Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 / 11.04.2005
Detlev Lücke

Frieden heißt, in Damaskus einzukaufen

Erinnerungen an eine Reise ins gelobte Land

Gerade hat das israelische Parlament, die Knesseth, beschlossen, keine Volksabstimmung über den geplanten Abzug israelischer Truppen aus dem Gaza-Streifen zuzulassen. Wer einmal in Tel Aviv und Jerusalem gewesen ist, verfolgt die Berichte mit Neugier, Anteilnahme, aber auch mit Skepsis. Seit Jahrzehnten organisiert die Bundeszentrale für politische Bildung Reisen für deutsche Studenten, Journalisten, Künstler, Lehrer und viele andere Berufsgruppen nach Israel. Die Teilnehmer kehren klüger zurück, als sie hingefahren sind. Ein konkreter Beitrag zu den deutsch-israelischen Beziehungen, ein Beitrag zur Normalität eines noch immer aus historischen Imponderabilien unnormalen Verhältnisses. Ich bin bisher dreimal in Israel gewesen, davon 1994 und 1996 zweimal mit Bundeszentrale. 1994 hat sich mir besonders eingeprägt, weil es beim Betrachten der Fremde Freundschaften mit den Kollegen aus der Nähe gab, mit Astrid vom Deutschlandradio, Annette vom ORB, Marion vom Spiegel, Thomas vom Akademie-Verlag, Gisela vom Südwestrundfunk und vielen anderen. Wir kamen in ein Israel, das nach dem Oslo-Abkommen in einer Aufbruchstimmung lebte, in der vieles möglich schien. Aus meinem damaligen Reisetagebuch sollen einige Erinnerungen dafür stehen.

Auf der Mole von Akko, der uralten Kreuzfahrerstadt, steht ein Mann. Er hält eine fast zehn Meter lange Angel, die er von den hohen Mauer aus immer wieder geduldig in die Brecher des Mittelmeeres wirft. Fangen tut er nichts. Eine friedliche Stimmung. Hinter dem Angler erheben sich zwei Kuppeln eines arabischen Hauses, die eine wird von einem Halbmond bekränzt, die andere von einer Fernsehantenne. In Akko, nahe bei Haifa, weißt du in den Altstadtstraßen nicht, ob dir Araber oder Juden entgegenkommen. Die jahrhundertealten Mauern sublimieren die Unterschiede. Wer arm ist, sieht gleich aus. Könnte dieses verträumte Akko Anfang sein von etwas, das Frieden und Koexistenz bedeutet? In Akko wird seit Jahrtausenden Handel getrieben, ich erinnere mich an ein Buch aus Kindheitszeiten "Das Schiff aus Phönizien", die Geschichte eines Jungen, der das Alphabet lernt, Aleph, Bet, Gimel, woraus später das griechische Alpha, Beta, Gamma wird. Wiegen der Menschheitskultur, in Israel stehen viele. Der Sultan Saladin kämpfte in Akko gegen die Kreuzritter, die das Heilige Grab in Jerusalem retten wollten. Was glaubten sie dort zu finden? Lessing hat uns mit der Ringparabel ein Modell geliefert für das Zusammenleben von drei Religionen. Ein schöner Traum. In Akko darf man ihn träumen. Während der Sommermonate 1994 hat dort eine Theatergruppe gespielt. Sie versuchte, das Trauma von Auschwitz spielerisch zu verarbeiten. Akteure wie Zuschauer wurden Mitwirkende im schlimmen Spiel, die Rollen von Tätern und Opfern wurden vertauscht. Eine äußerst riskante Therapie. Shmuel Huppert, Literaturkritiker und Schriftsteller in einem, der als Jugendlicher das KZ Bergen-Belsen überlebte, wollte uns damals den Konflikt zwischen Juden und Arabern über deren unterschiedliches Wertesystem erklären. "Für die Juden sind Recht und Unrecht die wichtigsten Begriffe, für die Araber Stolz und Schande." Die Zeit scheint ihm leider Recht gegeben zu haben.

Auf den Golanhöhen liegt der Kibbuz Merom. Er wurde 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg gegründet, als Israel Syrien dieses strategisch wichtige Gebiet wegnahm. Von den kahlen, schwarzen Bergen hatte syrische Artillerie die Dörfer in der Ebene bis zum See Genezareth bestrichen. 450 Menschen leben und arbeiten in Merom. Sie ernähren sich von Apfelanbau, Viehzucht, Mangoplantagen und einer Elektromotorenfabrik. Drora Schenk war damals 44 Jahre alt und Kibbuzvorsitzende. Gemeinsam mit Tatjana Frankenthal, die ebenfalls in der Leitung der Gemeinde mitarbeitete, erzählte sie uns die Lage an der ruhigsten Front ihres Heimatlandes. Drora Schenk hatte einen 19tägigen Hungerstreik hinter sich, mit dem sie demonstrieren wollte, dass sie niemand vom Golan wegbekommt. "Meine Eltern sind aus Breslau vertrieben worden. Uns wird hier niemand vertreiben. Wenn wir hier nicht kämpfen, fällt Jerusalem." Am Golan bebt es unterirdisch. Die Formel Land für Frieden verunsicherte damals und verunsichert wohl auch heute die Kibbuzbewohner. "Golan ist ein Spekulationsobjekt, aber wir haben nicht so viel Masse, um an der Bank Weltpolitik zu spekulieren", sagte Tatjana Frankenthal, deren Eltern ebenfalls aus Deutschland stammten und die bis Ende der 80-er Jahre in Argentinien lebten. Wir stiegen hinter dem Kibbuz die steilen Höhen hinauf. In einer alten Panzerstellung, umgeben von Stacheldrahtgestrüpp, ließen wir die Blicke schweifen. Der fast 3.000 Meter hohe Berg Hermon lag mit seinem ewigen Eis nicht weit. Damaskus war 40 Kilometer entfernt, erreichbar für die israelische Fernartillerie. Im Tal unterhalb des Golans waren UN-Posten stationiert, davor die ausgestorbene syrische Stadt Kuneitra. Ihre Vorstellung sei es, in Damaskus einkaufen zu gehen, sagte Tatjana Frankenthal überraschend. Ein Wunsch, der in seinem Pragmatismus weltenfern ist. 1981 hatte ich die Golan-Höhen von Damaskus aus gesehen. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, in 13 Jahren dort zu stehen und in die andere Richtunzu schauen... "Alles ist möglich", sagte ich Tatjana.

An der Universität Haifa hat Professor Eugen Wiener, Lehrstuhlinhaber für Soziologie, Koexistenzprojekte mit jüdischen und arabischen Studenten ins Leben gerufen. Über 50 Prozent der Studenten in Haifa sind Araber. Auch Nidal Rafa, die Geschichte des Nahen Ostens studiert und in Haifa zu Hause ist, wo ihrer Meinung nach Koexistenz am besten funktioniert. Wahrscheinlich liegt es daran, dass in der Hafenstadt genügend Arbeitsplätze vorhanden sind. "Sie leben in ihrer Realität, wir in unserer", sagt die schöne schwarzhaarige Nidal und meint, dass man "face to face" miteinander reden soll. Nidal gehört zu den israelischen Staatsbürgern arabischer Nationalität. "Es gibt keine Alternative zur Koexistenz", sagt Professor Wiener. "Ich kann die Hörsäle füllen mit Arabern wie Nidal, aber auch mit Fundamentalisten."

In unser Jerusalemer Hotel kommt der weise, greise Religionswissenschaftler und Schriftsteller Schalom Ben-Chorin. Wir dürfen uns in der kleinen Synagoge des Hauses mit ihm treffen, ein außerordentliches Entgegenkommen unserer auch sonst so entgegenkommenden Gastgeber. Ben-Chorin hat eine Karaffe Wasser und einen guten Kognak vor sich stehen, von beidem nimmt er bedächtig. Er spricht über den jahrtausendealten christlich-jüdischen Dialog, über die Streitgespräche und Übereinstimmungen zwischen Jesus und den Pharisäern, die ihn an Streitgespräche erinnern zwischen Stalin und Trotzki. An Disputationen, wie sie den Juden aufgezwungen wurden von den Christen zwecks Umstimmung. "Mission ist Überredung, Dialog Unterredung", sagt Ben-Chorin. Er bringt zusammen in ein Bild den Rauch von den "Wohnungen des Todes" (Nelly Sachs) und von den ausgebombten deutschen Städten. Er darf dieses Bild wählen. Schalom Ben-Chorin sieht das christlich-jüdische Gespräch auf gutem Weg, er würdigt Karl Barth, der dieses älteste Schisma der Religion überwinden half. Einen jüdisch-moslemischen Dialog kann er nicht erkennen. Es herrsche Monotheismus auf beiden Seiten, das Gespräch sei blockiert. "Mit Fundamentalisten kann man keinen Dialog führen", meint er resigniert und setzt sich am Ende unseres Besuches entschieden für die Trennung zwischen Religion und Staat in seinem Heimatland ein. "Ohne Religionsfriede kein Weltfriede", lautet des Credo von Schalom Ben-Chorin.

Wie soll das gehen in einem Staat, dessen tägliche Gesetze sich aus der Bibel herleiten? In der Jerusalemer Altstadt leben, auf ein paar Quadratkilometern zusammengedrängt, jene drei Religionen, deren Auseinandersetzungen über den ganzen Erdball gehen. Sie sind vereint im Handel auf dem jüdischen, christlichen und arabischen Basar. Den Touristen treffen die gleichen Sätze: "Kommen Sie, gucken kost nix", "Heute Sommerschlussverkauf." Mittags läuten die Glocken der armenischen Kirche, der Muezzin ruft seine Leute zum Gebet, und vor der Klagemauer beweinen orthodoxe Juden die Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahre 70 vor Christus durch die Römer.

In Yad Vashem, der Mahnstätte für den Holocaust an sechs Millionen europäischer Juden, dürfen wir über unseren, den deutschen Beitrag zur Vertreibung und Vernichtung unschuldiger Menschen nachdenken. Wir treten in einen schmalen Gang rechts und links aufgetürmter Sandsteine. Sie sind gelb wie die Wüstenfestung Massada, wo vor 2000 Jahren die von den Römern belagerten jüdischen Verteidiger kollektiven Selbstmord begingen. In der Gedenkstätte hat jede untergegangene jüdische Gemeinde Europas ihren Namen erhalten. Hinter jedem Ort stehen ungenannte Menschen, die Adolf Hitler nicht kannten, und er sie nicht. Sie kamen durch seine Millionen Handlanger ums Leben. In Yad Vashem schlucken Deutsche die Asche der Erinnerung. Gerade zeigt man eine Sonderausstellung über das Ghetto Lodz. Der deutsche Stadtkommandant hieß Übelhör, auf dem Stadtplan von Litzmannstadt 1942 gibt es auch eine Maler-Klecksel-Straße. Biederkeit, die das Sterben Unschuldiger mitermöglicht hat. "In der Kunst kann man alles überwinden, selbst das Lager", sagte der Hebraist Gershon Shaked. "Wir haben einen Unsicherheitskomplex, obwohl wir es einen Sicherheitskomplex nennen", meint er und wünscht sich, dass Politiker Pferdehändler wären und keine Ideologen. "Das Verhältnis zwischen Deutschen und Israelis ist keine äußere, sondern eine innere Angelegenheit."


Detlev Lücke ist Leitender Redakteur bei der Wochenzeitung "Das Parlament".


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