Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 49 / 29.11.2004
Barbara Minderjahn

Mit der Nadel kam das HIV

Hohe AIDS-Rate in Estland

Estland hat eine der höchsten AIDS-Raten Europas. Experten schätzen die Zahl der HIV-Erkrankungen in dem kleinen, rund 1,4 Millionen Einwohner zählenden Land auf fast 15.000, mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Dennoch glauben viele Esten nicht daran sich anzustecken. Ein 20-jähriger Mann erklärt: "Ich benutze keine Kondome. Ich habe ja keinen häufig wechselnden Geschlechtsverkehr mit Drogenabhängigen und ich spende auch kein Blut mehr, damit ich mich nicht zufällig anstecke. Ich bin also sicher." Als der Virus vor einigen Jahren begann, sich in dem ehemaligen Ostblockland auszubreiten, griff die Epidemie tatsächlich vor allem bei Drogenabhängigen um sich. Besonders betroffen war die russischsprachige Minderheit. An den Rand der Gesellschaft gedrängt, ohne Arbeit und ohne die Chance, an den politischen Veränderungen des Landes teilzuhaben, versuchten viele, ihre Hoffnungslosigkeit im Drogenrausch zu verdrängen. Mit der Nadel kam auch HIV. Viele Esten sind bis heute der Meinung, AIDS betreffe nur Fixer. Mittlerweile hat der Erreger die Risikogruppe verlassen. Über die Hälfte der neu Erkrankten dieses Jahres waren nicht drogenabhängig.

Trotzdem ist "safer sex" für die meisten weiterhin ein Tabuthema. Nur die estnische Schwulenszene geht mit dem Problem bewusster um. So wird man im Chill-out, einer kleinen Schwulenbar am Rande der Talliner Altstadt, nicht wie in anderen Kneipen belächelt, wenn man nach Kondomen fragt. "Ja, ich mache safer sex", gesteht Rein, einer der Gäste. "Ich versuche, mein Sexleben sicher zu gestalten. Die Heteros in Estland denken nicht an die Verantwortung, die sie tragen. Sie lassen sich noch nicht einmal testen."

Zu Zeiten der Sowjetunion war schwul sein verboten. Die Betroffenen blieben unter sich. Um dennoch nicht ganz von der Umwelt abgeschnitten zu leben, las man, ebenfalls im Verborgenen, ausländische Schwulenmagazine. Dort erfuhr man von HIV und AIDS, lange bevor der Erreger den Osten Europas erreichte. "Ich erinnere mich noch ganz genau an die ganzen Geschichten", erzählt Rein. "Und dann die Krankheit und der Tod von Freddie Mercury. Das hat uns alle sehr bewegt und es hat uns auch die Augen geöffnet, wie ernst das Thema ist."

Schwule werden im estnischen Alltag auch heute noch diskriminiert. Um sich zu schützen, bilden sie nach wie vor eine eingeschworene Gemeinschaft, was für die AIDS-Aufklärung ein unschätzbarer Vorteil ist. Mitarbeiter des Schwulen- und Lesbeninfocenters legen in Kneipen, Saunaclubs und anderen Treffpunkten der Homoszene darüber hinaus regelmäßig Kondome und Informationsbroschüren aus. "Die Kondompack-lungen kosten nichts. Unsere Gäste nehmen eigentlich immer welche mit", bestätigt der Barkeeper des Chill-out den Erfolg der Aktion.

Auch das estnische Sozialministerium betreibt seit einigen Jahren AIDS-Aufklärungskampagnen. Doch sie sind nicht so lebensnah wie die selbstorganisierten Aktionen in der Homoszene und sprechen die gefährdeten Gruppen nicht genügend an. Eine Mitarbeiterin des Ministeriums erklärt den Misserfolg vor allem mit finanziellen Problemen: "Damit solche Kampagnen erfolgreich sind, darf man sie nicht nur einmal durchführen. Man muss die Botschaft nach einer Weile wiederholen. Unser Problem ist: Wir haben immer nur genug Geld für einen Durchgang. Wir suchen nach Wegen, langfristige Finanzierungen zu bekommen."

Doch die Erkenntnis, wie wichtig die AIDS-Bekämpfung ist, setzt sich in dem von neoliberalen jungen Menschen besetzten Finanzministerium erst langsam durch. "Viele hier denken: lass die Drogenabhängigen doch an AIDS sterben. Sie sterben ja sowieso irgendwann, ob an Drogen oder an AIDS. Aber sie begreifen nicht, dass wir, wenn wir nichts gegen AIDS tun, in fünf bis zehn Jahren eine AIDS-Epidemie haben", klagt der Biotechnologieprofessor Mart Ustav.

Die Zahl der gemeldeten HIV-Fälle ist in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Zwischen 1999 und 2002 hat die Ausbreitung der Krankheit, mit Wachstumsraten von rund 400 Prozent, sogar schon einmal epidemische Ausmaße erreicht. Derzeit bleibt die Zahl der Neuerkrankungen konstant. Einen Grund für Entwarnung sieht Mart Ustav darin dennoch nicht: "Es sind vor allem die jungen Leute, die AIDS bekommen. Aber die Kinder, ihre Fähigkeiten und ihr Wissen sind der größte Schatz, den eine Gesellschaft hat. Können Sie sich vorstellen, wie unsere Gesellschaft in zehn Jahren aussieht, wenn ein großer Teil unserer jungen Bevölkerung wegstirbt?"

Doch wie lässt sich das nötige Problembewusstsein bei der Bevölkerung und den Politikern schaffen? Auf sich allein gestellt können die Mitarbeiter des Sozialministeriums nicht viel ausrichten. "Ich bin schon manchmal frustriert", erzählt eine Mitarbeiterin, "weil ich denke, dass das Problem von vielen ernster genommen werden müsste". Auch auf lokaler Ebene, also dort, wo die Verantwortlichen mit den Sorgen der Bevölkerung konfrontiert sind, versuchen die Bürokraten das Aidsproblem zu verdrängen. Selbst die einfachsten Vorsorgemaßnahmen wie Nadeltauschaktionen oder Methadonprogramme für Drogenabhängige lehnen sie ab. Die Mitarbeitern erzählt: "Wir wollen neue Behandlungszentren für die Drogenabhängigen einrichten. Im Osten Estlands, im Kreis Virumaa, in der Nähe der russischen Grenze, wo die meisten Betroffenen leben, klappt das ganz gut. Aber wir verhandeln im Moment auch mit Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands. Wir haben es bislang nicht geschafft, die Verantwortlichen von der Notwendigkeit eines solchen Zentrums zu überzeugen. Die Behörden haben Angst, dass plötzlich alle Drogenabhängigen nach Tartu kommen, wenn es dort ein solches Zentrum gibt."

Schützenhilfe erhoffen sich die Gesundheitsexperten vom Ausland.Wenn die Politiker sähen, dass das Thema dort ernst genommen werde, würde sich vielleicht ihre Einstellung dazu verändern. Es sei dem Druck der EU zu verdanken, dass in Estland etwas für die AIDS-Aufklärung getan werde, bestätigt Mart Ustav, wenn auch zu wenig.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.