Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005
Christiane Schulzki-Haddouti

Das Netz als Falle: Internetsucht

Medienhype oder echtes Problem?

Als der New Yorker Psychiater Ivan Goldberg 1995 in einem Beitrag für die "New York Times" erstmals die Internet-Sucht thematisierte, war dies nur als Witz gemeint. Doch dieser Witz wurde zum Selbstläufer, als sich die Zeitung bald darauf eingehend mit den Gefahren der Internet-Sucht beschäftigte. Während zunehmend Wissenschaftler das Phänomen ernsthaft diskutierten, beklagten Technikenthusiasten jedoch eine "Pathologisierung" des Internet als neues Kommunikationmedium.

Ist Internetsucht also nur ein Medienhype oder doch ein ernsthafter Befund? Die Psychologin Christiane Eichenberg vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln beschäftigt sich mit der Frage seit Jahren. Heute sagt sie: "Die Internetsucht war ein Modethema, das inzwischen wieder entdramatisiert ist. Sie ist klinisch relevant, aber die kolportierten Suchtzahlen von bis zu 80 Prozent Süchtigen waren stark übertrieben."

Für großes Aufsehen hatte 1999 vor allem die amerikanische Psychologin Kimberly S. Young, Professorin an der Universität Pittsburgh, mit dem Buch "Caught in the Net - Suchtgefahr Internet" gesorgt. Sie sprach sogar von einer "Jahrtausendsucht". Allerdings reduzierte sie die von ihr anfangs behaupteten 20 Prozent Abhängigen kürzlich bereits auf sechs Prozent.

Wie viele Betroffene gibt es wirklich? Repräsentative Studien zur Internetsucht gibt es bis heute nicht. Die breit angelegten Studie der Berliner Humboldt-Universität von 2002 gilt daher als die maßgebliche Untersuchung für Deutschland. Die Forscher André Hahn und Matthias Jerusalem befragten rund 9.000 Online-Nutzer. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass rund drei Prozent von ihnen internetsüchtig sind, sieben Prozent gefährdet. Der Rest ist unauffällig. Die Teilnehmer der Studie wurden nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, sondern entschieden selbst, an der Studie teilzunehmen. Deshalb nimmt Christiane Eichenberg an, dass die Suchtzahl in der Realität noch geringer ist. Repräsentative Studien zur Glückspielsucht - mit der die Internetsucht häufig verglichen wird - stellten fest, dass nur 0,1 Prozent der Bevölkerung süchtig ist.

Hahn und Jerusalem verstehen Internetsucht als eine moderne Verhaltensstörung sowie als ein exzessives und auf ein Medium ausgerichtetes Extremverhalten. Zu den Indikatoren für Internetsucht gehört der Kontrollverlust. Die Nutzer können sich nicht mehr vom Internet lösen. Sie fühlen sich durch das Medium in Besitz genommen, beschäftigen sich gedanklich ständig mit dem Netz - nehmen es aber gleichzeitig auch als allgemeinen Problemlöser wahr. Negative Konsequenzen wie Geldnot oder soziale Isolierung beachten sie nicht. Sie suchen und erleben emotionale Grunderfahrungen und damit eine Selbstwertsteigerung.

Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und in kritischen Lebensphasen gelten als besonders suchtgefährdet. Betroffen sind vor allem Jugendlliche: So sinkt die Rate der Internetabhängigen stetig von 10,3 Prozent in der Gruppe der unter 15-Jährigen auf 2,2 Prozent in der Gruppe der 21- bis 29-Jährigen. Bis zum Alter von 18 Jahren sind vor allem Jungen abhängig, ab dem Alter von 19 Jahren sind vermehrt Frauen betroffen.

Noch immer wird kontrovers diskutiert, wie die Sucht entsteht. "Während die Erklärungsmodelle nur vereinzelt dem Internet und seinen besonderen Merkmalen wie Anonymität und 24-Stunden-Zugang die Schuld an der Sucht geben, setzen sich die meisten mit begünstigenden Persönlichkeitsfaktoren und vorher bestehenden Problemen auseinander", erläutert Christiane Eichenberg. "Durch die vielfachen Möglichkeiten der neuen Medien entsteht eine große Faszinationskraft, eine Internet-Abhängigkeit oder -Sucht kann jedoch nur vor dem Hintergrund problematischer Verhältnisse entstehen", ergänzt Matthias Petzold vom Erziehungswissenschaftlichen Institut der Universität Düsseldorf.

Zu den suchtfördernden Faktoren zählen laut der Berliner Studie Arbeitslosigkeit und Teilzeitbeschäftigungen. Internetnutzer mit höherem Schulabschluss zeigen sich weniger gefährdet, da sie offenbar über bessere Strategien verfügen, um mit der potenziellen Sucht beziehungsweise belastenden Lebensereignissen umzugehen. Auch stabile Partnerschaften halten die jungen Menschen davon ab, sich im Übermaß dem Internet zu widmen. Dass vor allem Jugendliche internetsüchtig werden, erklären die Berliner Forscher mit den kognitive Erwartungshaltungen, die sich gerade im Jugendalter entwickeln. Außerdem dient das Internet auch als Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt.

Matthias Petzold stellte in eigenen Studien fest, "dass Jugendliche im Internet ein Instrument entdeckt haben, das sie bei ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung unterstützt". Jugendliche nutzen daher die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, wie auch in vielen Computerspielen, mehr unbewusst als bewusst, um neue Rollen gefahrlos zu testen und bisher unbekannte Aspekte der eigenen Identität zu entdecken. Der Düsseldorfer Forscher betont, dass das Internet Jugendlichen in der für sie schwierigen Entwicklungsphase mit ihren körperlichen, psychischen und sozialen Unsicherheiten mögliche Orientierungen bietet. Petzold: "Gerade die Anonymität und die häufig auf Text eingeschränkte Kommunikation eröffneten Jugendlichen einen geschützten Raum zum Experimentieren." Manche Jugendliche würden über das Internet häufig mehr Anerkennung durch Gleichaltrige erfahren als durch direkte Interaktion. Problematisch werde dies dann, wenn die im Internet erprobten Rollen aufgrund ungünstiger Sozialisationsbedingungen im Alltag nur schlecht umgesetzt werden können. Für Petzold wäre es daher "wünschenswert, wenn künftige Studien zur Internetabhängigkeit von Jugendlichen stärker die vielfachen Sozialisationsbedingungen unterschiedlicher Gruppen im Jugendalter berücksichtigen".

Da es sich hier nicht um eine substanzbezogene Abhängigkeit handelt, weigern sich bis heute Krankenkassen und staatliche Organisation in Deutschland, Betroffene als pathologisch Kranke anzuerkennen. Organisierte Hilfsangebote sind daher selten. Beispielsweise betreibt die Psychiatrische Universitätsklinik München eine Ambulanz für Abhängige. Hilfe können sie auch in Selbsthilfegruppen erfahren. Inzwischen gibt es auch klinische Therapien. Deren Behandlungsmethoden setzen nicht auf kompletten Entzug, sondern versuchen die Internetnutzung auf ein normales Maß zu reduzieren. Tipps und Verhaltensregeln appellieren in der Regel an die Selbstdisziplin. So sollen sich die Süchtigen hinsichtlich Zeitaufwand und Kosten feste Grenzen setzen. Unterstützend hierfür gibt es Programme, die die Nutzung zeitlich begrenzen.

Zwar ist die Internetsucht als Thema der Cyberpsychologie nach wie vor auf Fachtagungen und Kongressen vertreten, doch wurde sie zwischenzeitlich durch neue Modethemen wie den Suizidforen oder Cybersex abgelöst.

Die Autorin ist freie Fachautorin und Hochschuldozentin in Bonn.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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