Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 25.04.2005
Peter Weber

Die Agonie eines Autokraten

Regionalwahlen und Regierungskrise in Italien
"Ich fürchte, so leicht werdet ihr mich nicht loswerden!", verabschiedete sich Silvio Berlusconi von der Reporterschar. Ob es sich um eine Drohung oder ein Versprechen handelte, war nicht klar. Berlusconis Koalitionspartner Marco Follini von der UDC war mit derartigen Sprüchen nicht zufrieden zu stellen und zog am folgenden Tag seine Minister aus dem Kabinett zurück. Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi unterbrach sofort seinen Staatsbesuch in Bulgarien und kehrte noch am selben Abend zurück, um die Rücktrittschreiben in Empfang zu nehmen und seine verfassungsmäßige Rolle als Mittler in der Krise auszufüllen.

Allein Berlusconi ließ ihn drei Tage warten, bevor er am Montag endlich den vorgeschriebenen Gang zum Quirinalspalast antrat, wo er freilich sofort klar stellte, dass ein Rücktritt für ihn nicht in Frage komme, weil er seiner parlamentarischen Mehrheit sicher sei. Staatspräsident Ciampi wies ihn daraufhin an, sich "unverzüglich im Parlament zu präsentieren".

Durch den Überraschungscoup des Premiers erneut düpiert, unterzeichneten am folgenden Tag auch die Minister der Nationalen Allianz ihre Rücktrittsgesuche, die von Parteichef Gianfranco Fini freilich noch bis nach der Parlamentsdebatte zurückgehalten wurden. Während zu gleicher Stunde im Vatikan mit der raschen Wahl von Papst Benedikt XVI. ein Beispiel bemerkenswerter Einigkeit, Verantwortung und Effizienz gegeben wurde, fragte Oppositionsführer Romano Prodi nach dem Stand der Dinge in Italien: "Gestern ist der Ministerpräsident zum Quirinal hinaufgestiegen, um den Rücktritt einzureichen, aber dann hat er es nicht getan. Heute zieht die Nationale Allianz ihre Minister zurück, aber dann doch nicht." "Dieses Ballett muss aufhören!", mahnte der ehemalige EU-Kommissionspräsident und forderte im Namen aller Oppositionsparteien sofortige Neuwahlen. Zwei Tage später war Berlusconi zum Rücktritt gezwungen, in der sicheren Erwartung, vom Staatspräsident erneut mit der Regierungsbildung beauftragt zu werden.

Zu den Wundern der Italienischen Republik gehört es unter anderem, dass in ihr offenbar auch mehrere Verfassungen nebeneinander existieren können. Einerseits ist dies die weiterhin gültige geschriebene Verfassung von 1948 mit ihren ausgefeilten Ritualen einer parlamentarischen Republik, andererseits aber auch seit der Wahlrechtsreform des Jahres 1993 ein Mehrheitswahlsystem, in dem der Regierungschef ähnlich dem deutschen Bundeskanzler zusätzlich mit einer mehr oder weniger direkten Legitimation durch das Volk ausgestattet wird. Offenbar reicht diese Legitimation aber nicht für eine ganze Legislaturperiode, und so hat es bis jetzt noch jedesmal nach einer gewissen Anstandsfrist den Rückfall in die alten Rituale mit ihren schwachen, von den Koalitionsparteien ausgekungelten Regierungen gegeben. Um genau dies in Zukunft zu unterbinden, hatten die Parteien des Freiheitspols vor einem Monat eine weitreichende Verfassungsreform beschlossen, die allerdings in einem zweiten Durchgang noch die letzte parlamentarische Hürde nehmen muss, bevor sie schließlich per Referendum bestätigt und in Kraft gesetzt werden kann. Ganz auf die Figur Berlusconis zugeschnitten, gleicht dieser als "notwendige Dezentralisierung" getarnte Gesetzestext indes mehr einem "Manifest der postdemokratischen Telekratie" als einer modernen Verfassung mit rationalen checks and balances. Von der großen Mehrheit der Verfassungsrechtler wird sie daher ebenso abgelehnt, wie von Oppositionsführer Prodi, der von einer "gefährlichen Diktatur der Mehrheit oder genauer gesagt des Ministerpräsidenten" sprach.

Für Berlusconi aber scheint diese neue Verfassung bereits Realität, oder aber er hat noch einen ganz anderen Text im Kopf, in dem es auf jeden Fall ausgeschlossen sein muss, dass der Premier irgend jemandem Rechnung ablegt. In vier Jahren an der Regierung hat er in den Kammern tatsächlich nicht einmal Rede und Antwort gestanden. In der gegenwärtigen Krise setzt Berlusconi nicht ganz unbegründete Hoffnungen, dies auch in Zukunft so halten zu können, darauf, dass seine Koalitionspartner keinen anderen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten haben und bei Neuwahlen angesichts ihres derzeitigen Popularitätstiefs schwer in die Bredouille kommen dürften.

Vorausgegangen war der Krise in der Tat eine schallende Ohrfeige der Wähler, die bei den Regionalwahlen Anfang April der oppositionellen Ölbaum-Koalition in elf von 13 Regionen zum Sieg verhalfen und dabei auch prominente und keineswegs unpopuläre Ministerpräsidenten der Regierungskoalition in so wichtigen Regionen wie Latium, Piemont, Ligurien und Apulien abgewählt hatten. Von dem aus Brüssel zurückgekehrten Prodi auf Kurs gebracht, setzte sich die Mitte-Links-Koalition fast überall durch und ließ den Rechten auch in ihren Hochburgen kaum eine Chance. In einer symbolisch bedeutsamen Stadt wie Venedig, einst von der sezessionistisch angehauchten Lega Nord zur Hauptstadt "Padaniens" ausgerufen, erreichten die Kandidaten der Rechten für das Bürgermeisteramt nicht einmal die Stichwahl. Am stärksten waren die Verluste aber im Süden, wo Berlusconis Forza Italia, aber auch die aus den Neofaschisten hervorgegangene Nationale Allianz und die christdemokratische UDC fast überall dramatische Verluste hinnehmen mussten. Die Führer von AN und UDC, Gianfranco Fini und Marco Follini, forderten eine radikale Kursumkehr zugunsten der Familien und des verarmten Mezzogiorno sowie ein deutliches "Zeichen der Diskontinuität".

Der Konflikt hatte sich seit geraumer Zeit angekündigt. Über ein halbes Jahr hatten die Koalitionspartner einander beharkt, bevor der Ministerpräsident sich im Sommer 2004 endlich dazu durchgerungen hatte, mit der Entlassung von Wirtschafts- und Finanzminister Giulio Tremonti (FI) ein erstes Opfer zu bringen. Der Rücktritt Tremontis erwies sich indes auch deshalb schon bald als ein Scheinsieg seiner Gegner, weil Berlusconi seinen Nachfolger zwang, den bisherigen Kurs fortzusetzen. Noch Ende 2004 ertrotzte der Regierungschef gegen alle finanzpolitische Vernunft und gegen alle Widerstände in der Koalition eine Senkung der Einkommensteuer, insbesondere des Spitzensteuersatzes, um sich beim Wahlvolk für die Regionalwahlen 2005 zu empfehlen.

Die Kritiker Fini und Follini ließen sich zum Trost mit Ministerposten abspeisen, wobei Fini endlich das lange ersehnte Außenministerium übernahm. Immerhin konnte er dort unter Anleitung von Staatspräsident Ciampi eine teilweise Korrektur des außenpolitischen Kurses durchsetzen. Mit seiner überambitionierten Außenpolitik an der Seite von George W. Bush hatte Berlusconi den nationalen Interessen in den letzten Jahren erheblichen Schaden zugefügt, den Fini nun wieder zu begrenzen suchte. Für die Innenpolitik fiel der Nationalistenführer dadurch aber weitgehend aus.

Die mangelnde soziale und regionalpolitische Symmetrie der Wirtschafts- und Finanzpolitik sollte sich schließlich als die schwerste wahlpolitische Hypothek der Regierungskoaltion erweisen. Die Versäumnisse der "liberalen" Regierung Berlusconis umfassen hier von der Ordnungspolitik, über die Einkommens- und Steuerpolitik bis zur Sozialpolitik fast alle Ressorts. So wurde außer Amnestien kaum etwas unternommen, um die Steuermoral zu heben. Berlusconi selbst nannte die Steuerhinterziehung "in gewissen Situationen moralisch gerechtfertigt". Er selber war dazu immerhin nicht mehr gezwungen, weil er die ihn betreffenden Steuergesetze rechtzeitig vor der Übereignung seines Konzerns an seine Kinder eigenhändig geändert hatte. Ob bei den Amnestien für Bausünder oder Steuersünder, bei der Streichung der Bilanzfälschung aus dem Strafgesetzbuch, der Verlängerung der Verjährungsfristen oder der zögerlichen Umsetzung des Europäischen Haftbefehls, immer wieder wurden die Reformen der Freiheitskoalition von ähnlichen Interessen gelenkt und sandten damit deutliche Signale der Ermutigung an die weniger gesetzestreuen Bürger.

Die Industriepolitik wurde dagegen ebenso vernachlässigt wie der Abbau der Bürokratie und die Öffnung der Märkte, die Berufsbildung und der soziale Wohnungsbau. So wurden die Monopole im Postwesen und im Schienentransport ungeachtet der aus Brüssel dräuenden Fristen für die Liberalisierung wieder sich selbst überlassen. Notwendige Reformen für größere Transparenz zur Stärkung der Konkurrenz im Bankwesen wurden auch nach dem weltweit beachteten Skandal um den Konzern Parmalat nicht vorangebracht. Post, Eisenbahn und Banken nutzten den Spielraum, um zum Jahreswechsel 2005 noch einmal massive Tariferhöhungen durchzusetzen, welche die ohnehin geringen Steuererleichterungen der Arbeitnehmer sofort auffraßen.

So wurde die Perzeption, dass alle Maßnahmen der Regierung Berlusconi fast nur die Reichen und Trickreichen begünstigten, während sie die Armen nur noch stärker belasteten, nach Jahren der allgemeinen Apathie allmählich zur Gewissheit. "Den Italienern geht es doch gut!", versuchte Berlusconi demgegenüber vor den Regionalwahlen sich und seinen Wählern noch Mut zu machen. Für den reichsten Mann des Landes gilt dies sicher und vermutlich auch für die meisten seiner Freunde. Manche Italiener schätzen die Politik der Regierung daher weiterhin, vor allem im reichen Norden. Es ist deshalb auch wenig überraschend, dass die beiden einzigen Regionen, in denen der Freiheitspol sich noch behaupten konnte, die Lombardei und Venetien waren. Zum treuesten Koalitionspartner Berlusconis hat sich folglich die einstmals widerspenstige Lega Nord Umberto Bossis gewandelt.

Die zunehmende Bedrängnis der normalen Arbeitnehmerfamilien in den weniger reichen Regionen wird dagegen auch durch eine Welle von Streiks belegt, die, von den Medien möglichst herunter gespielt, seit Monaten das Transportwesen und andere Sektoren lahm legen und zuletzt nur durch das Begräbnis des Papstes kurzzeitig unterbrochen wurden.

Nicht viel besser steht es inzwischen aber auch um das Verhältnis der Regierung zu den Unternehmern. Die italienische Industrie befindet sich auf allen wichtigen Zukunftsmärkten auf dem Rückzug, und inzwischen scheint der eigentliche Kern, ja das Überleben Italiens als Industrieland bedroht. Der letzte große Industriekonzern, der Autohersteller Fiat versucht sich derzeit am Kunststück Münchhausens, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, doch die Aktie ging, trotz der dem amerikanischen Konzern General Motors abgetrotzten Abschlagszahlung von 2 Milliarden Dollar, diese Woche erneut auf Talfahrt. Konzernchef Luca Cordero di Montezemolo, gleichzeitig Vorsitzender der Unternehmervereinigung Confindustria, spart nicht mit Kritik an der Regierung, von der die unter dem Globalisierungsdruck stöhnenden Mitglieder seines Verbandes sich inzwischen weitgehend allein gelassen fühlen.

Die einzige Industrie, der es noch blendend geht, ist das Fernsehen. Die staatliche Sendeanstalt RAI hat gerade ein Rekordergebnis vermeldet, und Berlusconis Senderfamilie Mediaset hat ihren Börsenwert in den letzten zwei Jahren fast verdoppelt. Kein Wunder, wenn man den stärksten Konkurrenten selber über das Parlament kontrolliert und gleichzeitig alle anderen Kontrahenten durch gesetzgeberische Tricks auszusperren versteht. Besonders interessant war die Strategie bei der Einführung des erdgebundenen Digitalfernsehens. Vom zuständigen Minister Maurizio Gasparri (AN) als unbedingt notwendige Maßnahme zur Schaffung von mehr Konkurrenz gepriesen, gewährte die Regierung zunächst großzügige Subventionen zur Anschaffung der Empfangsanlagen. Anschließend kaufte Berlusconis Konzern Mediaset vom eigenen Fußballclub AC Mailand und einigen anderen wichtigen Vereinen die Übertragungsrechte für die Fußballspiele der Serie A, und nun bietet man den Zuschauern jedes Spiel im Bezahlfernsehen live für drei Euro an. Der Erfolg ist so überwältigend, dass der Medientycoon Rupert Murdoch, der vor einem Jahr noch horrende Preise für die Übertragungsrechte bezahlt hatte, mit seinem satellitengestützten Bezahlfernsehen Sky wohl bald aus dem Markt gedrängt wird.

In der Woche nach den Regionalwahlen kündigte der Konzern Mediaset jetzt an, dass die Familie Berlusconi 17 Prozent des Aktienkapitals an institutionelle Anleger abgeben wolle. Während die Anhänger des Premiers wie Telekommunikationsminister Gasparri (AN) dies als wichtigen Schritt zur Lösung des Interessenkonflikts feierten, hatte der Vorgänger Tremontis im Finanzministerium, der Linksdemokrat Vincenzo Visco (DS) eine ganz andere Lesart parat: "Da er eine Wahlniederlage für wahrscheinlich hält, fürchtet Berlusconi, dass in der nächsten Legislaturperiode das nach Gasparri benannte Mediengesetz geändert werden könnte, mit unmittelbar negativen Folgen für den Marktwert von Mediaset." Der Verkauf von Anteilen an Mediaset ist daher in Wirklichkeit eine Art, den in den letzten Jahren massiv genutzten Interessenkonflikt zu Geld zu machen, zumal auch die Kontrolle über die Gesellschaft nicht in Frage gestellt würde.

Die unbedingte Herrschaft über alle wichtigen Fernsehkanäle hat sich in den letzten Jahren immer mehr als das wirklich entscheidende Herrschaftsinstrument zur Bewahrung der Macht erwiesen. Nützlich um eklatante Fehlleistungen herunterzuspielen oder ganz tot zu schweigen, um genehme Themen hochzuspielen, widerspenstige Koalitionspartner zu disziplinieren, lästige Kritiker kalt zu stellen, die Opposition als gespalten und von Extremisten beherrscht darzustellen, geht ohne diese Konstante gar nichts mehr im Koordinatensystem der Mitte-Rechts-Koalition. Ohne die willfährigen oder willfährig gemachten Helfer in seinen Sendern und im Staatsfernsehen RAI wären die letzten vier Jahre narzisstischer Selbstdarstellung Berlusconis deshalb gar nicht vorstellbar gewesen, und ohne diese Grundlage seiner Macht hätte er sich als Ministerpräsident vermutlich kaum länger als ein paar Monate an der Regierung gehalten. Die eingangs zitierte Drohung gegenüber den Journalisten war daher wohl durchaus an den richtigen Adressaten gerichtet. Sie läßt auf jeden Fall eine schwere und langwierige Agonie des Autokraten aus Arcore befürchten.

"Wenn er erst eine Weile regiert, dann werden die Italiener bald gegen den Virus des Berlusconismus gefeit sein", hatte Indro Montanelli, Italiens berühmtester Journalist, kurz vor seinem Tod geweissagt. Mit einigen Jahren Verspätung scheint die Kur nun anzuschlagen, wegen der schweren Kollateralschäden ist sie als Heilmittel jedoch kaum zu empfehlen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.