Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
Beate Bahnert

Aus für ein sächsisches Universalgenie ?

Die Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte in Großbothen soll schließen

Die Besucher, die sich auf einen Besuch der Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte Großbothen gefreut hatten, stehen seit einem Monat vor verschlossenen Türen. Das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst hat mit Jahresbeginn 2005 jede finanzielle Unterstützung für die Einrichtung eingestellt. Die Gesellschaft und mit ihr die Gedenkstätte musste sämtliche Verträge kündigen. Auch eine ordentliche Übergabe des Inventars ist nicht möglich.

Die Ostwaldgedenkstätte ist mitnichten irgendein Museum. Der Naturforscher Wilhelm Ostwald (1853 - 1932), Mitbegründer der physikalischen Chemie, Nobelpreisträger für Chemie des Jahres 1909, hat neben Arbeiten zur physikalischen Chemie zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten der Philosophie (Naturphilosophie), Kreativitätsforschung, Wissenschaftsorganisation und Farbenlehre vorgelegt. Sie sind zum Teil von erstaunlicher Aktualität. Es ist der umfangreichste Wissenschaftlernachlass des 20. Jahrhunderts in Deutschland.

Der Universalgelehrte und Maler hatte für seine Arbeit den Landsitz "Energie" in Großbothen bei Leipzig erworben. Er gehört einer aktuellen Einstufung zufolge zu den elf bedeutendsten wissenschaftshistorischen Stätten der Welt. Der Landsitz umfasst sieben Hektar Park und Wiesen und fünf Gebäude. In der Bibliothek sind 22.000 Bände, etwa 10.000 Sonderdrucke sowie aus eigener Feder 45 Lehrbücher, Monographien und Aufsatzsammlungen in den meisten Kultursprachen untergebracht. Hinzu kommen, mehr als 1.500 Referate und 2.000 Buchbesprechungen, über 60.000 Positionen Briefwechsel mit 5.500 Partnern, mehr als 4.000 Gemälde und Farbstudien, viele selbstgebaute wissenschaftliche Geräte und andere Unikate, der Nobelpreis mit Medaille und Urkunde sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen und Würdigungen.

Seinen Landsitz "Energie" hatte Ostwald zu einem autarken Anwesen ausgebaut, in dem seine große Familie optimal wirtschaften konnte, weil die nötigen Energien in Form von Gas, Wasser und Strom selbst gewonnen wurden. Der Landsitz mit dem programmatischen Namen steht für den ganzheitlich gedachten Lebensentwurf eines schöpferischen Geistes.

Um diesen Wert zu erhalten, zerteilten und verkauften Ostwalds Erben den Nachlass nicht, sondern schenkten ihn 1953 geschlossen dem Staat. Damit war die Akademie der Wissenschaften der DDR in die Pflicht genommen, eine öffentlich zugängliche Gedenkstätte einzurichten sowie den Nachlass zu pflegen und herauszugeben. Fortan gab es wechselvolle Nutzungen einzelner Bereiche. 1978 wurde von der Akademie in den Arbeitsräumen eine Gedenkstätte eingerichtet, im selben Jahr der gesamte Landsitz unter Denkmalschutz gestellt.

Mit der Wiedervereinigung und der Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR war der Nachlass zunächst herrenlos. Seitdem kümmert sich die Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft zu Großbothen mit internationaler Beteiligung um die Funktionsfähigkeit des Landsitzes, sanierte die Gebäude und schuf gute Bedingungen zu kreativer Arbeit in einer Tagungsstätte. 1994 war der Landsitz einschließlich des beweglichen Nachlasses vermögensrechtlich dem Eigentum des Freistaates Sachsen zugeordnet worden.

Das Land sah bisher keine Veranlassung, die Gedenkstätte in den Landeshaushalt einzustellen, und es hat jetzt auch sämtliche Projektförderungen herausgestrichen. Das Sächsische Ministeriums für Wissenschaft und Kunst schlug neuerdings den universalen wie genialen Chemiker dem Bereich "Kunst" zu, obwohl sich niemand der möglicherweise Zuständigen je ein Bild vor Ort gemacht hat. So wurde der erste Nobelpreisträger Sachsens abgeschafft.

Inzwischen hagelt es Proteste aus aller Welt. Im Petitionsausschuss des Landtages bekamen die Abgeordneten aus dem Muldentalkreis die Angelegenheit auf den Tisch. Landkreis und Kommune haben begriffen, was die Staatsregierung noch lernen muss: Geschenkt ist geschenkt, und Eigentum verpflichtet. Vielleicht ist das Erbe eines der größten Sachsen noch nicht verloren.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.