Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004
Markus Feldenkirchen

Parteien werden an Seniorenstammtische erinnern

Wie der demografische Wandel die deutsche Politik verändern wird
Schauen wir mal in die Zukunft, auf irgendeinen Herbsttag des Jahres 2050. Die Nachrichtensendungen vermelden die wichtigsten politischen Entscheidungen des Tages aus der deutschen Hauptstadt: Bundeskanzlerin Sieglinde Unruh (Graue Panther) hat Sigmund Brüderle von der Partei rüstiger Reformer (PRR) zum neuen Altersheimminister ernannt. Die Berufung des 72-jährigen Brüderle sei auch als Zeichen der Kabinettsverjüngung zu verstehen, erklärte Unruh, Enkelin von Parteigründerin Trude Unruh. Mit den Stimmen der sozialdemokratischen AG 60 Plus verabschiedete der Bundestag zudem die vierte Rentenerhöhung dieses Jahres. Gegenfinanzieren wolle man die Erhöhung mit der weiteren Schließung von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, erklärte die Kanzlerin.

Es ist nur eine Utopie, ein Blick in eine Zukunft, die es so nicht geben wird - zumindest nicht ganz so. Dennoch ist eines gewiss: Der demographische Wandel, die zunehmende Alterung der Gesellschaft, wird nicht nur graue Spuren auf den Köpfen der Bürger hinterlassen. Auch das politische System wird sich zwangsläufig wandeln, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Die Top-Themen auf der politischen Agenda werden andere sein, die Politiker werden im Schnitt älter sein, und auch das Parteiensystem könnte in den kommenden Jahrzehnten ein anderes werden. Zwar wird Trude Unruhs Seniorenpartei Graue Panther noch lange darauf warten müssen, einmal selbst den Kanzler zu stellen. Doch wenn Politik und Parlament ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, werden wir in Zukunft auch eine andere regierenden Klasse vorfinden.

Die über 60-Jährigen werden im Jahre 2050 ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Im Vergleich zu heute wird ihr Anteil an der Bevölkerung bis dahin um 50 Prozent zunehmen. Die Zahl der über 80-Jährigen wird sich gar verdreifachen, auf mehr als neun Millionen Menschen. Zugleich wird die Zahl der unter 20-Jährigen von heute rund 17 Millionen auf 12 Millionen sinken. Die Folgen für das Machtgefüge im Land liegen angesichts dieser Zahlen auf der Hand: Weil Rentner ihr Recht auf Stimmabgabe viel gewissenhafter wahrnehmen als jüngere Generationen, werden sie dann auch die Mehrheit der Wähler stellen, so dass ihnen keine Regierung gegen ihren Willen Einschnitte zumuten kann.

Schon jetzt leiden vor allem die großen Volksparteien darunter, dass ihre Mitglieder immer älter werden, während der jugendliche Nachwuchs zugleich zur Rarität verkommt - fast so, wie seltene Neuzugänge im Zoo. Längst haben die Parteistrategen das Potential der Rentnergeneration für die eigene Organisation erkannt und gesonderte Arbeitsgruppen oder Untergruppierungen für Senioren geschaffen: als erste Partei gründete die CDU schon 1988 die Seniorenunion. Die SPD konterte sechs Jahre später mit ihrer AG 60 plus.

Doch während beide Organisationen bislang eher als Beschäftigungszirkel für ältere Mitbürger wahrgenommen werden, könnte ihr Stellenwert im Zuge des demographischen Wandels bereits bald wachsen. Schon prognostizieren so genannte Experten eine "Herrschaft der Alten", in der die Senioren aufgrund der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft über die Jungen bestimmen werden. Der passende Fachbegriff ist auch schon gefunden: Gerontokratie.

"Es ist zu erwarten, dass mit zunehmender Alterung der Gesellschaft und verstärktem Rückgang der Geburten die Gruppe derjenigen, die im Interesse ihrer Kinder wählen und dadurch in die Zukunft der Gesellschaft investieren, zunehmend kleiner wird", schreiben die Research-Experten der Deutschen Bank in ihrem jüngsten Demografie-Bericht etwas holprig. Auf Deutsch heißt das: Stellen Rentner erst einmal die mächtigste Gruppe unter den Wählern, werden sie auch die politische Agenda bestimmen.

Denn die Macht wird auch in alternden Gesellschaften vom Volke ausgehen. Und da gerade Volksparteien ihr Politikangebot meistens nach dem Willen einer Mehrheit der Bürger ausrichten, werden sich auch die Parteiprogramme ändern. Dadurch könne das zum heutigen Zeitpunkt noch gering ausgeprägte eigene Interessenbewusstsein der "Alten" in der Zukunft deutlich steigen, prognostiziert die Bundestags-Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" in ihrem Abschlussbericht.

Welche Auswirkungen das für die Reformfähigkeit der Bundesrepublik haben könnte, wird am Beispiel der Rentenreform deutlich. Demnach wäre eine Umstellung des bisherigen Umlageverfahrens auf eine kapitalgedeckte Rentenversicherung nur noch bis 2020 möglich - immer vorausgesetzt, die Menschen wählen in erster Linie nach Eigeninteresse. Ab 2023 wird der Anteil der jungen Bevölkerung, für die sich ein solcher Systemwechsel lohnen würde, in der Minderheit sein.

Es gibt etliche Studien, in denen herausgefunden werden sollte, ob das Alter der Menschen ihr Wahlverhalten bestimmt, ob etwa - wie weithin angenommen - ältere Menschen eher konservativ wählen, getreu der alten Weisheit: "Wer in der Jugend kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer im Alter immer noch Sozialist ist, hat keinen Verstand." Bislang ließ sich diese Behauptung nicht belegen. Die These vom Alterskonservatismus ist nicht haltbar, schreibt beispielsweise der Altersforscher Harald Künemund.

Nachweisbar ist hingegen, dass Menschen in erster Linie nach ihren Interessen und persönlichen Lebensumständen wählen, egal ob sie eher links oder konservativ gesinnt sind. Gerade Senioren achten sehr stark darauf, von welcher Partei sie am großzügigsten bedient werden, wer ihre Interessen also am Besten vertritt. Seinen Wahlsieg 1998 hatte Kanzler Gerhard Schröder nicht zuletzt den älteren Wählern zu verdanken, nachdem er ihnen populistischer, aber nicht ganz ehrlicher Weise versprochen hatte, das Rentenniveau nicht kürzen zu wollen.

Schon machen sich Experten wie der Mannheimer Politologe Peter Graf Kielmansegg Gedanken, wie man die Benachteiligung der schrumpfenden jungen Generation verhindern könnte: etwa mit Verfassungsänderungen, die den Transfer zwischen den Generationen gesetzlich limitiert. Fraglich ist jedoch, ob sich solche Forderungen umsetzen lassen, mit denen das politische System für eine alternde Gesellschaft vorbereitet werden könnte.Umso wichtiger scheint es, dass wichtige Fragen wie die Rentenproblematik gelöst werden, bevor die Nicht-Senioren endgültig zur Minderheit geworden sind. "Wenn die Alten einmal die Mehrheit stellen, dann wird es gefährlich", schwant es dem SPD-Politiker Michael Müller. So scheint der alte Sinnspruch des griechischen Staatsmannes Perikles im Angesicht der demographischen Herausforderung heute richtiger denn je: "Es kommt nicht darauf an, die Zukunft richtig vorherzusagen, sondern auf sie vorbereitet zu sein."

Denn in 50 Jahren werden die großen Parteien kaum jener Hort innovativer Ideen und Reformen sein, die sie schon heute nicht sind. "Sie werden dann immer mehr zum Seniorenstammtisch", fürchtet Sozialdemokrat Müller. Wollen insbesondere die Volksparteien ihren heutigen Status beibehalten, werden sie ihre Programmatik den Bedürfnissen der dann in Deutschland lebenden Mehrheit anpassen müssen. "Die über 65-Jährigen werden in den Wahlkämpfen immer mehr umworben werden", sagt der Politikwissenschaftler Peter Lösche voraus.

Vermutlich wird den Parteifunktionären dieses Umgarnen nicht einmal schwer fallen - weil sie dann selbst zum älteren Eisen gehören. Zwar ist die Lage noch entspannt: Von den 603 Abgeordneten im aktuellen Deutschen Bundestag waren zum Zeitpunkt ihrer Wahl gerade mal 1,6 Prozent älter als 65, gerade mal 0,4 Prozent älter als 70. Doch dies wird sich in den kommenden Jahrzehnten nach Ansicht vieler Experten drastisch ändern.

Da bahnt sich eine Vergreisung an

"Die Politik und die Parteien werden verkalken. Da bahnt sich eine gravierende Vergreisung an", fürchtet Peter Lösche und malt ein graues Bild der politischen Landschaft von übermorgen - mit weitreichenden Konsequenzen für die Innovationsfähigkeit von Parteien und die innerparteiliche Demokratie.

In den Parteien werde es zwangsläufig zu einem "Klüngel der Alten" kommen, der sich gegen die Minderheit der jüngeren Mitglieder abschotten und diese gar nicht mehr auf relevante Positionen vorrücken lassen werde. "Auch innerhalb der Parteien werden wir es mit einem 'Machtkartell von Senioren' zu tun haben", glaubt Lösche.

Wer sich solch düsteren Prophezeiungen nicht ganz anschließen will, muss auf den Pragmatismus der Jugend setzen. Schon heute ist zu beobachten, dass sich die jüngeren Bundestagsabgeordneten in bestimmten, ihre Generation besonders betreffenden Fragen, zu einer Art jugendlicher Allianz zusammenschließen - unabhängig davon, zu welcher Partei sie gehören.

So gaben sie vor einiger Zeit eine gemeinsame Erklärung als Anhang zu einem Reformgesetz zu Protokoll - kein Zufall, dass es in diesem Fall um die Rentenpolitik ging. Zusammen mit dem ein oder anderen jung gebliebenem Politrentner könnten sie in ferner Zukunft vielleicht doch ein kampfkräftiges Gegengewicht zu Lösches "Machtkartell der Senioren" bilden. Jener Konflikt zwischen Jung und Alt, der sich heute bereits unter dem martialischen Schlagwort "Krieg der Generationen" ankündigt, könnte auf der politischen Bühne bald offener ausgetragen werden als bislang.

So halten Politikwissenschaftler die Neugründung einer "Partei der Jugend" in Zukunft für wahrscheinlicher als die Gründung einer weiteren Senioren-Klientelpartei - und sei es nur, um eine Kanzlerin von den Grauen Panthern zu verhindern.

Markus Feldenkirchen ist Redakteur beim "Spiegel" und lebt in Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.