Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 07 / 14.02.2005
Martin Teschke

"Wir machen uns doch selber Konkurrenz"

Ein-Euro-Jobs in den sozialen Diensten

Drehtag im Berliner Osten: Die 25 Schüler der Klasse 9.2 des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums Pankow sind ausgelassen. Zu Recht. Statt Vokabeln zu pauken, spielen sie heute in einem Kurzfilm mit. Am Projekttag ihrer Schule lernen sie neue Berufsfelder kennen. Angeleitet werden sie von sechs Männern und Frauen, die in der Welt der Medien erste Erfahrungen gesammelt haben. Was die Schüler nicht wissen: Ihre Betreuer, von der Kamerafrau bis zum Regisseur, sind so genannte Ein-Euro-Jobber.

Eine von ihnen, die Schauspielerin Nanna M., zeigt den Schülern, wie sie sich vor der Kamera verhalten sollen. Mit ihren 31 Jahren zählt Nanna bereits zu den Langzeitarbeitslosen, zu jenen Menschen, die seit Beginn des Jahres Arbeitslosengeld (ALG) II beantragen müssen und seit Oktober vergangenen Jahres mit Hilfe der Ein-Euro-Jobs bis zu 240 Euro im Monat dazuverdienen können. Nanna macht das freiwillig, lernt etwas Neues, kann natürlich das Geld ganz gut gebrauchen und findet es spannend zu beobachten, wie sich die Schüler entwickeln. "Aber eine Perspektive für mich sehe ich hier nicht."

Das sollte sie aber. Für Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement bieten "die Zusatzjobs Langzeitarbeitslosen die Möglichkeit, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen". Dem Bund ist diese Maßnahme immerhin 6,35 Milliarden Euro wert. Im Zuge der Hartz-IV-Reform hofft Clement auf 600.000 solcher - wie sie offiziell heißen - "Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung" (MAE). Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg geht allerdings nur von 300.000 Jobs aus, die in diesem Jahr entstehen könnten.

Unabhängig davon, wie viele es letzten Endes werden, unterliegen Ein-Euro-Jobs mehr oder minder klaren Regeln. Sie werden ausschließlich ALG-II-Empfängern angeboten; seit Januar können Arbeitslose unter Androhung einer empfindlichen Kürzung ihres Arbeitslosengeldes auch verpflichtet werden, solch eine Arbeit zu übernehmen. Ein-Euro-Jobs dürfen nicht länger als 30 Stunden pro Woche und höchstens sechs bis neun Monate in Anspruch nehmen; die Arbeitslosen erhalten ein bis zwei Euro pro Stunde. Die Anbieter der Stelle bekommen bis zu 500 Euro monatlich, wovon sie auch die MAE zahlen. Und: Ein-Euro-Jobs müssen im öffentlichen Interesse, gemeinnützig und zusätzlich sein, sie dürfen also keine Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt verdrängen.

Genau hier fangen die Probleme an. Wer überprüft eigentlich, ob die Zusatzjobs nicht doch reguläre Arbeit ersetzen? Raimund Rügenberg von der Berliner Regionaldirektion für Arbeit versichert, dass jeder Antrag von den Arbeitsgemeinschaften (ARGEs) aus Arbeitsagenturen und Kommunen geprüft wird, gesteht aber auch ein, dass der tatsächliche Einsatz der Arbeitslosen vor Ort nicht flächendeckend überwacht werden kann: "Wir müssen uns da auf die Richtigkeit der Angaben verlassen."

Die 41-jährige spanische Künstlerin Chus L., wie Nanna M. eine Ein-Euro-Jobberin im Medienprojekt für die Pankower Schüler, will sich auf nichts verlassen. "Wir machen uns doch selber Konkurrenz", meint sie. "Ich qualifiziere mich jetzt zwar für eine neue Aufgabe, aber wenn die neun Monate vorbei sind, wird ein anderer Ein-Euro-Jobber meine Arbeit weitermachen. Warum sollte denn die Schule auch eine reguläre Stelle schaffen und dafür viel mehr Geld ausgeben?" Würde ihre Arbeit von Profis erledigt, kostete das nach Schätzung der Schauspielerin Nanna 150 bis 200 Euro pro Stunde.

Unterstützung erhalten Nanna und Chus von Expertenseite. Matthias Knuth, wissenschaftlicher Geschäftsführer im Institut Arbeit und Technik Gelsenkirchen und Fachmann für Beschäftigungspolitik, hält die Ein-Euro-Jobs für nichts anderes als "eine Wiederauflage der gescheiterten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) aus den 90er-Jahren - nur mit anderen Entlohnungsmechanismen". Knuth: "Es ist doch verrückt. Das Ganze soll der Integration dienen. Aber wie soll denn Integration ohne reguläre Jobs funktionieren?" Vergleichbar mit den Minijobs im Einzelhandel schaffe man Positionen, die über einen längeren Prozess unverzichtbar würden und die Entstehung regulärer Stellen verhinderten. Er kann sich gut vorstellen, dass "gerade im sozialen Bereich aus Finanzknappheit Stellen gestrichen werden, um sie dann nach einer Schamfrist wieder mit Ein-Euro-Jobbern zu besetzen".

Ohnehin gelten die sozialen Dienste als geradezu prädestiniert für Ein-Euro-Jobber. Im sozialen Bereich wird mit einem Potenzial von 100.000 Jobs gerechnet. Allein die Wohlfahrtsverbände wollen bundesweit 30.000 Zusatzjobs anbieten - mit der Ausweitung des Freizeitangebots in Altenheimen, mit der Hilfe bei Behördengängen für Behinderte, mit der Förderung des Kulturverständnisses von Migranten, mit mobiler Ernährungsberatung für Familien, mit Unterstützung der Suppenküchen für Obdachlose und, und, und. Die Einsatzmöglichkeiten der Ein-Euro-Jobber setzen offenbar viel kreatives Potenzial frei.

Zum Beispiel bei Ruth Anhäusser. Die Geschäftsführerin der Pfefferwerk Stadtkultur GmbH in Berlin, Mitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, sah sich Mitte September vergangenen Jahres plötzlich damit konfrontiert, innerhalb einer Woche ein Konzept für 50 Ein-Euro-Jobs vorzulegen. Herausgekommen ist dabei unter anderem das Medienprojekt für die Pankower Gymnasiasten. Anhäusser will, dass die Ein-Euro-Jobs in ihrem Unternehmen mehr sind als reine "Arbeitsgelegenheiten", wie es im Amtsdeutsch heißt. "Wir wollen eine dauerhafte Beschäftigung schaffen." Aber wie? Die Geschäftsführerin stellt ausschließlich Leute ein, die ins Team passen. Leute also, die freiwillig herkommen und die hoch motiviert sind. Während des neunmonatigen Ein-Euro-Jobs werden die Arbeitslosen weiterqualifiziert, im Team verankert und persönlich betreut. "Wir versuchen herauszubekommen, welche anderen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt noch bestehen und vermitteln dann weiter." Außerdem erhalten die Teilnehmer ein Zeugnis; und das Team fragt ein halbes Jahr nach der Maßnahme nach, was aus den Arbeitslosen geworden ist. Nicht jeder erhält die Chance, bei Pfefferwerk einen Ein-Euro-Job zu bekommen. Aber wer es schafft - davon geht Anhäusser aus -, hat später bessere Chancen.

Also lieber Klasse statt Masse beim Einsatz von Langzeitarbeitslosen? Zugespitzt formuliert lautet so auch die Empfehlung von Hermann Scherl, Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Für den hessischen Landtag hat er ein Memorandum "für einen überlegten Ausbau von ,Zusatzjobs'" verfasst. Er verurteilt Ein-Euro-Jobs nicht in Bausch und Bogen, spricht aber die "Gefahr politischer Kurzsichtigkeit" an. Seine Argumentation: Die Politik könnte sich allzu schnell damit zufrieden geben, mit den bis zu 600.000 Ein-Euro-Jobs die Arbeitslosenstatistik zu schönen. Ein-Euro-Jobs tauchen nicht in der Statistik auf. Und 2006 sind Bundestagswahlen. Wer sich aber auf die Schaffung von Stellen im so genannten dritten Arbeitsmarkt konzentriert, verliert den ersten Arbeitsmarkt aus dem Blick. Dabei sind es doch gerade die festen Stellen, in die die Langzeitarbeitslosen mit Hilfe der Ein-Euro-Jobs zurückfinden sollen ...

Sendepause. Für die Schüler der Klasse 9.2 des Carl-von-Ossietzky-Gymnasiums Pankow ist der Drehtag vorbei. Sie wissen immer noch nicht, dass sie von Ein-Euro-Jobbern unterrichtet worden sind. Nanna M., Chus L. und die anderen werden es ihnen auch nicht sagen. Es ist den Arbeitslosen unangenehm zu erzählen, dass sie für einen Euro oder 1,50 Euro die Stunde arbeiten. "Man hält uns doch für bekloppt", glaubt Nanna. Das macht sie wütend. Das - und die fehlende Aussicht auf "richtige Arbeit".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.