Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 45 / 01.11.2004
Hartmut Hausmann

Barroso zieht die Notbremse

Vertrauensvotum für neue EU-Kommission verschoben
Die neue EU-Kommission unter Präsident José Manuel Durao Barroso kann ihre Arbeit nicht wie geplant am 1. November aufnehmen. Unmittelbar vor der Abstimmung, mit der das Europäische Parlament dem Kollegium der 24 Kommissare am 27. Oktober in Straßburg das Vertrauen aussprechen sollte, zog Barroso seine Bereitschaft zurück, sich dem Votum zu stellen. Er brauche noch mehr Zeit, erklärte er. Damit zog der Kommissionschef in letzter Minute die Notbremse, um einer sich klar abzeichnenden Abstimmungsniederlage zu entgehen. Der frühere portugiesische Ministerpräsident Barroso war schon im Juli mit einer deutlichen Mehrheit vom Parlament als Kommissionspräsident bestätigt worden.

Schon in den Tagen vor der geplanten Abstimmung war deutlich geworden, dass nur noch die mit 268 Mitgliedern größte christdemokratische EVP-Fraktionen mehrheitlich aber keineswegs geschlossen für die Kommission stimmen würde. Auch hier mochten britische Konservativen, skandinavische und Benelux-Abgeordnete der Kommission in dieser Besetzung nicht zustimmen. Bestand bei dem Portugiesen zunächst noch die Hoffnung, dass die Fraktionen der Sozialisten und Liberalen weitgehend gespalten seien, so nahmen Probeabstimmungen in diesen Gruppen am Vorabend Barroso jede Hoffnung auf einen Erfolg. Letzte Gespräche mit den politischen Gruppen zeigten, dass ein Rückzug oder eine Umbesetzung des umstrittenen italienischen Kandidaten Buttiglionis nichts gebracht hätte, weil dann die EVP auch Änderungen hinsichtlich der von ihnen kritisierten Kommissarsanwärter fordern würden.

In dieser Situation sah er sich nach Beratungen auch mit dem niederländischen Ratsvertreter, Atzo Nicolai, sowie dem luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker als EU-Vorsitzendem ab kommenden Januar vor das Plenum zu treten und zu erklären, das zu erwartende Ergebnis der Abstimmung könne nicht vorteilhaft für das europäische Projekt sein. Anschließend sprachen alle Fraktionsvorsitzenden von einem großen Tag für das Parlament und für die Demokratie in Europa. Zugleich sicherten sie dem Kommissionspräsidenten ihre Unterstützung bei der Suche nach befriedigenden Lösungen zu.

Ausgelöst wurde dieser in der EU bisher einmalige Vorrang durch die Anhörungen der designierten Kommissare vor den Fachausschüssen des Parlaments. Dabei war besonders der für den Justizbereich vorgesehene Italiener Rocco Buttigglione auf heftige Kritik wegen seiner Äußerungen zur Rolle der Frau und zur Homosexulität gestoßen und schließlich mit Mehrheit abgelehnt worden. Umstritten waren aus unterschiedlichen Gründen auch der Ungar Kovasz (Energie), die Dänin Boel (Landwirtschaft), der Grieche Dimas (Umwelt), die Niederländerin Kroes (Wettbewerb) und die Lettin Udre (Steuern) und in Einzelpunkten auch die Luxemburgerin Viviane Reding. Auf diese Bedenken des Parlaments war Barroso nur ungenügend eingegangen, weil er wohl davon ausgegangen war, dass das Parlament kein Misstrauensvotum wagen würde.

Barroso muss nun dem Parlament möglichst schnell ein in seiner Aufgabenverteilung neu zusammengesetztes Team vorstellen. Danach müssen die betroffenen Kandidaten sich mit ihrem künftigen Aufgabenbereich intensiv vertraut machen, bevor erneut die Anhörungen beginnen können. Die in Straßburg wiederholt geäußerte Erwartung, die ausgesetzte Abstimmung könne schon in der nächsten Sitzungswoche Mitte November stattfinden, erscheint eher unrealistisch, wenn das Risiko ausgeschlossen werden soll, dass wieder einige Kommissarsanwärter durchfallen. Auf jeden Fall bleibt die Kommission bis zu einer Entscheidung im Amt.

Übereinstimmend erklärten die Fraktionsvorsitzenden und der Rat die Erwartung, dass Europa gestärkt aus dieser politischen Krise hervorgehen werde, da das Parlament an Selbstbewusstsein gewonnen und durch seine Standhaftigkeit die Vorraussetzung für eine starke und unabhängige Kommission geschaffen habe. Eine Belastung für das Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs zur feierlichen Unterzeichnung der Europäischen Verfassung zwei Tage später in Rom sahen weder Nicolai noch Juncker. Man werde die Lage sicherlich kurz erörtern, sich vielleicht auch über das weitere Vorgehen verständigen, sagte der Luxemburgs Ministerpräsident gegenüber "Das Parlament".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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