Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 49 / 29.11.2004
Joachim V. Hildebrandt

Das Bukowina-Zentrum Czernowitz sucht nach der ukrainischen Identität

Erforschung des Nachlasses der postsowjetischen Nomenklatura

Das 1992 im alten Gebäude der Residenz der bukowinischen Bischöfe eröffnete Bukowina-Zentrum geht vor allem der Frage nach: Wie schwer wiegt der Nachlass der postsowjetischen Nomenklatura in der Ukraine?

Von 1940 bis 1991 war diese Region der Ukraine Teil der Sowjetunion. Professor Oleg Pantschuk, der Leiter des Bukowina-Zentrums, meint, dass die Ukraine in dieser Zeit praktisch eine Kolonie der Sowjetunion gewesen war und deren Auswirkungen jetzt unübersehbar zu spüren sind.

Die Geschichte der Bukowina war zur Zeit der k.u.k.-Monarchie von 1775 bis 1918 von einem friedlichen Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Gruppen von Juden, Ukrainern, Rumänen, Polen und Armeniern geprägt. In der Stadt Czernowitz gab es zu dieser Zeit eine musische Atmosphäre, eine geistige Vitalität sowie eine kosmopolitische Offenheit für alles Neue und die Bereitschaft, dieses in sich aufzunehmen. Diese Tradition wurde von den Sowjets verleugnet. Sie sprachen nur von der rumänischen Herrschaft von 1918 bis 1940 und dann von der deutschen Besatzung. Das seien koloniale Mächte gewesen, und erst mit der Angliederung an die Sowjetunion hätte sich die Bukowina frei entwickeln und den Sozialismus aufbauen können. Was aus dieser Behauptung geworden ist, wissen wir heute.

In den Jahren 1991/92, nach dem Zerfall der Sowjetunion, bestand die Aufgabe, die Geschichte, Literatur, Kunst und die sozialen Strukturen der Gesellschaft in vergangenen Perioden näher zu erforschen. Deshalb wurde das Bukowina-Zentrum gegründet. Zunächst wurden Studien, die in Sowjetzeiten erarbeitet worden waren, aber nicht veröffentlicht werden durften, aus den Archiven geholt und später dann die Wissenschaftler, die bis 1991 quasi für die Schublade geschrieben haben, aufgefordert, ihre Arbeiten der Öffentlichkeit vorzustellen. Dabei entstand eine Kooperation mit dem Bukowina-Zentrum Augsburg und dem österreichischen Osteuropa-Institut, seit 1992 sind mehrere gemeinsame Konferenzen abgehalten worden.

Im Laufe der Jahre richtete sich die Arbeit des Zentrums hauptsächlich auf die Erforschung des Nachlasses der Sowjetzeit, die heute noch in der Mentalität der Menschen deutlich zu spüren ist. Diese Mentalität sei gekennzeichnet durch Servilität gegenüber der einstigen und jetzigen Macht sowie paternalistische Erwartungen an die Mächtigen, sagt Professor Pantschuk.

Zu Sowjetzeiten war vieles ohne große finanzielle Anstrengungen zu bekommen. Die Mieten waren niedrig, Erholungsheime konnte man besuchen. Das hat sich tief in das Bewusstsein der Menschen eingeprägt. Deshalb war es für die neuen Machthaber der unabhängigen Ukraine leicht, pro-westliche Politiker zu diffamieren und den späteren Ministerpräsidenten, Viktor Juschtschenko, als bürgerlichen Nationalisten hinzustellen, der "halbfaschistische Bundesgenossen" hätte.

Eine wichtige Aufgabe des Bukowina-Zentrums ist es, auf die Erziehung der Jugend Einfluss zu nehmen. Die Mitarbeiter schicken Jugendliche zu Treffen nach Deutschland und Österreich, damit sie Kontakt mit jungen Leuten dort aufnehmen und sich mit deutscher Sprache, Kultur, Kunst und Geschichte vertraut machen können. Sie sollen neue Erkenntnisse, neue Eindrücke in die Ukraine mitbringen und davon erzählen, was sie im Westen gesehen und erfahren haben. Außerdem sind Bücher über die Geschichte des ehemaligen Kornlandes, der Bukowina, herausgegeben worden, von denen viele im deutschsprachigen Raum bereits vergriffen sind, erzählt Professor Pantschuk. Dieses Jahr erscheint eine große Monographie über die Geschichte von Czernowitz auf deutsch wie auf ukrainisch. Übersetzungen von Erzählungen und Romanen deutschsprachiger Autoren werden ebenfalls vom Zentrum gefördert.

Die zwei größten ethnischen Gruppen in der Bukowina sind die Ukrainer mit etwa 72 Prozent, dann die Rumänen beziehungsweise Moldawier, die mit etwa 18 Prozent in der Bevölkerung vertreten sind. In der Umgangssprache sieht es jedoch ganz anders aus. Auf der Straße und im Amt sprechen etwa 50 Prozent der Menschen Russisch. Das kommt daher, dass die nach 1960 Geborenen vor allem russische Schulen besuchten. Als die Sowjets 1944 zurück in die Bukowina kamen, gab es etwa 20 Schulen in Czernowitz, in denen zu etwa einem Viertel Russisch gesprochen wurde. Im Jahre 1989 gab es rund 35 Schulen in der Stadt, in denen ungefähr zu zwei Dritteln Russisch gesprochen wurde. Was von den amtlichen Stellen unterstützt wurde, da mit der ukrainischen Sprache keine höhere Position in der Gesellschaft zu erreichen war.

In den Kindergärten sah es nicht besser aus. 1989 gab es von 40 nur zwei ukrainische. Damals gingen die beiden Töchter von Oleg Pantschuk in einen der beiden ukrainischen Kindergärten und überzeugten ihren Vater, dass dieser praktisch auch ein russischer wäre, denn es wurde überwiegend Russisch gesprochen. Inzwischen hat sich vieles geändert. Momentan gibt es keine genaue Statistik, aber zu Hause reden nach Meinungsumfragen bis zu 70 Prozent Ukrainisch.

Die Ukraine hat sich vor 13 Jahren unabhängig erklärt. Aber die Macht blieb bei der postsowjetischen Nomenklatura. Denn die Politiker, die zu Sowjetzeiten von den Entscheidungen aus Moskau abhängig waren, blieben in ihren Ämtern und leiteten die ersten Privatisierungen ein. Es sind deshalb keine schnellen Änderungen in der Ukraine zu erwarten, so wie sich die wichtigsten Politiker des Landes, zu denen der noch amtierende Präsident Kutschma gehört, in den vergangenen 13 Jahren verhalten und ein Oligarchensystem mit der quasi-monarchischen Spitze des Präsidenten im Land geschaffen haben.

Nun sind Präsidentenwahlen in der Ukraine abgehalten worden. Das Bündnis der Oppositionskräfte "Unsere Ukraine", für das der liberale Viktor Juschtschenko kandidierte, ist Opfer eines offensichtlichen Wahlbetruges geworden. Es besteht dennoch ein Hoffnungsschimmer für das Land, das kulturell zu Europa und nicht zu Russland gehört. Doch damit der Weg nach Europa für die Ukraine offen wird, muss sie der Westen als ein Land auf dem schwierigen Weg zur Demokratie wahrnehmen und an den europäischen Binnenmarkt heranführen.

Selbst wenn die Oppositionskräfte unter Viktor Juschtschenko am Ende siegen sollten, könnte es ein verlustreicher Kampf werden, da die alten Kräfte den Verlust ihres Reichtums nicht hinnehmen dürften. Das prophezeien die Autoren der "Lvivska Hazeta" und der Zeitschrift "Postup", auf die Ende August ein Brandanschlag verübt wurde.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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