer Schule in der Nähe von Stuttgart als auch in ihrer Rolle als Mutter von drei Kindern hat die Pädagogin reichlich Erfahrung mit dem Thema gesammelt. "Das Problem sind die Erwachsenen, nicht die Kinder", sagt Annette Flaig. Sie hat beobachtet, dass den Versicherungen der Werbung in Ernährungsfragen noch immer blind geglaubt wird, hohe Zucker und Fettanteile werden geleugnet. Es seien teilweise dieselben Mütter und Eltern, die sich im Fitnessstudio und mit Diäten zur Traumfigur quälen wollen, die eigene Ernährung nicht im Griff haben - und sich dann später wundern, wenn ihre Kinder Essstörungen entwickeln.

Naturgemäß machen sich Kinder über die ganz normale Doppelzüngigkeit der Erwachsenen und über ihre zukünftige gesellschaftliche Rolle als Kranke oder Gesunde noch keine Gedanken - glücklicherweise, muss man hinzu fügen. Bedenklicher ist schon, dass auch Politiker, Sozialversicherer und Lobbyisten bislang nicht wissen, wohin die Reise gehen soll. Umfassende und verlässliche Analysen, Fakten und Daten fehlten bislang, die Gesundheit der heranwachsenden Generationen war nur im Zusammenhang mit sozial abweichendem oder Suchtverhalten ein Thema.

Das könnte sich im Sommer 2006 ändern, wenn der im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO erstellte "Kinder- und Jugendgesundheitssurvey" für Deutschland veröffentlicht werden wird. Im vergangenen Jahr haben die Untersuchungen an und mit 23.000 Kindern und Jugendlichen (und ihren Eltern) begonnen. Die Studie soll erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik epidemologisch verlässliche Basisdaten über die Gesundheit der nachwachsenden Generation bereitstellen. Körper, Seele, Sozialkontakte und Familie, das Lebensgefühl - alles findet Beachtung; sogar das Wohnumfeld mancher Probanden wird auf schädliche Substanzen hin untersucht. Erstaunlich angesichts der aufkommenden Datenflut ist nur eines: Während kaum eine Jugendstudie oder Marktanalyse heute ohne die Frage auskommt, für wie sicher die Jugendlichen ihre Rente halten, sparen die Gesundheitsforscher die prekäre Frage nach den Erwartungen an die eigene gesundheitliche und gesundheitspolitische Zukunft aus.

Erste Teilergebnisse liegen bereits vor, und zwar über die gesundheitliche Situation von Schülern in Berlin. Sie sind alles andere als beruhigend: bereits elf Prozent der Zehn- bis 17-Jährigen sind in ihrer Gesundheit dauerhaft beeinträchtigt, weil sie an chronischen Krankheiten oder einer Behinderung leiden. Bei jedem fünften Schüler sind kinder- und jugendpsychiatrisch relevante Auffälligkeiten zu diagnostizieren, ebenso groß ist die Anteil derer, die unter wiederholten psychosomatischen Beschwerden leiden. Interessant ist, dass die subjektive Gesundheitswahrnehmung und die objektiven medizinischen Daten nicht übereinstimmen und dass sich Jugendliche mit zunehmendem Alter weniger gesund fühlen.

"Die mittel- beziehungsweise langfristigen gesundheitlichen Lebensperspektiven der jungen Generation sind unerfreulich", sagt Gunhild Kilian-Kornell, die Sprecherin des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V., die in ihrer Praxis am Starnberger See die gesundheitlichen Folgen der zunehmenden "Luxusverwahrlosung und der Vernachlässigung aus Armut" registriert. "Gelenkerkrankungen, Schlaganfall oder auch Herzinfarkt waren früher was für ältere Leute. Heute trifft es schon die Jungen", sagt die Ärztin. Als ein "kollektives Paradox" bezeichnet sie angesichts der Konsumtrends der Gegenwart die Anti-Aging-Mode: "Alle Entscheidungsträger und Meinungsmacher um die 50, die jetzt gerne "gesund älter werden" wollen, haben noch nicht begriffen, dass das gesunde Älterwerden viel früher ansetzt: nämlich allerspätestens im Kindergarten". Kein Wunder, dass die Medizinerin die Kinder- und Jugendheilkunde gelegentlich auch mal als "präventive Geriatrie" bezeichnet.

Angesichts der bevorstehenden Ergebnisse des Surveys herrsche unter Kinderärzten, so Kilian-Kornell, "eine verhaltene Hoffnung", dass der Bericht statistisch und deskriptiv genug hergeben wird, "um die Meinungslage in der Öffentlichkeit zu verändern und die bisher geleugnete Kausalität von Ernährung, Lebensstil und kindlicher Morbidität zu beenden."

Dann wird man vermutlich auch den Erkenntnissen der Hamburger Medizinerin Dörten Wolff endlich mehr Aufmerksamkeit schenken. Seit vielen Jahren führt die Allgemeinärztin einen Kampf für einen therapeutischen Umgang mit Lebensmitteln, forscht über den Zusammenhang von Essen und Krankheit und fühlt sich bislang "von denen, die eigentlich dazu berufen sind, Erkenntnisse an die Öffentlichkeit zu tragen, ziemlich im Stich gelassen - beispielsweise auch von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung". Auch die popularisierten Erkenntnisse der Genforschung suggerierten den Menschen, sie hätten ihr gesundheitliches Schicksal sowieso nicht in der Hand. "Natürlich werden bestimmte Krankheiten oder Leiden auch genetisch vererbt", sagt Wolff, "aber es sind bei weitem nicht so viele, wie wir manchmal denken. Das meiste futtern und sitzen wir uns an. Und diesen Lebensstil vererben wir unseren Kindern, nicht nur unsere Gene."

Die Medizinerin weiß, wovon sie spricht. Von vielen Patientenfamilien kennt sie inzwischen drei Generationen. Da lassen sich bestimmte Dispositionen (respektloses Wort in Medizinerkreisen: "Dicke Eltern, dickes Kind, dicker Hund") gut beobachten. Essstörungen sind nach Auskunft der Medizinerin längst keine Ausnahme mehr. War Magersucht bis vor einiger Zeit eine Krankheit bei jungen Frauen und Teenagern, "so kommen heute schon Elf- oder Zwölfjährige damit hier an, und zwar sowohl Mädchen als auch Jungen". Viele Kinder lernen nach Wolffs Ansicht "kein normales Essverhalten mehr, die zehn magersten Topmodels der Welt und die diametral entgegengesetzten Versprechungen der Lebensmittelindustrie vom Genuss ohne Ende terrorisieren nicht mehr nur die Mütter, sondern auch die Kinder." Dörten Wolffs Therapieansatz: Aufklärung, Information, Beispiele: "Wenn die Leute erst einmal anfangen, darüber nachzudenken, ob das, was heute als moderne Ernährung zählt, wirklich gesund sein kann, dann habe ich - und mit mir meine Patienten - schon fast gewonnen".

Ulrike Gropp ist freie Journalistin in Leipzig.


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