Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 45 / 01.11.2004
Peter L. Münch-Heubner

Die Moscheen werden zum Sozialstaat im Staate

Fundamentalisten als Helfer der Armen mit "grünem Kapital" aus Saudi-Arabien

Sie verstehen sich als "Kämpfer auf dem Weg Allahs", als "Heilige Krieger". Doch ihre Waffen sind keine Gewehre, ihre "Feinde" sind keine "Ungläubigen". Ihr "Heiliger Krieg" gilt der Armut in ihrem Land, und darum verteilen sie, die Sozialarbeiter der Moschee, Zakat-Gelder an die Einwohner der Elendsquartiere von Islamabad. Für die Betroffenen in Pakistan sind diese Hilfsgelder zumeist nur ein Tropfen auf den heißen Stein - im Durchschnitt sind es nicht mehr als umgerechnet elf Euro die Woche - doch der Staat tut so gut wie gar nichts für sie, und so entsteht eine moralische Bindung, die auch politische Folgen hat.

Zakat, das war jene Armensteuer, deren Entrichtung der Prophet Muhammad seinen Weggefährten einst in Medina als religiöse und soziale Pflicht auferlegt hatte. Verteilt werden sollten die eingesammelten Zakat-Gelder nach dem Willen des Propheten und wie im Koran in Sure 9, Vers 60, nachzulesen ist, an die "Armen und Bedürftigen".

Doch die Staaten der islamischen Welt haben es dann über mehr als ein Jahrtausend hinweg mit dieser religiösen Pflicht nicht sehr genau genommen und so die Entrichtung dieser Aufgabe als Spende zur Privatsache eines jeden gläubigen Muslims werden lassen. Das islamische Recht gesteht durchaus auch Privatpersonen und privaten Organisationen das Privileg zu, Zakat einzuziehen und zu verteilen. In das Zentrum nicht-staatlicher sozialer Versorgungssysteme rückten so die Moscheen und mit ihnen die islamischen Stiftungen, die vielerorts zu Staaten im Staate wurden. Und deren Eigenleben ist heute für viele nah- und mittelöstliche Länder zum Problem geworden.

Das gilt auch für Pakistan, das zu den wenigen Ländern der Region zählt, in dem versucht wurde, mit Zakat-Verordnungen die rechtlichen Grundlagen für die entwicklung eines islamischen Wohlfahrtssektors, aber nun unter staatlicher Obhut zu schaffen. Die Idee dazu war nicht neu, sie kam vielmehr von den "Islamischen Ökonomen", die ab dem 20. Jahrhundert die Staatsregierungen in der islamischen Welt wieder an ihre soziale Verantwortung erinnern wollten.

Was bei den Islamischen Ökonomen aber noch als Grundlage für ein gutgemeintes "Islamisches Wohlfahrtsmodell" gedacht war, birgt heute im sozialen Umfeld der Länder im Vorderen Orient für politischen Zündstoff. Als "Herausforderung für das westliche Sozialstaatsmodell" wollten Männer wie Umar Chapra, Fazrum Rahman oder Muhammad Siddiqi ihr eigenes Modell zwar immer schon verstanden wissen. Die Ausrufung eines "Kampfes der Kulturen" allerdings lag ihnen fern. Letzlich wollte man in Gesellschaften, in denen die Fürsorge etwa für alte Menschen traditionell den Familien oblag, um Akzeptanz für staatliche soziale Sicherungssysteme und damit auch für das "westliche" Prinzip einer Pflichtversicherung werben. Was lag für einen gläubigen Muslimwissenschaftler und Ökonomen dabei näher, als auf die religiösen Pflichten von Medina zu verweisen und sie als Grundlage für ein modernisiertes islamisches Sozialstaatsmodell zu verwenden.

Anders als imWesten sollte dieser Sozialstaat auf religiösen Prinzipien beruhen, die die gesamte Gesellschaft "leiten" sollten. Nicht nur Siddiqi sprach von einer "islamischen Wirtschaftsordnung" und damit von einer "glaubensorientierten Gesellschaft", in der die Umverteilung von Reichtum kein Problem darstellen sollte, weil hier "soziale Verantwortung" religiöse Pflicht sei.

Um die Umsetzung dieses Modells in konkrete Sozialpolitik bemühen sich bis heute nicht wenige Aktivisten, doch diese Bemühungen vollziehen sich nach wie vor unterhalb der Ebene des Staates und nicht selten sogar gegen ihn. Und in den Reihen derjenigen, die sich heute für die Errichtung einer "Islamischen Sozialordnung" einsetzen, finden sich auch jene, die man im Westen wegen ihrer rigoristischen Einstellung als Fundamentalisten bezeichnet. Sorge bereitet in diesem Zusammenhang auch, dass diese "Parallelsysteme" wie in Pakistan zu einem großen Teil mit "grünem Kapital" aus Saudi-Arabien finanziert werden. Nicht erst seit den Anschlägen von New York und Washington sind die transnationalen finanziellen Engagements der Saudis ins politische Gerede geraten.

So wird Sozialhilfe für nicht wenige nah- und mittelöstliche Staaten zum Sicherheitsrisiko, doch deren Regierungen tragen ein nicht geringes Maß an Mitschuld an diesem Dilemma. Unfähig oder auch schlichtweg nicht willens, die Lücken in den bestehenden "westlichen" sozialen Sicherungssystemen zu schließen oder selbst religiöse Sozialeinrichtungen zu fördern, haben sie in den letzten Jahrzehnten das Feld der Sozialpolitik weitgehend islamischen Selbsthilfeorganisationen überlassen. Dabei haben sie die Rolle von Zauberlehrlingen übernommen, die nun der Geister nicht mehr Herr werden, die sie selbst gerufen haben.

In Ägypten erstrecken sich die Sozialdienste der Muslimbruderschaft auf eigene Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, auf Beihilfen für Arbeitslose und sogar eine nichtstaatliche Arbeitsvermittlung. Eine nicht unwesentliche Rolle in diesem "Parallelsystem" spielen auch die islamischen Banken, die - mit saudischen Finanzhäusern oft verbandelt - hier die Zakat einziehen. Eher hilflos wirken heute die Versuche der Regierung in Kairo, dieses Kuckucksei, das man sich selbst ins Nest gelegt hat, wieder lsozuwerden.

Doch um die Herausforderung des "sozialen Islam" annehmen zu können, bedürfte es staatlicherseits in erster Linie neuer sozialpolitischer Initiativen. Im Gegensatz zu der im Westen vorherrschenden Meinung müssten die Sozialpolitiker in vielen Ländern des Orients hier nicht vom Nullpunkt aus beginnen. In Ägypten beispielsweise finden sich zwei große Sozialversicherungsorganisationen, unter deren Dach jeweils zwei Vorsorgeschienen für das Alter und die Gesundheit vereinigt sind. Die ägyptischen Sozialversicherungen werden in internationalen Studien wie in denen der ILO als durchaus "funktionsfähig" bezeichnet. Doch funktionieren sie eben nicht für jeden. Die meisten Einwohner des Landes können von den Leistungen dieser Sozialkassen nur träumen, nur 25 Prozent der Erwerbstätigen sind sozialversichert. Die Gründe für dieses Dilemma sind politischer wie ökonomischer Natur.

Das politische Problem des abendländischen Sozialstaatsmodells im Orient ist seit jeher, dass die Einführung von Sicherungssystemen nach westlichen Vorbildern den machthabenden Politikern oft nur der Versorgung der eigenen Klientel dient. Selbst Nasser, der vom Arabischen Sozialismus träumte, wollte mit seinen Sozialreformern bei weitem nicht alle Bürger seines Landes beglücken, sondern sich nur eine ihm ergebene Beamtenschaft als Machtbasis sichern.

In Pakistan nehmen die dortigen "westlichen" Sozialkassen heute jährlich eine Summe an Beiträgen ein, die sich auf ein Neunfaches des Zakat-Steueraufkommens beläuft. Doch 95 Prozent der Ausgaben, die der Staat heute im Bereich "Soziales" tätigt, fließen in die Taschen der Staatsdiener. Zumeist profitieren in den Ländern der islamischen Welt nur diejenigen von staatlichen Leistungen, die sie gar nicht nötig haben. Der Missbrauch von Sozialpolitik als Machtinstrument macht es der islamistischen Propaganda leicht, diese "westlichen" Systeme mit dem Makel der "Priviligiertenversorgung" zu behaften und für eine "gerechtere islamische Sozialordnung" zu werben.

Doch es bleibt fraglich, ob die von den Europäern oft geforderte Demokratisierung der Machtstrukturen allein schon einen Ausweg aus der sozialen Krise im Orient weisen kann. Denn es gibt vor allem im Maghreb durchaus Vorsorgesysteme, die von ihrem Ansatz her universell angelegt waren. Hier, in Nordwestafrika, haben die einstigen französischen Kolonialherren die eigentlich am besten ausgebauten Wohlfahrtsstaaten der gesamten Region zurückgelassen. Und es waren nicht nur Kolonialbeamte, die von ihnen erfasst wurden.

In Marokko gibt es seit 1930 eine Rentenkasse für Beamte, die Caisse Marocaine des Retraités (CMR), neben die 1961 die "Nationalkasse für soziale Sicherheit" (CNSS) gestellt wurde, die alle "Lohnempfänger der Industrie, des Handels" sowie auch die freien Berufe und die Landwirtschaft erfassen sollte. Unter dem Dach der Nationalkasse wurden Renten-, Kranken- und Arbeitsunfallversicherungen vereinigt. Doch der Aufbau einer Bürgerversicherung scheiterte. Von 30 Millionen Marokkanern sind nur 1,3 Millionen als Beitragszahler bei CNSS registriert, bei CMR werden 850.000 Angehörige gezählt.

Ein Blick auf Algerien offenbart das grundsätzliche Dilemma, in das sich jedes Sozialversicherungsmodell in der Region gestellt sieht. In dem krisengeschüttelten Land, in dem der Terror zum traurigen Alltag wurde und viele Beobachter in den sozialen Missständen die Ursache des Bürgerkrieges sehen, wurde auf dem Papier ein nahezu perfektes Wohlfahrtsmodell entworfen. Doch die algerischen Sozialkassen blieben Potemkinsche Dörfer. Die Generäle haben neben der ansonsten harten Hand durchaus auch auf Sozialpolitik als Gegenmittel gegen die islamistische Opposition gesetzt. Doch bei einer Arbeitslosenquote, die offziell bei 34 Prozent liegt, kann keine Sozialversicherung funktionieren. Überall in der Region stellen die Jugendlichen die erdrückende Mehrheit der Erwerbslosen dar. Dieses Problem wird sich überall in der islamischen Welt verschärfen. In Algerien beispielsweise sind 35 Prozent der Einwohner unter 15 Jahre alt.

Die Suche nach einer Antwort auf die eher ideologische Frage "westliches oder islamisches Sozialstaatsmodell" behindert jeden Versuch zur Lösung der sozialen Frage im Orient. Ein Ausbau der sozialen Netze scheint nur im Rahmen eines grundlegenden soziopolitischen und sozioökonomischen Strukturwandels möglich. Ein solcher Wandel könnte jedweder Hassideologie den gesellschaftlichen Nährboden entziehen. Soziale Missstände sind nicht der Grund für die Entstehung funadmentalistischen Gedankenguts, aber für dessen Verbreitung.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.