Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005
Karl-Otto Sattler

Der heimliche Rausch am Arbeitsplatz

Repression ist nur ein Notbehelf: Wie gehen Betriebe mit suchtkranken Mitarbeitern um?

Man will das vielleicht nicht glauben, aber es sind schon Beschäftigte morgens betrunken in den Betrieb getorkelt." Heike Cloß wurde im Lauf der Jahre mit manch seltsamen Phänomenen konfrontiert. In ihrem Büro bei der saarländischen Industrie- und Handelskammer (IHK) sitzen immer mal wieder Unternehmer oder Personalchefs und suchen Rat - dann nämlich, wenn Arbeitnehmer als Folge von Alkoholismus oder eines anderen Suchtproblems Schwierigkeiten in der Firma verursachen. "In kleineren Betrieben", erzählt Cloß, "haben Mitarbeiter schon komplette Produktionslinien an die Wand gefahren." Nun, das sind Extrembeispiele.

Bei der Saar-IHK fungiert Cloß neben ihren anderen Funktionen als Anlaufstelle für Sucht-Konflikte in Unternehmen, keineswegs alle Kammern auf Länder- und Bundesebene haben solche Beauftragte. Sie weiß, dass es mit der rechtzeitigen "Entdeckung" solcher Phänomene so eine Sache ist: "Fehler machen wir alle" - und Fehler beim Arbeiten können wahrlich nicht einfach auf Sucht zurückgeführt werden. Das muss dann schon über einen längeren Zeitraum in gehäuftem Maße passieren. "Echte" Alkoholiker entwickeln zudem manchmal eine gewisse Tarntechnik: Sie tanken ihr überdosiertes Promille-Quantum nicht im Beisein von Kollegen, in solchen Situationen greifen sie zu Cola oder Mineralwasser.

Der gemeinhin übliche Blick auf Alkoholismus beim Thema Sucht im Betrieb ist im Übrigen verengt. Es gibt auch Beschäftigte mit einer Medikamentenabhängigkeit: "Das zu bemerken, ist besonders schwer", erläutert Cloß, "das wird eher heimlich praktiziert". Auch Drogen, etwa Heroin oder leichtes Hasch, können selbstverständlich im Spiel sein. Neu ist die Internet-Sucht: Die "Web-Junkies" surfen im Netz von Homepage zu Homepage - und klicken sich rasch auf ein Fenster mit betriebsinternen Bilanzen, wenn sich der Chef dem Schreibtisch nähert.

"Arbeitgeber sollten sensibler sein, um Suchtprobleme frühzeitig zu erkennen und nicht erst zu reagieren, wenn es zu spät ist." Für Cloß ist dies eine zentrale Maxime. So einleuchtend dies ist: Man kann dabei auch auf glattem Parkett landen. Heutzutage wird jungen Leuten schnell unterstellt, zu Hasch, Ecstasy oder anderen Drogen zu greifen. Herbert Ziegler und Gabriele Brandl schreiben in ihrem Buch "Suchtprävention als Führungsaufgabe", dass "Auffälligkeiten" wie etwa Desinteresse, Schläfrigkeit, Unausgeglichenheit oder Nervosität ein Indiz für Drogeneinnahme sein können. Die Autoren sagen, dass ein solcher Zusammenhang nicht bestehen muss. Gleichwohl aber "sollte der Verdacht in Richtung Drogenkonsum gehen". Begründung: Unabhängig davon, ob sich ein solcher Verdacht erhärte oder nicht, sei es wichtig, Grenzen zu setzen. Orientiert sich ein Unternehmen allerdings an einer solchen Strategie, dann droht zwangsläufig die Gefahr eines Klimas genereller Überwachung und sozialer Kontrolle.

Heike Cloß wird jährlich mit rund 30 Fällen von Sucht am Arbeitsplatz konfrontiert, meist in mittleren und kleinen Firmen. Nun erfährt die IHK-Mitarbeiterin nicht von allen Konflikten dieser Art. Gleichwohl erscheint diese Ziffer bei 345.000 Arbeitnehmern im Saarland nicht sonderlich hoch - selbst wenn man bedenkt, dass große Unternehmen wie etwa Saarstahl oder Ford mit jeweils mehreren tausend Beschäftigten eigene Suchtbeauftragte haben und dass manche Betriebe von sich aus mit externen Beratungseinrichtungen kooperieren.

Bei Saarstahl mit 5.000 Mitarbeitern hat sich die Sozialberatung in 22 Jahren mit 200 Abhängigen befasst: Pro Jahr sind das im Schnitt nur neun Vorkommnisse. Bei einer Tagung der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) berichtete eine Arbeitsmedizinerin des BASF-Konzerns in Ludwigshafen, dass dort in sieben Jahren 50 Fälle speziell von Drogenmissbrauch und -abhängigkeit registriert wurden - angesichts der Größe des Betriebs keine dramatisch anmutende Ziffer.

Andererseits schätzt die Suchtkontaktstelle der Universität Freiburg, dass in der Bundesrepublik jeder siebente Arbeitnehmer von "Suchtgefährdung und Abhängigkeit" betroffen ist. Die saarländische Arbeitskammer verweist in einer Analyse der Sucht- bekämpfung bei Saarstahl auf DHS-Zahlen, wonach in der deutschen Schwerindustrie zehn Prozent der Mitarbeiter abhängig sein sollen.

Die weit auseinander klaffenden Statistiken über das Ausmaß des Phänomens Sucht im Betrieb haben viel damit zu tun, dass bei Alkohol oder Drogen differenzierte Kategorien wie "riskantes Verhalten", "Missbrauch" und "Abhängigkeit" bei den Berechnungen herangezogen werden. Die IG Metall konstatiert in ihrem "Suchtbuch für die Arbeitswelt", dass es auch keine hieb- und stichfesten Daten darüber gibt, in welchem Umfang Suchtstoffe verantwortlich sind für Arbeitsunfälle. Laut DHS spielt bei zehn bis 30 Prozent der Betriebsunfälle Alkohol eine Rolle: Diese ungewöhnlich hohe Spanne sei darauf zurückzuführen, erklärt die Gewerkschaft, "dass eigentlich niemand so ganz genau weiß, bei welchem Unfall Alkohol der Auslöser war".

Für eine Firma entscheidend ist die Frage, ob ein Mitarbeiter im Unternehmen wegen eines Suchtproblems die geforderte Leistung nicht mehr erbringt oder gar eine konkrete Gefährdung für andere und sich selbst darstellt. Im letzteren Fall sind Arbeitgeber zum Einschreiten gezwungen. Einerseits verpflichten die Unfallverhütungsvorschriften Arbeitnehmer, sich durch Alkoholgenuss nicht in einen Zustand zu versetzen, "durch den sie sich selbst oder andere gefährden können". Sofern dies doch so sein sollte, darf ein Betrieb Beschäftigte nicht arbeiten lassen, muss sie also von solchen Tätigkeiten fernhalten.

Diese Regelungen erfassen nur eine ganz konkrete Situation. Gelöst ist damit ein Suchtphänomen noch nicht. Für Heike Cloß gibt es nur ein wirksames Konzept: "Man muss betroffene Mitarbeiter überzeugen, sich ihrem Problem zu stellen, sich an eine betriebseigene oder externe Beratungsstelle zu wenden und nötigenfalls eine Therapie zu machen." Juristisch mit Abmahnungen und Kündigungen gegen auffällige Beschäftigte vorzugehen, "ist immer nur eine Notkrücke".

Das beim Thema Sucht im Detail höchst komplizierte Arbeitsrecht steckt in der Tat voller Fallstricke, für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer. So darf niemand wegen einer Alkoholabhängigkeit gekündigt werden, weil dies von den Gerichten nicht als Fehlverhalten, sondern als Krankheit eingestuft wird. Es wirkt paradox: Wenn jemand nicht süchtig ist, sich aber wegen übermäßigen Alkoholgenusses oder wegen Drogenkonsums nennenswerter Verfehlungen schuldig macht, kann er leichter auf die Straße gesetzt werden. Kein Beschäftigter darf zu einem Alkohol- oder Drogentest gezwungen werden, das stellt einen unzulässigen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte dar. Freilich genügt zum Beweis für eine Gefährdungssituation etwa unter Alkoholeinfluss der persönliche Augenschein von Zeugen. Wird ein Arbeitnehmer nach einer Therapie wieder rückfällig, wird eine Kündigung eher möglich - das gilt dann als Fehlverhalten.

Große Firmen haben nicht selten eine mit dem Betriebsrat abgeschlossene Vereinbarung über den Umgang mit Sucht, was dann Bestandteil der Arbeitsverträge ist. Bei Saarstahl beispielsweise ist festgelegt, dass ein Mitarbeiter seine Stelle verliert, wenn er innerhalb eines Jahres nach einer Therapie rückfällig wird - zu einem späteren Zeitpunkt ist eine zweite Therapie drin, sofern das Suchtproblem erneut auftauchen sollte.

Die IG Metall pocht darauf, dass beim heiklen Thema Sucht Betriebsräte einbezogen werden und Arbeitgeber keine einsam beschlossenen Maßnahmen gegen Beschäftigte ergreifen. Die Gewerkschaft verweist auf den Fall eines Textilunternehmens mit rund 1.000 Mitarbeitern, das ein generelles Alkoholverbot verhängt hatte. Das war natürlich nicht durchzusetzen, weshalb die Firmenleitung als Arbeiter getarnte Detektive in die Belegschaft einschleuste. Deren geheime Ausforschung führte zu sechs Entlassungen und 30 Abmahnungen, gegen die der Betriebsrat vor Gericht klagte. Mit Erfolg.

Von einer generellen Verbannung alkoholischer Getränke aus Betrieben hält Heike Cloß nichts: "Alkohol ist per se keine Droge, die meisten Menschen haben damit kein Problem." Eventuelle Untersagungen müssten an spezielle Erfordernisse angepasst sein. Geboten könne dies in manchen Produktionsbereichen sein, so die IHK-Verantwortliche, etwa bei Kranführern oder bei der Bedienung bestimmter Maschinen.

Die IG-Metall betont, dass auch die Arbeitsbedingungen Suchtprobleme mit verursachen können: Verschärfter Leistungsdruck, Stress, das Gefühl der Überforderung, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.

Ob Wein, Bier oder Schnaps, ob Medikamente, Drogen, Spielzwang, Internet: Sucht im Unternehmen ist schon lange kein Tabu mehr. Indes nennt Heike Cloß ein Phänomen, das weithin umschifft wird: die Arbeitssucht. Jene, die das Büro nicht verlassen können und Akten noch mit nach Hause schleppen, haben mit Alkohol oder Drogen in der Regel nichts am Hut. Die IHK-Beauftragte über die Ursache für das Tabu Arbeitssucht: "Das ist gesellschaftlich erwünscht."

Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.


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