Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 25.04.2005
Annette Rollmann

Kapitalismus wie im Casino

Sinnvolles Leben ohne Arbeit

Was ist ein Mensch ohne Arbeit wert? Wie wird er in der Gesellschaft gesehen? Wie sieht er sich selbst? Mit diesen grundlegenden Fragen beschäftigt sich der Soziologe Wolfgang Engler in seine neuen Buch. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und des schwindenden Glaubens an die Vollbeschäftigung in dieser Gesellschaft fordert er ein radikales Umdenken über den arbeitslosen Menschen selbst. Und noch mehr: Er hofft, dass der Bürger ohne Erwerbstätigkeit in Zukunft eine andere Haltung zu sich selbst findet; eine selbstbewusstere, eine lebendigere, eine teilnehmendere. Er will den Glauben zum Einsturz bringen: "Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit."

Engler moniert, dass der Mensch, der nicht arbeitet, als für die Gesellschaft "verloren" wahrgenommen wird und sich letztlich selbst so wahr nimmt. Bei der Buchvorstellung im Literaturforum des Brecht-Hauses in Berlin Anfang April, das bis auf den letzten Platz besetzt war, sagte Engler: "Der Mensch, der nicht arbeitet, gilt nicht als vollwertiger Bürger."

Wie umgehen mit dieser Misere? Engler selbst verweist darauf, dass Menschen, die keine Erwerbsarbeit haben, sich oft nur noch passiv am Rand dieser Gesellschaft bewegen und nicht mehr aus sich selbst heraus aktiv werden. Arbeit biete neben Geld vor allem "ein Portal zum gesellschaftlichen Zugang, zu Kommunikation, zu Informationen" und den Anreiz dazu, sich mit den Dingen in der Welt zu beschäftigen.

Für Menschen, die nicht erwerbstätig sind, fehle "oft das Motiv, aus sich heraus aktiv zu werden". Genau da setzt Engler an: Er fordert ein Bürgergeld ohne jede Verpflichtung für jeden Menschen, damit der sich von der Arbeit emanzipieren kann. Er will dadurch zeigen, dass vieles anderes mehr und wertvoll ist, als nur das, wovon der Mensch sein Leben fristet. Die Menschen sollten lernen, sich auch ohne Erwerbstätigkeit kulturell zu entfalten. "Alle müssen im ,Spiel' bleiben, als prinzipiell Gleiche imstande sein, jeden allgemein akzeptierten Spielzug jederzeit auszuführen." Und an anderer Stelle: "Du bist in diese Welt hineingeboren - lebe in ihr frei von überflüssigen Ängsten ... Das Bürgergeld ist der Schlüssel zum unangefochtenen Leben." Der Kultursoziologe unternimmt in seinem Buch den Versuch, endgültig von dem Gedanken Abschied zu nehmen, dass wir unsere Identität an eine erfolgreiche Erwerbstätigkeit knüpfen (müssen) und damit sozusagen als Bürger stehen und fallen.

Engler, der sich immer wieder mit interessanten und überraschenden Thesen zur kritischen Analyse der Moderne hervortut und sich als Ostdeutscher keineswegs auf die ostdeutsche Themen beschränkt, hat seine Analyse auf ein historisch weit angelegtes Fundament gestellt. Er beschreibt den individuellen und gesellschaftlichen Wert der Arbeit von der Antike bis zu Gegenwart. In der Antike, argumentiert der, gab es freie Bürger (allerdings: nur Männer waren freie Bürger), die nicht arbeiteten. Erst mit der industriellen Revolution habe sich dieses Bild entwickelt, dass man zumindest als Mann ohne Erwerbstätigkeit nicht gleichwertig sei.

Gleichermaßen interessiert und nachdenklich war die Stimmung bei der Diskussion zum Buch. Fragen bleiben, die der Autor in der Debatte nicht ausräumen konnte: Wie soll der Einzelne diese kulturelle Emanzipation von Arbeit schaffen? Würde ein Bürgergeld nicht viele Menschen nur noch passiver machen? Wie soll der Staat das Bürgergeld aufbringen? Dennoch bleibt es sinnvoll zu fragen, wie eine Gesellschaft mit Menschen umgeht, die nicht in Lohn und Brot stehen. Und es ist sinnvoll, nicht immer nur die finanzielle Situation in den Vordergrund zu stellen, sondern die psychosoziale und kulturelle Dimension mitzudenken.

Engler selbst hofft, wie er es nennt, auf einen "Krach", ein Aufbegehren der vielen Menschen, die ohne Arbeit sind oder ständig um ihre Arbeit bangen müssen. Er hofft auf die Mittelschicht. Er fordert den Widerstand gegen die derzeitige Wirtschaftspolitik, die er "Casinokapitalismus" nennt. Gegen Ende seines Werkes schreibt er: "Der Umsturz der vom Staat sanktionierten Wirtschaftsgesellschaft beginnt im Kopf, mit der Wiederentdeckung der eigenen Urteilskraft als Keimzelle des Politischen."


Wolfgang Engler

Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft.

Aufbau-Verlag, Berlin 2005; 416 S., 19,90 Euro


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