Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 48 / 22.11.2004
Rita Schutt

Statistiken sind nicht das Leben

Es wird in Europa nicht leer werden - Demografiedebatte objektivieren

Immer häufiger wird über die demografische Entwicklung in Deutschland debattiert. Dabei ist die Diskussion bisweilen überzogen, ja polemisch. Fast entsteht der Eindruck, als würde sich unsere Gesellschaft schlagartig, fast hysterisch ihres eigenen Aussterbens bewusst.

Richtig ist, dass soziale Sicherungssysteme an absehbare demografische Entwicklungen angepasst und zukunftsfähig gestaltet werden müssen. Die Belastungen Erwerbstätiger durch Rentenbeiträge müssen in verträglichen Grenzen gehalten werden, damit der Leistungswille nicht durch die Last der Abgaben erdrückt wird. Gleichzeitig müssen die Lohnnebenkosten auf einem Niveau stabilisiert werden, das die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht beeinträchtigt. Richtig ist auch, alle verfügbaren Daten und Projektionen zu nutzen, um sich ein möglichst genaues Bild über epochale Veränderungen zu verschaffen.

Doch genau da liegt ein Problem: Gerade die Bevölkerungsentwicklung innerhalb bestimmter Landesgrenzen entzieht sich einem Blick in die ferne Zukunft. Nach der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird im Jahr 2050 die Hälfte der Bevölkerung 48 Jahre und ein Drittel 60 Jahre oder älter sein.

Wie zuverlässig sind Statistiken? Die Arbeit mit sehr langen Zeitreihen birgt erhebliche Probleme. Künftige Fertilität, Mortalität, Frauenerwerbstätigkeit und Migration können beispielsweise nur unter bestimmten Annahmen grob geschätzt, aber nicht genau prognostiziert werden. Auch das Statistische Bundesamt selbst weist bei seinen Berechnungen ausdrücklich darauf hin, dass Annahmen zu Geburtenhäufigkeit, Entwick-lung der Lebenserwartung und des Wanderungssaldos mit zunehmendem Abstand zum Ausgangszeitpunkt immer unsicherer werden. Solche langfristigen Rechnungen haben somit vor allem eins: Modellcharakter.

Allein die Betrachtung der zurückliegenden 50 Jahre und der in diesem Zeitraum erfolgten technologischen wie auch demografischen Veränderungen belegt dies deutlich: Niemand konnte in den 50er-Jahren den Siegeszug der Pille in den 70er-Jahren voraussagen, das Anwachsen ausländischer Bevölkerungsanteile war ebenfalls nicht so vorhersehbar, wie dann geschehen, und die Deutsche Wiedervereinigung ist das Beispiel schlechthin, das alle statistischen Prognosen von einem Moment auf den anderen revidiert hat. Dies sind nur einige Umbrüche, die bei einer schlichten Fortschreibung nicht berücksichtigt worden wären.

Und die Zukunft? Das Zusammenwachsen der europäischen Staaten führte in den vergangenen Jahren zunehmend zu einer Landesgrenzen übergreifenden Suche nach Lösungen für gemeinsame Probleme. Technologische Neuerungen werden zu weiterem Anstieg der Produktivität beitragen. Man muss daher anzweifeln, dass die auf heutigen Angaben basierenden Projektionen ihrerseits in der Lage sind, ein realistisches Bild der Gesellschaft im Jahre 2050 zu ermöglichen. Ganz zu schweigen von Versuchen über das Jahr 2050 hinauszublicken. In jedem Fall muss man hinterfragen, welche Folgen tatsächlich auf die öffentlichen Haushalte zukommen. Beispielsweise könnte der Etat für Schulen und Hochschulen bei einem Rückgang an Kindern und Jugendlichen sinken, während die Ausgaben für Gesundheit und Pflege vermutlich zunehmen.

Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der tatsächlichen Auswirkungen lassen sich auch an dem so genannten Altersquotienten verdeutlichen. Er zeigt die zu erwartenden Verschiebungen im Altersaufbau. Für das derzeitige, tatsächliche durchschnittliche Rentenzugangsniveau von 60 Jahren lag er in 2001 bei 44, das heißt 100 Menschen im Erwerbsalter (von 20 bis 59 Jahren) standen 44 Personen im Rentenalter (ab 60 Jahren) gegenüber. In einer Variante der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird der Altenquotient bis 2050 bis auf 78 steigen. Würden aber die Menschen nicht mit 60, sondern erst mit 65 Jahren in den Ruhestand wechseln, ergäbe sich ein deutlich niedrigerer Altenquotient von 55.

Löst man sich von einer rein nationalen Betrachtung und betrachtet man zugleich die Ursachen für die gegenwärtige Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, stellt sich das ganze Problem ohnehin in einem ganz anderen Licht dar. Niemand wird bestreiten, dass die Erde insgesamt über eine ausreichend große Bevölkerungszahl verfügt. Zugleich ist die Zeitgeschichte ein Beleg für den zyklischen Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften und Systemen. Ob chinesische Hochkultur oder Römisches Reich, die Weltgeschichte ist geprägt von Geschichten über sich entwickelnde, aufstrebende und siegreiche Systeme, die ab einem gewissen Punkt wieder an Bedeutung verloren. Derartige Entwicklungen reduzieren sich nicht auf einem Zeitpunkt, sie sind ein Prozess, der sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinzieht. Zeit für andere Kulturen, ihrerseits Wissen anzusammeln und nachzurücken.

So wie wir heute nicht exakt sagen können, wie sich die Bevölkerung in Deutschland oder Westeuropa entwickelt, so können wir nicht prognostizieren, wie sich die Bevölkerung weltweit entwickeln oder geographisch verlagern wird. Mit Sicherheit aber wird es in Europa nicht leer werden. Die Zuwanderungsproblematik aller westlichen Industrienationen zeigt, dass es eine starke Bevölkerungsbewegung aus anderen Teilen der Welt in diese Länder gibt. Zuwanderung muss allerdings durch eine Integrationspolitik ergänzt werden, die eine umfassende Vermittlung von Sprache, Kultur und Geschichte des Landes beinhaltet. Mit einer sehr starken Zuwanderung dürfte in jedem Fall eine innere Veränderung der Kultur und des Selbstverständnisses des Ziellandes verbunden sein. Durch geeignete Integrationsmaßnahmen können jedoch eine gewisse Annäherung und ein schonenderer Übergang für eine Nation und ihre Neuankömmlinge erreicht werden.

Die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung ist seriös nicht über einen Zeitraum von bis zu 50 oder mehr Jahren vorauszuschätzen. Maßnahmen wie sie gegenwärtig von der Politik ergriffen werden, wie Reform des sozialen Sicherungssystems und verbesserte Kinderbetreuungsmöglichkeiten leisten bereits einen kleinen Beitrag zur Antwort auf anstehende Fragen. Die Schaffung weiterer geeigneter Rahmenbedingungen mag einen Wandel in der demografischen Entwick-lung unterstützen. Jeder einzelne ist aber auch gefordert, sein Wertesystem zu überprüfen und vielleicht einen Kurswechsel vorzunehmen, damit er in seinem individuellen Leben die Freude über Kinder und die Geborgenheit einer Familie kennen- und schätzen lernt.

Die Autorin ist Diplom-Volkswirtin, und in der Grundsatzabteilung des Bundesministeriums der Finanzen mit Fragen der Wirtschaftspolitik, Forschung und Politikberatung befasst. Der Artikel gibt die Meinung der Autorin wieder.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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