Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 39 / 20.09.2004
Detlef Hamer

Überleben in einem öden Alltag

Kritische Notate eines NVA-Rekruten

Der in Berlin lebende Autor Johannes Jansen (Jahrgang 1966) ist unter Insidern als Verfasser eigenwilliger, sehr verinnerlichter Kurzprosa bekannt und geschätzt. In der renommierten Reihe "edition suhrkamp" sind seit 1992 mehrere Titel von ihm erschienen, so die Aufzeichnungen "Reisswolf" und die Erzählung "Verfeinerung der Einzelheiten". Der Verlag setzt die Folge jetzt mit dem Band "Halbschlaf" fort.

Hier geht es um Texte und bildnerische Arbeiten, die der gelernte Graveur - nicht selten als Entsprechungen zum Geschriebenen - zwischen 1985 und 1987 geschaffen hat. Es sind sorgsam verwahrte tagebuchartige Materialien aus der Rekrutenzeit des "Jot Jot" - wie sich Johannes Jansen selbst bezeichnet - bei der Nationalen Volksarmee der DDR. Dabei handelt es sich um ein Konvolut von zwei faksimilierten Skizzenbüchern, zahlreichen Einzelblättern und um einem aufschlussreichen Textband.

Insgesamt ist es eine bemerkenswerte Publikation, die aus der Distanz der Zeit zu Recht den Rang einer poetischen Dokumentation für sich beanspruchen kann: Immerfort beschäftigt ihn - das ausschließlich auf sich selbst bezogene Individuum - sein Verhältnis zur starren und sich doch hier und da wandelnden Welt, zu einem Umfeld, das früher wie heute eher Frust als Lust verheißt.

Dabei klingt der Titel "Liebling, mach Lack!" - Slogan aus der Soldatensprache, der sich als Aufforderung zu schnellerem Tun versteht - kontrapunktisch fröhlich-flott zu dem, was dem Betrachter und Leser in den Zeichnungen und Aufzeichnungen entgegen quillt. Die Blätter markieren auf sehr drastische Weise das sinnentleerte Soldatendasein und die Sehnsucht nach freier persönlicher Entfaltung. Sie lassen die Eingrenzung und Einengung spüren, den geringen Freiraum, der in der kärglichen Freizeit bleibt und der oft genug mit anderen geteilt werden muss.

Paradoxe Situationen hinsichtlich der unentwegt staatlich postulierten Maxime, die da "Friedensliebe" heißt, werden mit Feder und Pinsel geschildert, gelegentlich absichtsvoll plakativ, manchmal in Comic-Manier und oft mit dem Mittel der Collage - in die bisweilen auch Fotos, darunter eigene Porträts, einbezogen sind.

Bevorzugte kalligraphische Elemente, Zeilen voller Versalien, ein selbst erfundenes System von Worttrennungen und handschriftliche Passagen sowie gern genutztes Transparentpapier verleihen den Darstellungen eine besondere Note. Von Zimperlichkeit keine Spur, die Drastik wird zum Ventil, Aggression und Frust abzubauen. So illustriert Johannes Jansen den "Aufschrei eines arretierten Strichgenossen nach zehn Monaten Innenleben"; die sexuelle Bedrängnis führt des Öfteren zum Thema des (homosexuellen) "Soldatenficks".

Leisere und dennoch beherzte Töne schlägt der damals 19-jährige Literat in seinen frühen poetischen Versuchen an. Da finden sich Prosazeilen und Verse voller Sensibilität, zudem originelle Wortspiele und entlarvende Stabreime, die in ihrer Summe die widerwärtige, da aufgezwungene Einsamkeit, aber auch Träume und Alpträume reflektieren. Gleichwohl hat der Verfasser seine ganz und gar privaten Notizen niemals als bewussten Akt des Widerstands gegen das DDR-Regime begriffen. In ihnen tritt vielmehr eine pazifistische Grundgesinnung zutage, die sowohl in der Bildkunst als auch in der Literatur auf eine lange Tradition zurückblickt.

Trotzdem vermitteln sie auf höchst verdichtete Weise einen Einblick in den Alltag der ostdeutschen Armee, insbesondere in die Befindlichkeit und Betroffenheit solcher untersten Befehlsempfänger, deren Gefühle und Gedanken sich nicht verbiegen ließen. Auf ganz andere Art als der Berliner Grafiker Manfred Butzmann (Jahrgang 1942), der seine Erlebnisse und Beobachtungen als ungedienter NVA-Reservist bereits in den 70er-Jahren schonungslos in Zeichnungen und Radierungen festhielt (und sogar ausstellen durfte, weil ihre Brisanz "offiziell" nicht erkannt worden ist), leistet Jansen einen ganz eigenen Beitrag zur Bewältigung einer Vergangenheit, die zu verdrängen es keinerlei Anlass gibt.

Es ist eine sehr persönliche Dokumentation, der neben der poetischen eine politische Dimension innewohnt. Bereichert wird die Publikation durch ein vorangestelltes Gespräch mit dem Autor und durch ein analysierendes Nachwort von Roland Berbig.

Detlef Hamer

Johannes Jansen

Liebling, mach Lack! Die Aufzeichnungen des Soldaten Jot Jot. Faksimiles.

Kooksbooks, Idstein 2004; Textbuch (96 Seiten) und zwei unpaginierte Skizzenblöcke im Schuber. 44,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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