Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 40 / 27.09.2004
bes

Geteiltes Echo auf Koalitionsentwurf

Übertragung von Sozialgerichtsverfahren auf Verwaltungsgerichte

Gesundheit und Soziale Sicherung. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung hat die geplante Übertragung der Zuständigkeit für Streitigkeiten über die Angelegenheiten der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende auf die Sozialgerichte am 22. September mit geladenen Experten aus Richterverbänden, Gewerkschaften und Arbeitgebervertretungen erörtert.

Ausgangsbasis für die Beratung war ein Gesetzentwurf der Bundesregierung (15/3169), der außer der erwähnten Zuständigkeitsverlagerung den Ländern die Möglichkeit einräumt, Aufgaben der Sozialgerichtsbarkeit von besonderen Spruchkörpern der Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit wahrnehmen zu lassen. Diese Option sei allerdings nur solange erforderlich, bis durch entsprechende Personalmaßnahmen wie Neueinstellungen oder Versetzungen von Richtern die Aufgaben bei den Sozialgerichten selbst wahrgenommen werden können.

Keine tragfähige Lösung

Gegen diese Möglichkeit sprach sich der Bund Deutscher Richter aus. Dies könnte eine bürgernahe und effektive Behandlung der diesen Spruchkörpern zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten erschweren. Auch der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen lehnte die Koalitionspläne in der vorliegenden Fassung als "nicht sachgerecht oder sinnvoll" ab. Die Absicht, optional Spruchkörper für bestimmte Aufgaben der Sozialgerichtsbarkeit einzurichten, verfehle rechtspolitisch das Ziel, dauerhaft tragfähige Lösungen zu schaffen. Für Volker Ellenberger (Vaihingen/Enz) wirft die Umsetzung der Zuständigkeitsverlagerung vor allem ein praktisches Problem auf. Die Zuständigkeitsverlagerung für sozialhilferechtliche Streitigkeiten werde dazu führen, dass die Sozialgerichte ab 2005 noch mehr Verfahren zu bewältigen haben werden. Die prekäre Finanzverfassung der öffentlichen Haushalte schließe jedoch praktisch aus, dass neue Richterstellen geschaffen werden könnten. Daher werden nach Meinung Ellenbergers die erforderlichen Arbeitskräfte von der Verwaltungs- auf die Sozialgerichtsbarkeit übertragen werden müssen. Problematisch sei in diesem Zusammenhang, dass die auf Lebenszeit ernannten Richter selten zu einem freiwilligen Wechsel bereit seien. Auch der Deutsche Richterbund sieht die Gefahr eines kurzfristigen Bedarfsanstiegs an Personal, der in dem erwarteten Umfang "in der Kürze der Zeit wohl kaum befriedigt werden könnte". Harsche Kritik am Regierungsentwurf übte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Er sei die Fortsetzung einer Sozialgesetzgebung ohne umfassende Konzeption. Die Vorlage sehe lediglich ein Provisorium vor, das nichts an der Überzahl von eigenständigen Fachgerichtsbarkeiten ändere. Die darin vorgesehenen Zuständigkeiten seien für die Bürger kaum zu durchschauen. So werde der Gesetzentwurf den Anforderungen an eine zielführende Strukturreform der Justiz nicht gerecht.

Aus der Sicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) müsse die aus Kapazitätsgründen geplante Übertragung von Sozialgerichtsverfahren auf Verwaltungsgerichte eine Übergangslösung bleiben. "Der vorliegende Gesetzentwurf darf nicht als Einstiegsmodell für eine Abschaffung der Sozialgerichte missbraucht werden", warnt der DGB in einer schriftlichen Stellungnahme. Unterstützung fand die Regierungsvorlage beim Sozialverband Deutschland. Der Entwurf sei zwar nicht die Optimallösung. Denn damit werde eine einheitliche Rechtswegzuweisung aufgehoben. Trotzdem sei es eine praktikable Zwischenlösung, soweit gewährleistet werde, dass es sich dabei wirklich nur um eine Übergangslösung handele. Keineswegs dürfe die Novelle dazu führen, dass die eingenständige Sozialgerichtsbarkeit zusammen mit den Finanz- und Verwaltungsgerichten zu einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit verschmelze. bes


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.